(Rom) Der bekannte Jurist und Religionssoziologe Massimo Introvigne analysiert für „Nuova Bussola Quotidiana“ das neue Papst-Interview, das als „Revolution“ rund um die Welt geht. Es enthält die Strategie von Papst Franziskus für sein Pontifikat. Introvigne versucht aufzuzeigen, welche Prioritäten der Papst setzen will. Und übt auch Kritik. Er hegt Zweifel, ob ein Interview die geeignete Form ist, da sie sich besonders gut eignet, daß man sich auf isolierte Teile stürzt und den Rest ignoriert. Und genau so mache es auch die Weltpresse.
Introvigne sieht auch „große Gefahren“ in der Grundentscheidung des Papstes. Die Gegner der Kirche, die Religion und Kirche aus der Gesellschaft hinausdrängen wollen, haben als Kampffeld die Moral ausgewählt. Von dort aus greifen sie die Kirche an, um den Glauben anzugreifen. Papst Franziskus hat nun bekanntgegeben, daß er dessen unbekümmert, das Schlachtfeld Moral kampflos räumt. Für ihn sei die katholische Morallehre heute nicht mehr vermittelbar, weil die Glaubensgrundlagen dafür fehlten.
Deshalb will er grundsätzlicher ansetzen und bei der elementarsten Glaubensverkündigung beginnen. Aus diesem Grund, so Introvigne, hat er die Kirche und die Gläubigen nun vorgewarnt: es war kein Zufall, nein, er werde auch in Zukunft nicht besonders über Lebensrecht und Familie, über Homosexualität und wiederverheiratet Geschiedene, überhaupt nicht besonders über moralische Fragen sprechen. Seiner Meinung nach würde bereits zuviel darüber gesprochen in der Kirche. Introvigne hält Kritik daran für berechtigt und sogar gut, wenn sie fruchtbringend ist. Er warnt aber vor steriler Polemik, die mehr schade als nütze. Jedenfalls solle man auch nicht so tun, als habe der Papst nicht eine klare Entscheidung getroffen, und diese durch Kosmetik schönreden. Das sei nur Selbstbetrug und helfe niemandem. Die Zwischentitel wurden von der Redaktion gewählt.
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Das Programm von Papst Franziskus: beim Glauben beginnen
von Massimo Introvigne
Als Benedikt XVI. 2010 dem Journalisten Peter Seewald ein langes Interview gewährte, griffen die Medien sofort eine Passage auf, die in besonderen Situationen eine Öffnung gegenüber Verhültungsmitteln schien. Papst Ratzinger ließ durch das Presseamt des Vatikans präzisieren, daß Interviews kein Teil des Lehramtes sind. Implizit macht Papst Franziskus dasselbe am Anfang seines langen Interviews, das sein Mitbruder im Jesuitenorden Pater Spadaro führte, wenn er seine große Schwierigkeit mit diesem besonderen Genre beklagt. Und im Zusammenhang mit seinem berühmten Pressegespräch auf dem Rückflug vom Weltjugendtag sagt er nun, daß „ich mich selbst nicht wiedererkannt habe, auf dem Rückflug von Rio de Janeiro, ich habe den Journalisten geantwortet, die mir Fragen stellten“.
Man könnte hier innehalten und jene, die ehrlich oder böswillig im Interview das der Papst Pater Spadaro gab, Wenden und Revolutionen suchen, daß der Papst selbst uns einlädt, ein Interview als das zu nehmen, was es ist, und mehrfach im Gespräch auf Dokumente des Lehramtes verweist – nicht nur seines eigenen, sondern von Texten des Zweiten Vatikanums bis zum Katechismus der Katholischen Kirche, – wo die Gläubigen eine systematische und angemessene Abhandlung der Glaubenslehre finden können.
Das Interview kann dennoch nicht als unbedeutend betrachtet werden. Wegen seines weltweiten Medienechos, handelt es sich um ein soziologisches Großereignis. Wenn es auch nicht ein eigentlicher Ort ist, um eine systematische und lehramtliche Darstellung des Glaubens und der Moral zu finden – wer sich das davon erwartet, würde einen Fehler machen – so ist es doch ein nützliches Instrument, um die „Mens“ und das pastorale Programm und der Regierung des Papstes zu verstehen. Und um aus diesem Instrument zu entnehmen, was es objektiv enthält, muß das Interview vollständig gelesen werden. Isolierte Sätze eignen sich für jedwede Form von Mißverständnis und auch der Manipulation.
War die Gattung Interview eine kluge Wahl? – Sie eignet sich besonders gut für Verzerrungen
Ein Beispiel für viele ist die Feststellung: „Ich war sicher nie wie die selige Imelda, aber ich war nie rechts.“ Dieser Satz wurde von Tageszeitungen auf die Titelseiten geknallt, die daraus dann Prognosen erstellten, wie sich der Papst in politischen Fragen bewegen werde. Wenn man aber den ganzen Absatz liest, entdeckt man, daß Franziskus nicht von Politik spricht, sondern von seinem Regierungsstil als Jesuitenprovinzial, als er beschuldigt wurde, wegen eines jugendlichen autoritären Stils, den er heute ein wenig bereut, ein „Ultrakonservativer“ zu sein. Aus dem Kontext wird damit klar, daß die Aussage – über deren Klugheit man begründete Zweifel haben kann – „rechts“ nicht die Mitgliedschaft in irgendeiner Partei meint, sondern einen „Ordensoberen, der in autoritärer und ultrakonservativer Weise regiert“. Im übrigens, wenn „rechts“ eine politische Bedeutung hätte, würde daraus folgen, daß die „selige Imelda“ links sein müßte. Gemeint ist aber die selige Imelda Lambertini (1320–1333), ein junges Mädchen aus Bologna, die in Argentinien sehr populär ist und die der Papst bereits erwähnte. Sie wurde nicht wegen einer politischen Ausrichtung, sondern wegen ihrer Milde und Güte seliggesprochen. Und auf die spielte der Papst an.
Natürlich – und der Papst hätte es sich denken können – ignoriert die Weltpresse die zahlreichen Seiten des 28-Seiten-Interviews, die der Kunst, der Musik, wo Franziskus mit unerwartetem Fachwissen die verschiedenen Interpreten von Richard Wagner (1813–1883) behandelt und Wilhelm Furtwängler (1886–1954) den Vorzug gibt, nicht gerade ein linker Musiker, der von den Nationalsozialisten besonders gefeiert wurde, oder der Literatur gewidmet sind oder mehr noch den Jesuiten und – was noch schwerwiegender ist – auch der Theologie, um sich hingegen ausschließlich auf die einzige Antwort zu wiederverheirateten Geschiedenen und den Homosexuellen zu konzentrieren. Um ehrlich zu sein, kritisiert mancher „Traditionalist“ auch eine etwas voreilige Antwort zur Alten Messe. Der Papst beurteilt die Entscheidung von Benedikt XVI. zurückhaltend, die er darauf reduziert, die Zelebration jenen zu gewähren, die eine Notwendigkeit verspüren, aber er verlangt, daß sie nicht „instrumentalisiert“ wird, um das Konzil zu kritisieren. Die große Mehrheit der Kommentare konzentriert sich jedoch auf Moralfragen.
Papst Franziskus hat uns nun vorgewarnt: Er wird nicht über Abtreibung, Homosexualität und Geschiedene sprechen
Vom streng menschlichen und soziologischen Blickwinkel einer Wahrscheinlichkeitsrechnung, welche Wirkung die Antwort zu Homosexuellen und Geschiedenen auf die Medien und deren Leser haben werde, ist zu bezweifeln, ob die ausgewählte Kommunikationsform wirklich klug war. Der Kontext muß nicht verpflichtend geschätzt werden: man muß ihn aber zumindest verstehen. Franziskus kündigt an – er hatte dies bereits privat bei verschiedenen Anlässen gesagt – daß es sich nicht um Verzögerungen oder Mißverständnisse handelt, sondern daß er tatsächlich, und obwohl er sich bewußt sei, dafür kritisiert zu werden, beabsichtigt, nicht viel „über Abtreibung, Homo-Ehe und den Gebrauch von Verhütungsmitteln“ zu sprechen. Im Gegenteil, es scheint, daß für ihn andere zuviel davon reden.
Warum eine solche Entscheidung, die sicher viele verstört? Der Papst erklärt sein Programm: in einer sehr glaubensfernen Welt zieht er es vor, wieder bei der ersten Verkündigung anzufangen. Die Verkündigung der elementaren Dinge: daß Jesus Christus Gott ist und daß er für unsere Rettung gekommen ist, daß er allen seine Barmherzigkeit anbietet, daß Bekehrung möglich ist, daß die Umkehr nicht eine individuelle Anstrengung ist, sondern immer mit der Kirche erfolgt. Das Problem für Franziskus ist die logische Ordnung, die auch eine chronologische Ordnung bei der Verkündigung und der Mission wird. Zuerst kommt die „Verkündigung der Rettung“. „Dann muß man eine Katechese halten. Schließlich kann man auch moralische Konsequenzen ziehen. Aber die Verkündigung der rettenden Liebe Gottes kommt vor den moralischen Verpflichtungen.“
Von der Moral zum Glauben zu gelangen ist für Papst Franziskus heute nicht mehr möglich
Benedikt XVI. hatte am 11. Mai 2010 in Lissabon gesagt: „Oft sorgen wir uns mühevoll um die sozialen, kulturellen und politischen Auswirkungen des Glaubens und nehmen dabei als selbstverständlich an, daß dieser Glauben auch vorhanden ist, was leider immer weniger der Wirklichkeit entspricht. Man hat ein vielleicht zu großes Vertrauen in die kirchlichen Strukturen und Programme gelegt, in die Verteilung der Macht und der Aufgaben; aber was wird geschehen, wenn das Salz schal wird?“ Das Programm von Franziskus zielt darauf ab, sich in erster Linie darum zu kümmern, „daß dieser Glaube vorhanden sei“, ihn zu verkündigen durch das barmherzige Antlitz des Herrn, der allen Vergebung anbietet, einschließlich den Homosexuellen „die Gott suchen“, den Frauen, die abgetrieben haben – die dann, so der Papst, „ehrlich bereut“ haben – und den wiederverheirateten Geschiedenen. Ohne Strenge, aber auch ohne „Laxheit“, hat der Papst empfohlen. Nicht daß die Verkündigung der Moral nicht Teil der christlichen Botschaft sei, nicht etwa, daß er, Papst Franziskus, denke, die Glaubenslehre zu ändern: Denn die Position der Kirche zu Leben und Familie kennt man, „und ich bin Sohn der Kirche“. Aber die Morallehre kommt für den Papst nach der Verkündigung des Heils durch die Barmherzigkeit Gottes. Eine Umkehrung der Reihenfolge: bei der Moral starten, um zum Glauben aufzusteigen, ist heute, laut Franziskus nicht mehr möglich, ganz im Gegenteil, „das moralische Gebäude der Kirche läuft Gefahr wie ein Kartenhaus einzustürzen“.
Alle pastoralen Strategien und der Kommunikation haben Vorteile und Nachteile, sie öffnen Möglichkeiten zur Mission und bedeuten Risiken. Man läßt sicher nicht Respekt gegenüber dem Papst vermissen, wenn man auch die Gefahren nicht verschweigt, große Gefahren in einem Moment, indem in verschiedenen Staaten –das aktuell diskutierte Gesetz gegen Homophobie zum Beispiel in Italien lehrt es uns – um die Kirche an den Rand der Gesellschaft abzudrängen, der Angriff gerade bei der Moral ansetzt. Der Laizismus greift die Moral an, um den Glauben zu zerstören. Es ist der Gegner, der dieses Schlachtfeld ausgewählt hat: zuerst der Angriff auf die Moral, dann der auf den Glauben. Papst Franziskus denkt, diese Entscheidung der Gegenseite über das Schlachtfeld nicht akzeptieren zu müssen. Er kehrt die Logik der Welt um, und redet einfach über anderes: er verkündet das Mitleid und die Barmherzigkeit, der Welt zeigt er einen barmherzigen und gekreuzigten Jesus Christus, und lädt alle ein, sich als erstes Ihm zu Füßen zu werfen.
Kritik berechtigt, aber keine sterile Polemik – Auch kein Schönreden einer päpstlichen Grundsatzentscheidung
Viele soziologische Untersuchungen bestätigen es: es sind viele in der ganzen Welt, die sich von den Appellen von Papst Franziskus berühren lassen. Andere – etwa jene, die an der Front für den Schutz des Lebens und der Familie – werden durch diese strategische Entscheidung in Schwierigkeiten gebracht und sie fühlen sich unwohl dabei und auch ein bißchen im Stich gelassen. Dieses Unwohlsein im Respekt auch zu bekunden, ist normal: Es bedeutet nicht, den Papst nicht zu lieben oder ihm nicht zu folgen. Ein Nachdenken über dieses Unwohlsein kann sogar eine gute Kultur und eine gute Politik werden. Das bloße Unwohlsein hingegen wird in der Regel steril, wenn es sich nur mehr in nebensächlichem Tratsch oder ständiger Polemik erschöpft, wenn es zum Verzicht wird, die Reden und Texte des Papstes zu lesen, anstatt von jedem Papst, der von Gott der Kirche geschenkt wird, das wirklich Essentielle seines Lehramtes anzunehmen. Im Fall von Franziskus ist das Herz seines Lehrsamtes die Einladung, „hinauszugehen“ und den Glauben jenen zu verkündigen, die nicht in die Kirche gehen.
Ein Glauben, von dem der Papst uns seltener als seine Vorgänger die moralischen Konsequenzen zum Lebensrecht und zur Familie aufzeigen wird – er hat uns nun ausdrücklich vorgewarnt und es wäre falsch, so zu tun, als würden wir es nicht hören oder eine klare Aussage des Papstes mit kosmetischen Erklärung zu vertuschen.
Aber er verbietet sicher den Bischöfen der einzelnen Länder und den Laien nicht, diese moralischen Konsequenzen gemäß Logik und Lehre aus dem Glauben zu ziehen. Er selbst hat das als Erzbischof von Buenos Aires gezeigt, wenn er das argentinische Gesetz zur „Homo-Ehe“ sogar dem „Neid des Teufels“ zuschrieb. Als Papst hat er mehrfach die Bischöfe der einzelnen Länder und die Laienbewegungen aufgefordert, ihre Verantwortung zu übernehmen.
Einleitung/Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Asianews