(London) Der ganz normale Wahnsinn einer „gesunden“ Gesellschaft, die perfekt durchbürokratisierte 08/15-Vorgehensprotokolle anfertigt und unmenschlich durchzieht. Manchmal übersteigt dann die Realität sogar die blühendste Phantasie von Horror-Schriftstellern. Die erschreckende Geschichte einer jungen Frau begann im Sommer 2012 in England, inmitten von Menschen und doch ganz alleingelassen.
Der Vorfall ereignete sich, vielleicht nicht ganz zufällig, in der Stadt von Jack the Ripper. Hier die Handlung. Im Juli des vergangenen Jahres kam Alessandra Pacchieri aus der Stadt Chiusi in der Toskana nach England, um am Flughafen Standsted in Essex an einem Ausbildungskurs von Ryanair teilzunehmen. Alessandra, im siebten Monat schwanger, stand kurz davor in den fünfmonatigen Mutterschutz zu treten, der in Italien zwei Monate vor der Entbindung beginnt. Wenige Tage später hätte sie an der beruflichen Weiterbildung nicht mehr teilnehmen müssen. In England erleidet sie eine Panikattacke. In ihrer Verzweiflung rief sie die Notfallnummer an. Es war die Polizei, die sie in ein Krankenhaus brachte. Das Krankenhaus sollte sich später jedoch als Psychiatrische Klinik herausstellen: das Derwent Center des Princess Alexandra Hospital von Harlow. Die Frau merkt das erst auf dramatische Weise, als sie nach Verabreichung eines Beruhigungsmittels darum bittet, ihr ein Taxi zu rufen, das sie ins Hotel zurückbringen soll. Stattdessen erfährt die Frau nun, daß sie in eine psychiatrische Klinik zwangseingewiesen wurde und nun der obligatorischen Behandlung gemäß Mental Health Act unterworfen ist.
Zwangspsychiatrierung – Gerichtlich angeordneter Kaiserschnitt – Kindesentzug
Die junge Frau sah sich plötzlich inmitten einer Zwangssituation, die jedem dystopischen Roman von Ray Bradbury oder Herbert George Wells alle Ehre machen würde. Nach fünfwöchigem Zwangsaufenthalt im Derwent Center wurde Alessandra am 24. August 2012 ohne ihr Wissen und ihre Zustimmung durch einen Entscheid des Court of Protection einem Kaiserschnitt unterzogen. Sie bringt eine Tochter zur Welt, die ihr sofort von den britischen Sozialdiensten entzogen und zur Adoption freigegeben wird. Nach Abschluß des Protokolls laut Mental Health Act wurde die Frau entlassen und kehrte nach Italien zurück. Von zu Hause aus beginnt sie einen Rechtsstreit, um ihre Tochter zurückzubekommen. Sie wendet sich an die italienische Justiz. Diese richtet an die britischen Behörden eine Anfrage um Auskunft über die Gründe für die Zwangsmaßnahmen gegen eine italienische Staatsbürgerin, erkennt aber grundsätzlich die Zuständigkeit der britischen Justiz für den Fall an, da sich die Ereignisse in England abspielten. Nun stellte sich heraus, daß nach der Einlieferung in das Derwent Center immer genau nach Protokoll des Mental Health Act ein zuständiges britisches Gericht die Frau für „unzurechungsfähig“ erklärt hatte, Rechtsanwälten Anweisungen zu geben.
Der Rechtskampf um Rückgabe des Kindes
Im vergangenen Februar beauftragte die Frau den englischen Rechtsanwalt Brendan Fleming, vor dem Chelmsford Crown Court die Rückgabe der Tochter zu verlangen. Der Antrag wurde jedoch abgewiesen.
Die Geschichte wird noch surrealer wenn man bedenkt, daß die britischen Behörden nicht einmal Antwort auf eine grundsätzliche Frage erteilten: Warum wurde die Familie der Frau weder über die Zwangseinweisung noch über die Geburt der Tochter informiert, und warum wurde nicht der Familie oder einer über die Familie namhaft gemachte Person das Sorgerecht über das Kind anvertraut?
Vielleicht ist aber eine noch viel grundsätzlichere Frage zu stellen, wie es der Parlamentsabgeordnete John Hemming tat, der den Fall vor das Unterhaus brachte: „Warum ließ man die Frau nicht nach Italien zurückkehren, als sie noch schwanger war?“
Erst jetzt, fast anderthalb Jahre nach dem Vorfall fand Alessandra Pacchieri den Mut, sich an die britischen Medien zu wenden und öffentlich zu machen, was sie erlitten hatte. Tagelang beschäftigte das Thema die Londoner Tageszeitungen.
Höchstrichter: „Kein Einzelfall“
Fabio Roia, Vorsitzender einer Strafkammer am Landgericht Mailand, spricht von einem „Akt extremer Gewalt“, der der jungen Frau zugefügt wurde, die „schutz- und rechtlos“ gemacht worden sei. In England meldete sich Sir James Munby, einer der renommiertesten Juristen im Bereich des Familienrechts zu Wort. Der Vorsitzende der Family Division des High Court of England and Wales, des obersten Zivilgerichtshofes von England und Wales, stellte öffentlich die Frage, warum das Mädchen der Mutter nicht zurückgegeben wurde. Er erklärte zudem: „Ich werde den Fall persönlich mit großer Aufmerksamkeit beobachten, auch, weil es kein Einzelfall ist: die Sozialdienste müssen vor Gericht zitiert werden und alle Familien, denen ungerechtfertigterweise ihre Kinder entzogen wurden, haben ein Recht, öffentlich gehört zu werden“.
In einem Interview für das Wochenmagazin Oggi erzählte die betroffene Mutter ihre Leidensgeschichte, die so irreal scheint, daß sie nur das reale Leben schreiben kann. Fast 40 Jahre nach dem bekannten Film von Milos Forman scheint erneut einer über das Kuckucksnest geflogen zu sein.
Text: Giuseppe Nardi
Bild: NBQ