(Rom) Zum Heiligen Jahr der Barmherzigkeit erscheint die Wochenzeitung „Credere“ (Glauben) als offizielles Organ des Jubeljahres. Die Zeitschrift wurde im April 2013 im Zusammenhang mit der Wahl von Papst Franziskus gegründet und wird in Zusammenarbeit zwischen der Diözese Rom, der Italienischen Bischofskonferenz und dem Verlagshaus San Paolo herausgegeben. Im Verlagshaus San Paolo erscheint auch die Wochenzeitung „Famiglia Cristiana“. Das erklärt, weshalb eine Ausgabe von „Credere“, samt Foto auf der Titelseite, dem „falschen Propheten“ (Msgr. Antonio Livi) Enzo Bianchi gewidmet wurde.
In der aktuellen Ausgabe der Wochenzeitung erschien ein Interview mit Papst Franziskus. Geführt wurde es vom Schriftleiter Don Antonio Rizzolo. In der Beantwortung der ersten Frage, nennt Franziskus einmal mehr Kardinal Walter Kasper als prägende Gestalt seines Pontifikats.
Das vollständige Interview von Papst Franziskus in deutscher Übersetzung, auf der Suche zu verstehen, wohin dieser Papst die Kirche führen will.
Credere: Heiliger Vater können Sie uns erklären, jetzt wo wir bald in das Jubeljahr eintreten, welcher Herzensgrund Sie bewegt hat, genau das Thema der Barmherzigkeit hervorzuheben? Welche Dringlichkeit verspüren Sie diesbezüglich in der aktuellen Lage der Welt und der Kirche?
Papst Franziskus: Das Thema der Barmherzigkeit wird seit Paul VI. mit Nachdruck im Leben der Kirche immer wichtiger. Es war Johannes Paul II., der es mit Dives in misericordia, der Kanonisierung der heiligen Faustyna und der Einführung des Festes der Göttlichen Barmherzigkeit in der Osteroktav stark betonte. Auf dieser Linie habe ich gespürt, als gäbe es einen Wunsch des Herrn, den Menschen Seine Barmherzigkeit zu zeigen. Es ist also nicht mir eingefallen, ich habe aber eine relativ junge Tradition aufgegriffen, obwohl es sie schon immer gab. Und ich wurde mir bewußt, daß es notwendig ist, etwas zu tun, und diese Tradition fortzuführen. Mein erster Angelus als Papst war zur Barmherzigkeit Gottes und bei dieser Gelegenheit sprach ich auch über ein Buch über die Barmherzigkeit, das mir Kardinal Walter Kasper beim Konklave geschenkt hatte. Auch bei meiner ersten Predigt als Papst, am Sonntag, den 17. März in der Pfarrei Sant’Anna sprach ich von der Barmherzigkeit. Das war keine Strategie. Es kam mir von innen heraus: Der Heilige Geist will etwas. Es ist ganz klar, daß die Welt heute Barmherzigkeit braucht, sie braucht Mitleid, besser gesagt, ein Mitleiden. Wir sind an schlechte Nachrichten gewöhnt, an grausame Nachrichten und die schlimmsten Greueltaten, die den Namen und das Leben Gottes beleidigen. Die Welt hat es nötig, zu entdecken, daß Gott Vater ist, daß es Barmherzigkeit gibt, daß die Grausamkeit nicht der Weg ist, daß die Verurteilung nicht der Weg ist, weil die Kirche selbst manchmal einen harten Weg verfolgt, in die Versuchung verfällt, einem harten Weg zu folgen, in die Versuchung, nur die moralischen Normen zu betonen, aber wie viele Leute bleiben dann draußen. Mir kam jenes Bild der Kirche als Feldlazarett nach der Schlacht in den Sinn. Das ist die Wahrheit, es gibt so viele verwundete und zerstörte Leute! Die Verwundeten sind zu pflegen, ihnen ist zu helfen, damit sie genesen. Sie sind nicht Cholesterintests zu unterziehen. Ich glaube, das ist die Zeit der Barmherzigkeit. Wir alle sind Sünder, alle tragen wir innere Lasten. Ich habe gespürt, daß Jesus die Tür Seines Herzens öffnen will, daß der Vater Sein Innerstes der Barmherzigkeit zeigen will und uns deshalb den Geist schenkt: um uns zu bewegen und aufzurütteln. Das ist das Jahr der Vergebung, das Jahr der Versöhnung. Auf der einen Seite sehen wir den Waffenhandel, die Produktion von Waffen, die töten, die Ermordung Unschuldiger auf die grausamsten nur möglichen Weisen, die Ausbeutung von Personen, Minderjährigen, Kindern: Es findet ein – der Ausdruck sei mir erlaubt – Sakrileg gegen die Menschheit statt, weil der Mensch heilig ist, er ist das Ebenbild des lebendigen Gottes. Deshalb sagt uns der Vater: „Hört auf und kommt zu mir“. Das sehe ich in der Welt.
Credere: Sie haben gesagt, daß Sie sich – wie alle Gläubigen – als Sünder fühlen, der der Barmherzigkeit Gottes bedarf. Welche Bedeutung hatte die göttliche Barmherzigkeit auf Ihrem Weg als Priester und Bischof? Erinnern Sie sich im Besonderen an einen Moment, in dem Sie den barmherzigen Blick des Herrn in Ihrem Leben besonders deutlich gespürt haben?
Papst Franziskus: Ich bin Sünder, ich fühle mich als Sünder, ich bin mir sicher, ein solcher zu sein. Ich bin ein Sünder, auf den der Herr mit Barmherzigkeit geschaut hat. Ich bin, wie ich den Gefangenen in Bolivien gesagt habe, ein Mann, dem vergeben wurde. Ich bin ein Mann, dem vergeben wurde, Gott hat in Barmherzigkeit auf mich geschaut und mir vergeben. Noch heute begehe ich Fehler und Sünden und ich beichte alle 15 oder 20 Tage. Und wenn ich beichte, dann deshalb, weil ich spüren muß, daß die Barmherzigkeit Gottes noch auf mir liegt.
Ich erinnere mich – ich habe es schon öfter gesagt – als Gott mich mit Barmherzigkeit angeschaut hat. Ich hatte immer den Eindruck, daß er sich in besonderer Weise meiner angenommen hatte, aber der bedeutendste Moment ereignete sich am 21. September 1953, als ich 17 Jahre alt war. Es war das Fest des Herbstbeginns [1]Im Original sagt der Papst „Frühlingsbeginn“, ein offensichtlicher Versprecher. und des Studenten in Argentinien und ich wollte es zusammen mit anderen Studenten verbringen. Ich war praktizierender Katholik, ging am Sonntag in die Messe, aber nichts mehr … ich war in der Katholischen Aktion, machte aber nichts, ich war nur praktizierender Katholik. Auf dem Weg zum Bahnhof von Flores kam ich an unserer Pfarrkirche vorbei und es drängte mich, hineinzugehen: ich trat ein und sah von einer Seite einen Priester kommen, den ich nicht kannte. In diesem Augenblick wußte ich nicht, was mir geschah, aber ich spürte das Bedürfnis, zu beichten, im ersten Beichtstuhl links – viele Leute gingen dorthin, um zu beten [2]Vielleicht meint der Papst, daß viele Leute dort beichten gingen.. Und ich weiß nicht, was geschah, ich kam anders heraus, verändert. Ich kehrte nach Hause zurück mit der Gewißheit, mich dem Herrn weihen zu sollen und dieser Priester begleitete mich fast ein Jahr lang. Es war ein Priester aus Corrientes, Don Carlos Benito Duarte Ibarra, der im Priesterhaus von Flores lebte. Er hatte Leukämie und wurde im Krankenhaus behandelt. Er starb im Jahr darauf. Nach der Beerdigung weinte ich bitterlich. Ich fühlte mich völlig verloren, mit der Furcht, als habe mich Gott verlassen. Das war der Augenblick, in dem ich der Barmherzigkeit Gottes begegnet bin, und der eng mit meinem Motto als Bischof verbunden ist: Der 21. September ist der Tag des Evangelisten Matthäus und des Beda Venerabilis, der über die Bekehrung des Matthäus sagt, daß Jesus Matthäus anschaute „miserando atque eligendo“. Es handelt sich um eine Aussage, die man nicht übersetzen kann, weil im Italienischen eines der beiden Verben kein Gerundium hat, ebensowenig ins Spanische oder in andere Sprachen. Die wörtliche Übersetzung wäre: „barmherzigend und auswählend“, das ist fast wie eine handwerkliche Arbeit. „Er barmherzigte ihn“, das wäre die wörtliche Übersetzung der Stelle. Als ich Jahre später das lateinische Brevier betete, entdeckte ich diese Stelle und stellte fest, daß der Herr mich in Handarbeit mit Seiner Barmherzigkeit geformt hatte. Jedesmal wenn ich nach Rom kam und in der Via della Scrofa wohnte, ging ich in die Kirche San Luigi dei Francesi, um vor dem Bild des Caravaggio „Die Berufung des Heiligen Matthäus“ zu beten.
Credere: Laut der Bibel, ist der Ort, an dem die Barmherzigkeit Gottes ihren Sitz hat, der Schoß, das mütterliche Innere Gottes. Das sich so rühren läßt, daß es die Sünde vergibt. Kann das Heilige Jahr der Barmherzigkeit eine Gelegenheit sein, die „Mütterlichkeit“ Gottes wiederzuentdecken? Gibt es auch einen „weiblicheren“ Aspekt der Kirche, den es aufzuwerten gilt?
Papst Franziskus: Ja, Er bestätigt es, wenn Er im Buch Jesaja sagt, daß vielleicht eine Mutter ihr Kind vergißt, auch eine Mutter kann vergessen … „ich aber werde Dich nie vergessen“. Hier sieht man die mütterliche Dimension Gottes. Nicht alle verstehen, wenn man von der „Mütterlichkeit Gottes“ spricht. Das ist nicht in der Volkssprache – im guten Sinn des Wortes – sondern scheint eine etwas gewählte Sprache. Deshalb bevorzuge ich den Begriff Zärtlichkeit, die einer Mutter, die Zärtlichkeit Gottes, die Zärtlichkeit kommt aus den väterlichen Inneren. Gott ist Vater und Mutter.
Credere: Die Barmherzigkeit, immer in Bezug auf die Bibel, läßt uns einen Gott kennenlernen, der „emotionaler“ ist als jener, den wir uns manchmal vorstellen. Einen Gott entdecken, der uns anrührt und sich erweicht für den Menschen, um auch unser Verhalten gegenüber den Brüdern zu verändern?
Papst Franziskus: Das zu entdecken, wird uns dazu führen, eine tolerantere, geduldigere, sanftere Haltung zu haben. 1994, während der Synode, sagte ich in der Versammlung einer Gruppe, daß eine Revolution der Zärtlichkeit einzuleiten wäre. Ein Synodenvater, ein guter Mann, den ich respektiere und dem ich Gutes will, ein schon sehr alter Mann, sagte mir, daß es nicht gut sei, eine solche Sprache zu gebrauchen und begründete mir das, als intelligenter Mann, mit vernünftigen Argumenten. Ich aber sage weiterhin: die Revolution von heute ist die Zärtlichkeit, weil von dort die Gerechtigkeit und der ganze Rest kommen. Wenn ein Unternehmer einen Angestellten von September bis Juli einstellt, sagte ich ihm, tut er nicht das Richtige, denn er entläßt ihn im Juli, am Beginn der Urlaubszeit, um ihn dann nach der Urlaubszeit, im September, mit einem neuen Vertrag wieder einzustellen. Auf diese Weise hat der Arbeiter keine Rechte, weder Pensions- oder Abfertigungsansprüche noch eine Sozialversicherung. Er hat auf nichts ein Recht. Der Unternehmer zeigt keine Zärtlichkeit, sondern behandelt den Angestellten wie ein Objekt. Das, um nur ein Beispiel zu nennen, wo keine Zärtlichkeit herrscht. Wenn man sich in die Lage jener Person versetzt, anstatt, wegen ein bißchen mehr Geld an die eigenen Taschen zu denken, sieht die Sache anders aus. Die Revolution der Zärtlichkeit ist das, was wir heute als Frucht dieses Jahres der Barmherzigkeit pflegen sollten: Die Zärtlichkeit Gottes gegenüber jedem von uns. Jeder von uns soll sagen: „Ich bin ein Unglücklicher, aber Gott liebt mich so; dann habe auch ich die anderen auf dieselbe Weise zu lieben.“
Credere: Berühmt ist die „Rede an den Mond“ von Papst Johannes XXIII., als er eines Abends die Gläubigen mit den Worten grüßte: „Gebt Euren Kinder eine Liebkosung“. Dieses Bild wurde zu einer Ikone der Kirche der Zärtlichkeit. Auf welche Weise kann das Thema der Barmherzigkeit unseren christlichen Gemeinschaften helfen, sich zu bekehren und zu erneuern?
Papst Franziskus: Wenn ich die Kranken, die Alten sehe, kommt mir die Liebkosung spontan … Die Liebkosung ist eine Geste, die zweideutig interpretiert werden kann, aber sie ist die erste Geste einer Mutter und eines Vaters gegenüber dem neugeborenen Kind. Die Geste des „Ich hab dich lieb“, „Ich liebe dich“, „Ich will, daß du vorwärts kommst“, „daß du weiter gehst“.
Credere: Können Sie uns eine Geste verraten, die Sie während des Heiligen Jahres zu setzen beabsichtigen, um die Barmherzigkeit Gottes zu bezeugen?
Papst Franziskus: Es wird viele Gesten geben, aber an einem Freitag eines jeden Monats, werde ich eine andere Geste vollziehen.
Einleitung/Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Credere (Screenshot)