In der Nacht des 16. März 1945 legte eine britischer Bomberflotte die schöne Barockstadt Würzburg in Trümmer. 21.000 Wohnungen sowie 35 Kirchen, Kapellen und der Bischofsdom mit Tausenden von Kulturschätzen wurden vernichtet.
Ein Gastbeitrag von Hubert Hecker
Ab dem 25. September 1939 bombardierte die deutsche Luftwaffe Warschau drei Tage lang in 1180 Einsätzen. Danach bestand die Stadt „nur noch aus Ruinen“. Theoretisch war das Bombardement mit der Haager Landkriegsordnung vereinbar, insofern offiziell nur kriegswichtige Ziele in der militärisch verteidigten Stadt bei Vorwarnung der Bevölkerung angegriffen wurden. Aber die deutsche Luftwaffenführung verriet im Nachhinein selbst ihre kriegsverbrecherischen Absichten, indem sie von der großartigen Wirkung ihrer Spreng- und Brandbomben „auf großstädtische Wohnblocks“ schwärmte, wobei sich einzelne Brandherde „ausdehnten bis zu einer Brandkatastrophe“.
Hitler hatte nach einem britischen Vergeltungsangriff auf Berlin im September 1940 verkündet: „Wir werden ihre Städte ausradieren.“ Vorerst blieb allerdings die Luftwaffe bei der Luftschlacht um England bei ihren Zielen, vorrangig Industrie- und Hafenanlagen zu treffen – auch bei den Angriffen auf Coventry und London. Tatsächlich aber hatten die Nacht-Bombardements bei der damaligen Zielungenauigkeit oftmals den Charakter von unterschiedsloser Flächenbombardierung.
Bombardierung von zivilen Wohnstädten: Verbrechen durch Hitlers Kriegsführung
Im weiteren Verlauf des Kriegs gab sich die Luftwaffe immer weniger Mühe, den kriegsrechtlichen Anschein zu wahren. Nach den zweitägigen Angriffen auf Belgrad Anfang April 1941 begannen 1942 offene Terrorschläge gegen englische Städte. Die so genannten Baedeker-Angriffe gegen Städte wie Bath, Exeter oder Canterbury sollten militärisch unwichtige, allein touristisch interessante Wohnstädte „ausradieren“.
Im August 1942 warf die Luftwaffe tagelang flächendeckend Bomben auf Stalingrad: etwa 40. 000 Menschen kamen dabei um, eine bis dahin unerhörte Zahl ziviler Opfer. 1944 begann schließlich die Beschießung britischer Städte mit den „Vergeltungswaffen“ V1 und V2, die nicht zielgenau gesteuert werden konnten und wahllos alles trafen. Insgesamt 66. 400 Menschen starben in Großbritannien bei deutschen Luftangriffen.
Zumindest die ungezielten Bombardierungen von Wohnstädten ab 1942 durch die deutsche Luftwaffe waren eindeutig kriegsverbrecherische Handlungen. Da stellt sich natürlich die Frage: Warum wurden diese Verbrechen unter Hitlers Kriegsführung von den Alliierten nicht zum Gegenstand des internationalen Kriegsverbrechertribunals in Nürnberg gemacht? Die Antwort ergibt sich nach der Lektüre der folgenden Ausführungen.
Britische Städtebombardierung, als der Krieg entschieden war
Mitte März 1945 war der Krieg zwischen Hitlerdeutschland und den Alliierten faktisch entschieden. Um Berlin zog sich der russische Belagerungsring immer enger zusammen. Anfang März hatten die Amerikaner bei Remagen erstmals den Rhein überschritten – und bald darauf überquerten die Briten den Rhein bei Wesel.
Die innerstädtischen Wohngebiete aller deutschen Großstädte waren zu 50 bis 80prozentig zerstört. Manche Städte hatten bis zu zwanzig Luftangriffe erlebt. Etwa ab Anfang des Jahres 1945 begannen die Alliierten verstärkt, militärisch unbedeutende Klein- und Mittelstädte zu bombardieren. Am 12. Februar richteten amerikanische Bomber das „Massaker von Swinemünde“ (Jörg Friedrich) mit über 20.000 zivilen Opfern an. Nach dem britischen Bombenangriff auf Pforzheim am 23. Februar waren 17.000 Bombenopfer zu beklagen. Am 19. März zerstörte eine alliierte Bomberflotte die idyllische Kur- und Lazarettstadt Nassau an der Lahn. Ab Mitte März waren im Wochentakt die drei Bischofsstädte Würzburg, Hildesheim und Paderborn durch britische Bombardements in Schutt und Asche gelegt.
Verheerender als in Dresden
Am Abend des 16. März 1945 riefen die heulenden Sirenen die Bewohner von Würzburg wie viele Nächte vorher in die Luftschutzräume. Aber diesmal waren es nicht Überflieger, vor denen man warnte – die schöne Barockstadt selbst war das Angriffsziel der Bomber.
Ab 21.30 Uhr verwandelten 230 britische Bomber Würzburg in eine Feuerhölle. Die tausendjährige Kulturstadt in Unterfranken wurde zu fünfundachtzig Prozent vernichtet.
Die britischen Krieger zerstörten aus der Luft 21.000 Wohnungen, 35 Kirchen mit Tausenden von Kulturschätzen, alle städtischen Archive und historischen Bibliotheken sowie zahlreiche Baudenkmäler – darunter den Dom und Teile der Würzburger Residenz mit dem Spiegelsaal.
Die Zerstörungen der weltberühmten Barockstadt Würzburg waren totaler und verheerender als die drei Wochen vorher in Dresden.
Vor den Angriffen der Briten war die Stadt prallgefüllt mit Evakuierten, Flüchtlingen und Sanitätskolonnen. 5.000 Zivilisten – vor allem Kinder, Frauen und alte Menschen – verbrannten bei dem britischen Brandbombenangriff von 17 Minuten.
Bis zum Februar 1945 stand Würzburg nicht auf der Liste des britischen „Bomber Baedeckers“. Denn die alte Residenzstadt war unter dem Gesichtspunkt von Rüstungsindustrie, Schlüsselindustrien und Transportlinien strategisch bedeutungslos.
Schon ab 1942 hatte die britische Kriegsregierung mit dem Wechsel zum Bombardement von Wohngebieten es weitgehend aufgegeben, gezielt das industrielle Kriegspotential in Deutschland zu zerstören. Bei Kriegsende waren die deutschen Industrieanlagen noch zu über 80 Prozent intakt.
Möglichst viele Zivilisten töten
Die britische Bomber-Strategie zielte mit ihrem nächtlichen Flächenbombardements allein auf Wohnstädte – anscheinend mit der Absicht, möglichst viele Zivilisten zu töten:
„Wir wollen mit unseren Sprengbomben Boches unter den Trümmern ihrer Häuser begraben und Boches umbringen“ – nahm der verantwortliche Luftwaffengeneral, Marschall Artur Harris (+1984), kein Blatt vor den Mund.
„Boches“ war ein französisches Schimpfwort gegen die Deutschen. Harris wurde im Laufe des Krieges auch von englischer Seite als „Bomber Harris“ oder „Butcher Harris“ – Metzger Harris – charakterisiert.
Die britische Regierung rechtfertigte ihre Bomben gegen Zivilisten als „moral bombing“. Durch das Blutbad an Zivilisten sollte die Moral der Überlebenden gebrochen werden. Diese moralische Verunsicherung an der „Heimatfront“ sollte dann auf die Kampfmoral der Frontsoldaten ausstrahlen, so dass über Resignationstendenzen im deutschen Heer der Krieg schneller beendet werden würde.
Dabei wusste die Churchill-Regierung genau, dass nicht einmal die erste Stufe der moralischen Destabilisierungsstrategie erreicht werden würde. Die eigenen Erfahrungen von nächtlichen Städtebombardements aus dem deutschen „Blitz“-Krieg von 1940/41 sprachen dagegen. Winston Churchill hatte damals selbst verkündet: „Hitler glaubt, die Bewohner dieser mächtigen Stadt terrorisieren und demoralisieren zu können. Er weiß nichts von der Zähigkeit der Londoner.“ Die Luftangriffe hatten die Gesellschaft in ihrem Überlebenswillen noch stärker zusammengeschweißt.
Diese Beschreibung traf auch für die bombardierten deutschen Städte zu, verstärkt mit den Durchhalteparolen der Nazi-Propaganda. Somit konnte auch die angezielte Demoralisierung der Fronttruppen nicht wirken. Mit der Erkenntnis, dass der Krieg durch die jahrelangen Städtebombardierungen nicht verkürzt wurde, hatte die moral-bombing-Strategie seine letzte moralische Rechtfertigung verloren – erst recht in den letzten Kriegsmonaten.
Zum Ende des Krieges hatten die Briten eine ausgefeilte Zerbombungstechnik entwickelt: ein Vorbomber kennzeichnete einen markanten Orientierungspunkt vor der Stadt mit roten Zielmarkierungsbomben. Bei Würzburg waren das die Sportplätze im städtischen Vorfeld. Alle drei Bomberwellen mussten über diesen Markierungspunkt einfliegen, um dann in abgesteckten Sektoren fächerförmig über der Stadt mit ihrer tödlichen Bombenlast auszuschwärmen. Jedem Piloten wurde eine spezielle Flugbahn zugewiesen, auf der er zeitversetzt sein Bomben auslöste. Auf diese Weise war eine bombensichere Flächenzerstörung der Stadt gewährleistet.
In der ersten Bomber-Welle wurden die Dächer und Fenster der Altstadt mit 256 schweren Sprengbomben und 396 Tonnen Luftminen aufgerissen, um so die brandentfachende Wirkung der nachher abgeworfenen 300.000 Stabbrandbomben zu begünstigen. Innerhalb kurzer Zeit entstand aus vereinzelten Brandnestern ein einziger flächendeckender Brandherd, der sich zu einem Höllenfeuer mit Temperaturen von 1500 bis 2000 °C entwickelte. Die Menschen konnten nur in provisorisch vorbereiteten Kellerräumen Zuflucht suchen, befestigte Bunker gab es kaum.
Noch in einer Entfernung von 240 Kilometern sahen die britischen Fliegerbesatzungen von ihren Flugzeugen aus den Feuerschein der brennenden Stadt. Gegen 2.00 Uhr morgens am 17. März 1945 kehrten die letzten Bomber wohlbehalten zu ihren Stützpunkten zurück.
Frauen und Kinder in den Luftschutzkellern erstickten und verschmorten
Aus den Trümmern der Stadt wurden in den Folgetagen etwa 3000 Tote geborgen. Mit ca. 2000 unter Trümmern verschütteten Leichen von nicht angemeldeten Flüchtlingen wurde gerechnet. „Unter den Toten ist jedes Alter und Geschlecht vertreten, vom Säugling bis zum Greis. Es gibt unversehrte, blutige, zerquetschte, staubige, schwarze und verbrannte. Auch Teile von Leibern sind dabei“ – so der Würzburger Domkaplan Fritz Bauer. Ein anderer Zeitzeuge erzählte: „Offenbar entwickelte sich eine so entsetzlich große Hitze mit Rauchentwicklung, dass sämtliche Insassen des Luftschutzkellers, nur Frauen und Kinder, schließlich erstickten und verschmorten. …“
Drei Wochen nach der Bombardierung nahmen US-Truppen die trostlose Trümmerwüste ein, die ehemals die schöne Barockstadt Würzburg gewesen war. Acht Wochen später war der Krieg zu Ende.
Bei seiner Radio-Siegesansprache am 13. Mai erwähnte Churchill den Beitrag der Bomberflotte zum Sieg über Hitler-Deutschland mit keinem Wort. Dieses Verhalten kam einem Eingeständnis gleich, dass die Bombardierungsstrategie ihre Kriegsziele nicht erreicht hatte. Der riesige Aufwand der Bomberflotte über fast fünf Jahre, menschliche und sachliche Ressourcen war kriegspolitisch weitgehend sinnlos verpulvert worden. Das ‚moral bombing’ der Briten hatte sich zu einem unmoralischen Bombenkrieg verkehrt. Die 600.000 deutschen Zivilopfer waren eine moralische Anklage für den Sieger.
Daher sollten nach dem Kriegsende die Massaker der Alliierten aus dem öffentlichen Blick genommen werden. Das galt insbesondere auch in Hinsicht die Vorbereitungen für das internationale Militär-Tribunal in Nürnberg. Denn bei den anstehenden Beratungen über den Prozess gegen die Besiegten sollten allein die Untaten der nationalsozialistischen Führung Deutschlands in den Fokus gerückt werden.
Die Siegermächte bogen sich eine Rechtsgrundlage zu ihren Gunsten zurecht
Bei den Überlegungen im Sommer 1945 zu dem Statut des ‘Internationalen Militärgerichtshofs’ bogen die Siegermächte das Recht so hin, dass ihre eigenen Kriegsverbrechen nicht zur Sprache gebracht werden sollten.
Die bestehenden Völkerrechtsregeln, die Haager Kriegskonvention von 1907 sowie spätere völkerrechtsrelevante Verträge hätten als Anklage gegen die nationalsozialistischen Kriegsverbrecher ausgereicht.
Aber einige Formulierungen in den Texten behagten den Siegern nicht.
In der damals gültigen Haager Landkriegsordnung hieß es im 2. Abschnitt, Artikel 22:
„Die Kriegführenden haben kein unbeschränktes Recht in der Wahl des Mittel zur Schädigung des Feindes.“
Nach der Haager Kriegsordnung waren Flächenbombardierungen Kriegsverbrechen
„Bei Belagerung und Beschießung sollen alle erforderlichen Vorkehrungen getroffen werden, um die dem Gottesdienst, der Kunst, der Wissenschaft und der Wohltätigkeit gewidmeten Gebäude, die geschichtlichen Denkmäler, die Hospitäler und Sammelplätze für Kranke und Verwundete soviel wie möglich zu schonen.“
Doch die britische Kriegsführung hatte sich bei den Städtebombardierungen nicht um Kirchen, Kultur- und Krankenhäuser geschert und gerade in den letzten Kriegsmonaten bedeutende Kulturstädte zerstört.
Es scheint, als wenn die Siegermächte solche eindeutigen Rechtsformulierungen zu umgehen versuchten, indem der Internationale Gerichtshof neue, rückwirkend Gesetze aufstellte. Die wurden mit Grundsätzen der natürlichen Gerechtigkeit begründet.
Massentötung von Zivilisten, Zerstörung von Kultureinrichtungen waren mutwillige Terrorakte
Aber auch diese neuen Rechtsregeln beinhalteten immer noch Anklagen gegen ihre eigenen Verfasser: Denn auch „die mutwillige Zerstörung von Städten, Märkten oder Dörfer oder jede durch militärische Notwendigkeit nicht gerechtfertigte Verwüstung“ wurde im Nürnberger Prozess-Statut geächtet. Diese Formulierungen waren auf Hitlers Vernichtungskrieg insbesondere in der Sowjetunion gemünzt.
Doch den Terminus „mutwillig“ hatte auch Churchill in seinem Memorandum vom 28. März 1945 zu den Bombardierungen seiner eigenen Luftstreitkräfte gebraucht, als er ausführte: „Ich glaube, es ist nötig, dass wir uns mehr auf militärische Ziele konzentrieren statt auf reine Akte des Terrors und der mutwilligen Zerstörung.“
„Militärisch notwendig“ waren die britischen Flächenbombardements auf Innen- und Wohnstädte während der drei letzten Kriegsjahre offensichtlich genauso wenig wie der amerikanische Bombenangriff auf Tokio am 9. März 1945 mit 100.000 Toten.
Absolut sinnlos im militärischen Sinne waren die alliierten Flächenbombardements gegen die deutschen Kulturstädte in den letzten Kriegsmonaten. Nach dieser Einschätzung kämen sie in die Nähe der „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ als „unmenschliche Handlungen an der Zivilbevölkerung“, dem vierten Hauptanklagepunkt des Nürnberger Kriegsverbrechertribunals.
Aber die Siegermächte verhinderten in Nürnberg jede Erörterung und Anklage gegen alliierte Kriegsverbrechen. Darüber hinaus verbot die Siegerjustiz ausdrücklich den Verteidigern der deutschen Angeklagten den Rückverweis auf alliierte Kriegsverbrechen:
Das Rechtsargument „tu quoque“ – „du auch“ oder gleiches Maß für gleichen Tatbestand – wurde im Nürnberger Prozessrecht explizit untersagt. Auf diesem Wege verhinderten die Alliierten als Gerichtsherren, dass die von Hitler befohlenen kriegsverbrecherischen Städtebombardierung von Warschau, London, Belgrad und Stalingrad nicht angeklagt und geahndet wurde.
Schlimmer noch für die Zukunft sollte sich auswirken, dass mit der Verletzung des grundlegenden juristischen Gleichbehandlungsgebotes die Völkerrechtssprechung nachhaltig beschädigt wurde: die Führer siegreicher Großmächte brauchen bis heute keine Anklage zu Kriegsverbrechen fürchten. So wagt es der Internationale Gerichtshof in Den Haag nicht, George W. Bush und seine Regierung anzuklagen wegen des Irak-Kriegs 2003.
In diesem Fall ist unbestritten, dass die US-Regierung damals beteiligt war an der „Planung und Durchführung eines Angriffskriegs“ – den ersten beiden der vier Hauptanklagepunkte im Nürnberger Kriegsverbrechertribunal .
Premierminister Chamberlain sprach das Urteil über die britischen Bombardements
Es gibt allerdings ein moralisches Urteil über die britischen Bombardements der deutschen Städte mit bis zu 600.000 Ziviltoten. Das hatte der Vorgänger des britischen Premierministers Winston Churchill ausgesprochen. Neville Chamberlain erklärte am 21. Juni 1938 vor dem Britischen Unterhaus:
„Erstens verstößt es gegen das Völkerrecht, Zivilpersonen als solche zu bombardieren und die Zivilbevölkerung vorsätzlich anzugreifen.“
„Zweitens müssen Ziele, die aus der Luft beschossen werden, legitime militärische Ziele sein und identifiziert werden können.“
„Drittens muss der Angriff auf diese Ziele mit angemessener Sorgfalt ausgeführt werden, damit nicht aus Unachtsamkeit Zivilpersonen in der näheren Umgebung bombardiert werden.“
Zur weiterführenden Lektüre empfohlen: A.C. Grayling: Die toten Städte. Waren die alliierten Bombenangriffe Kriegsverbrechen? deutsch 2007, und der Wikipedia: Bombenangriff auf Würzburg am 16. März 1945.
Text: Hubert Hecker
Bild: s. Weblinks zum Wikipedia-Eintrag