(Warschau) Mit 39,2 Prozent und 207 von 460 Parlamentssitzen ist Ministerpräsident Donald Tusk mit seiner liberal-konservativen, europafreundlichen Bürgerplattform (PO) Sieger der polnischen Parlamentswahlen. Sein Herausforderer Jaroslaw Kaczynski von der katholisch-konservativen, europaskeptischen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) unterlag mit 30 Prozent der Stimmen und 157 Mandaten. Die Wahlbeteiligung lag nur bei knapp über 48,9 Prozent.
Konservative siegen – Lebensschützer enttäuscht
Im neuen Sejm stellen die sich selbst konservativ nennenden Parteien 85 Prozent der Abgeordneten. Dennoch sind Polens Lebensrechtler enttäuscht. Die PiS ist die einzige Partei, die für das Lebensrecht von der Empfängnis bis zum natürlichen Tod eintritt und den Einzug in den polnischen Sejm geschafft hat. Wie in der Bundesrepublik Deutschland gilt eine landesweite Fünf-Prozent-Hürde. Damit rücken die Hoffnungen der Lebensrechtsvereinigungen sowie katholischer und konservativer Gruppen, den vor kurzem gescheiterten Versuch, über ein Volksbegehren dem uneingeschränkten Schutz des Lebens wieder Geltung zu verschaffen, wieder in die Ferne. Das von mehr als 600.000 Polen unterstützte Volksbegehren gegen die Tötung ungeborener Kinder scheiterte im Parlament an einer Handvoll Abgeordnetenstimmen.
Der Versuch, nach dem Scheitern des Volksbegehrens den Wahlkampf zur Anti-Abtreibungs-Kampagne zu machen und zur Mobilisierung für die „unverhandelbaren Werte“ zu nützen, hatte keinen Erfolg. Das Ergebnis offenbart Defizite in der Kommunikation zwischen Gesellschaft und Politik bzw. Politik und kirchlicher Hierarchie. Der Wahltag „war kein guter Tag für den Lebensschutz“, erklärte die Vertreterin einer polnischen Lebensrechtsorganisation. Die Suche nach den Ursachen hat begonnen.
Kulturelles Klima, in dem konservative Kampagnen zum Bumerang werden?
Zweifel über die „richtige Strategie“ werden deshalb gerade in einigen katholischen Organisationen des westslawischen Landes laut. Sie fordern eine genaue Analyse und sparen nicht mit Selbstkritik. „Politische Unreife“ einiger ihrer Vertreter habe zum schlechten Abschneiden beigetragen. Noch mehr jedoch der „verheerende“ Einfluß eines aufgeheizten kulturellen Klimas mit den Versuchen, relativistische Verhaltensnormen als gesellschaftlichen Konsens zu etablieren. Ein Teil dieser Versuche gehe auf die bloße Nachahmung westlicher Importformen zurück. Ein anderer Teil sei hingegen Ausdruck bewußter politischer Agitation. Vor diesem Hintergrund wird in Polen die Frage diskutiert, ob die Gefahr bestehe, daß konservative Kampagnen derzeit zu einem Bumerang werden. Als Vergleichsmomente werden die Verhältnisse im Italien der 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts und die derzeitigen in Spanien herangezogen.
Antiklerikale Palikot-Bewegung im Sympathie-Hoch westlicher Medien
Dabei geht der Blick weniger auf die eigene Niederlage als vielmehr auf den Erfolg der antiklerikalen Palikot-Bewegung (RP), die mit 10 Prozent und 40 Abgeordneten auf Anhieb den Einzug in das Parlament schaffte. Die erst im Oktober 2010 vom früheren PO-Abgeordneten und Millionär Janusz Palikot gegründete Gruppierung, verfolgt mit Forderungen nach Einführung der Homo-„Ehe“, Legalisierung der Abtreibung, Gender-Politik, Legalisierung der künstlichen Befruchtung, Zurückdrängung des katholischen Einflusses, Abschaffung des Religionsunterrichts an öffentlichen Schulen, ein weit linksliberal verortetes Programm. Dies erklärt, weshalb sich die neue Partei derzeit der sympathisierenden Aufmerksamkeit westlicher Medien kaum erwehren kann.
Die radikalliberale, antiklerikale RP könnte wahlarithmetisch zum Zünglein an der Waage werden, sollten sich die Liberalkonservativen nicht mit ihrem bisherigen Koalitionspartner, der Polnischen Bauernpartei (PSL) einigen können. Danach sieht es derzeit allerdings nicht aus. Zudem entgeht niemandem, wie dünn die Grundlage ist, auf der Palikot seinen bunt zusammengewürfelten Haufen, darunter homosexuelle, transsexuelle und feministische Abgeordnete, zusammenhält.
RP wächst auf Humus des nihilistisch gewendeten Kommunisten Jerzy Urban
Mit der RP nimmt im katholischen Polen ein kirchenfeindliches Phantom Gestalt an, das seit dem Zusammenbruch des Kommunismus als Strömung zwar spürbar, aber nicht wirklich faßbar war, weil es bisher bei verschiedenen anderen Parteien Asyl fand. Den Boden für die Variante Palikot bereitete mit Jerzy Urban kein Geringerer als der ehemalige Regierungssprecher des kommunistischen Regimes in der 80er Jahren. Nach dem Ende der roten Diktatur verstand er es geradezu meisterhaft, den völlig unattraktiv gewordenen Kommunismus als radikal-nihilistische Macht zu recyceln. Er tat dies mit der von ihm herausgegeben porno-satirischen, antiklerikalen Zeitschrift „Nie“ (Nein). Urban beschimpfte als kommunistischer Regierungssprecher die damals vom seligen Jerzy Popieluszko zelebrierten Gottesdienste für das Vaterland als „Versammlungen des Haßes“. Der Priester Popieluszko wurde 1984 vom kommunistischen Staatssicherheitsdienst ermordet. Der Regierungssprecher Urban feierte am Wahlabend am Sitz der RP den Wahlerfolg. Die RP scheint das ungeschminkte und nicht länger getarnte Sammelbecken der polnischen Radikalliberalen und Resten des alten Kommunismus zu sein.
Suche nach neuen Strategien und Mehrheiten bei den Katholisch-Konservativen hat begonnen
Die Quasi-Monopolisierung der polnischen Politik durch zwei konkurrierende konservative Parteien führt zur Kuriosität, daß linke Kleinparteien theoretisch entscheidenden Einfluß auf die Politik des Landes gewinnen könnten. In den Reihen der PiS, aber auch im katholisch-konservativen vorpolitischen Raum hat die Suche nach neuen potentiellen Bündnispartner und strategischen Neuorientierungen begonnen, um die derzeitige Isolation auf der Oppositionsbank nach den nächsten Parlamentswahlen durch neue Regierungsmehrheiten durchbrechen zu können.
Nicht unerwähnt bleiben soll, daß in Oberschlesien wiederum ein Abgeordneter der deutschen Minderheit den Sprung in das polnische Parlament geschafft hat. Ministerpräsident Tusk ist Angehöriger der kleinen Minderheit der Kaschuben.
Text: BQ/Giuseppe Nardi
Bild: Wikimedia