(Rom) Welches sind die Kriterien, die Papst Franziskus leiten? Dieser Frage ging der Vatikanist Sandro Magister nach und machte „vier Hacken“ aus, „an denen Bergoglio sein Denken festmacht“. Das „waren seine Kriterien seit seiner Jugend an und nun orientieren sie seine Art, die Kirche zu regieren“.
Wie lauten die Kriterien, „die Papst Franziskus und sein flüssiges, nie definierendes Lehramt leiten, das gewollt für die widersprüchlichsten Interpretationen offen ist?“
Franziskus wiederholte das wichtigste Kriterium in Amoris laetitia
Der Papst selbst habe seine Kriterien am Beginn seines nachsynodalen Schreibens Amoris laetitia in Erinnerung gerufen, so Magister.
„Indem ich daran erinnere, dass die Zeit mehr wert ist als der Raum, möchte ich erneut darauf hinweisen, dass nicht alle doktrinellen, moralischen oder pastoralen Diskussionen durch ein lehramtliches Eingreifen entschieden werden müssen“ (AL, 3).
In derselben Exhortatio schreibt er:
„Es geht mehr darum, Prozesse auszulösen, als Räume zu beherrschen“ (AL, 261).
Eine Durchsicht von Amoris laetitia ergibt, daß Franziskus darin insgesamt 25 Mal das Wort „Prozeß“ gebraucht.
Alle vier Kriterien finden sich in Evangelii gaudium
„Die Zeit ist mehr wert als der Raum“, sei das erste der vier Leitkriterien, die Franziskus im programmatischen Dokument seines Pontifikats, in Evangelii gaudium, nennt.
„Die anderen drei Kriterien sind: die Einheit ist dem Konflikt überlegen, die Wirklichkeit ist wichtiger als die Idee, das Ganze steht über dem Teil“, so Magister.
Bereits ein Leben lang lasse sich Jorge Mario Bergoglio von diesen vier Kriterien, „vor allem dem ersten“, leiten. Der argentinische Jesuit Diego Fares, der in der jüngsten Ausgabe der römischen Jesuitenzeitschrift Civiltà Cattolica „Amoris laetitia“ kommentierte, „zitiert ausgiebig Gesprächsnotizen mit dem damaligen Provinzial der Gesellschaft Jesu in Argentinien aus dem Jahr 1978“, so Magister. Alle beziehen sich auf den „Aktionsraum und den Sinn der Zeit“, so Fares.
Bergoglios unvollendete Doktorarbeit
Der gesamte Block von Evangelii gaudium, der die vier Kriterien darlegt, so Magister, sei die Wiedergabe eines Kapitels der nie vollendeten Doktorarbeit Bergoglios, das er in den wenigen Monaten seines Deutschland-Aufenthalts 1986 in Frankfurt am Main geschrieben habe. Die Dissertation sollte sich mit dem deutsch-italienischen Theologen Romano Guardini befassen, der auch in Evangelii gaudium zitiert wird.
Der Papst selbst habe diesen Hintergrund seines Schreibens offengelegt, und zwar in einem 2014 in Argentinien erschienenen Buch über seine „schwierigen“ Jahre als Jesuit.
„Auch wenn ich meine Dissertation nicht vollenden konnte, haben mir die Studien, das ich dazu anstellte sehr für alles geholfen, was danach kam, einschließlich der apostolischen Exhortatio Evangelii gaudium, zumal deren gesamter Teil über die sozialen Kriterien meiner Doktorarbeit über Guardini entnommen ist.“
Es sei daher „unerläßich, diese Kriterien zu analysieren, wenn man das Denken von Papst Franziskus verstehen will“, so Magister.
Die Analyse des Barnabiten Giovanni Scalese
Einen ersten Versuch dazu unternahm Pater Giovanni Scalese aus dem Barnabitenorden, der seit 2014 die katholische Mission sui generis in Afghanistan leitet, den einzigen Vorposten der katholischen Kirche in jenem umkämpften Land, wo er an der Italienischen Botschaft auch diplomatische Aufgaben wahrnimmt.
Pater Scalese war Missionar in Indien und auf den Philippinen sowie Generalassistent des Barnabitenordens. Zuvor hatte er Philosophie am ordenseigenen Gymnasium mit Konvikt „Alla Querce“ in Florenz unterrichtet, dessen Direktor er auch war.
Vom Namen des Konvikts übernahm er auch das Pseudonym Querculanus, unter dem er einen Blog betreibt, auf dem er auch seine Überlegungen zu den vier Kriterien von Papst Franziskus veröffentlichte.
Scalese: „Vier Postulate mit Hegelschem Beigeschmack“
Pater Scalese kommt darin zum Schluß, da die vier päpstlichen Postulate den Beigeschmack eines Hegelschen Denkens haben, und der Papst deshalb fortwährend gegen die Abstraktheit der „Doktrin“ polemisiere, der er eine „Wirklichkeit“ entgegensetze, der man sich anpassen müsse.
Er vergesse dabei, daß die Wirklichkeit, die nicht von der Wahrheit erleuchtet, nicht geführt und nicht durch eine Doktrin geordnet wird, „Gefahr läuft, im Chaos zu enden“.
Text: Settimo Cielo/Giuseppe Nardi
Bild: Vatican.va/OR (Screenshot)