Das kommende Jahr im Pontifikat Benedikts XVI. wird vom roten Faden der Neuevangelisierung durchzogen sein. Der von Johannes Paul II. geprägte Schlüsselbegriff stand im Mittelpunkt des diesjährigen Treffens des Papstes mit seinem Schülerkreis in Castel Gandolfo.
In den kommenden Monaten nimmt das von Benedikt XVI. geschaffene gleichnamige Dikasterium, das er Kurienerzbischof Rino Fisichella anvertraute, seine Arbeit vollständig auf. Aufgabe des neuen vatikanischen Ministeriums ist es, die westlichen Staaten der Welt neu zu missionieren. Länder, die bereits früh christianisiert wurden, heute aber unter einem Kahlschlag des christlichen Erbes leiden.
Wie es seinem Charakter entspricht, wird der Papst zum Thema allen mit Respekt zuhören und ohne Vorbehalte die Analysen, Bewertungen und Ratschläge berücksichtigen. Benedikt XVI. selbst hat zum Thema sehr klare Vorstellungen. Die von ihm bei verschiedenen Anlässen aufgezeigte Richtschnur bietet einen herausragenden Ausgangspunkt für die Neuevangelisierung. Vor allem auch im Vergleich zu den zahlreichen Allgemeinplätzen, die die Neuevangelisierung auf Marketingstrategien, Werbesprüche und Selbstdarstellungskampagnen für die Kirche reduzieren wollen, wie sie in manchen Diözesen auch des deutschen Sprachraums zu beobachten sind. Man beauftragt professionelle PR-Unternehmen und wundert sich anschließend über Ergebnisse, die unter der Wahrnehmungsschwelle bleiben. Der Glaube liegt auf einer ganz anderen, tieferen Ebene im Menschen, die vom Instrumentarium der PR-Agenturen nicht erreicht werden kann.
Eine Darlegung der päpstlichen Vorstellungen zur Neuevangelisierung findet sich in einem Referat, das der damalige Kardinal Joseph Ratzinger am 10. Dezember 2000 in Rom auf einer Tagung für Religionslehrer und Katecheten hielt, die von der Kleruskongregation veranstaltet wurde. Um die missionarische Haltung aufzuzeigen, welche die katholische Kirche im dritten Jahrtausend einnehmen muß, ging der künftige Papst vom biblischen Gleichnis des Senfkorns aus, das Jesus im Matthäus-Evangelium als Bild für das Reich Gottes verwendet. „Mit dem Himmelreich ist es wie mit einem Senfkorn, das ein Mann auf seinen Acker säte. Es ist das kleinste von allen Samenkörnern, sobald es aber hochgewachsen ist, ist es größer als die anderen Gewächse, und wird zu einem Baum, so daß die Vögel des Himmels kommen und in seinen Zweigen nisten.“
Wenn man von Neuevangelisierung spricht, gelte es – laut dem Kardinal – vor allem “die Versuchung der Unduldsamkeit“ zu vermeiden. Jene Versuchung, „die sofort den großen Erfolg sucht“. Das sei, so der Präfekt der Glaubenskongregation, „nicht die Methode Gottes“, für den „immer das Gleichnis des Senfkorns gilt“. Neuevangelisierung könne, laut Kardinal Ratzinger, daher nicht bedeuten, die großen Massen, die sich von der Kirche entfernt haben, sofort durch neue, ausgefeiltere Methoden wieder anzuziehen. Die Geschichte der Kirche lehre, daß „die großen Dinge immer vom kleinen Korn ausgehen und Massenbewegungen immer kurzlebig sind“.
Um seine Vorstellungen verständlich zu machen, zögerte der Präfekt des Heiligen Uffiziums nicht, auch einen Autor zu zitieren, der allgemein in den vatikanischen Palästen nicht besonders geschätzt ist: „In seiner Vision des Evolutionsvorgangs spricht Teilhard von Chardin vom ‚weißen Punkt des Ursprungs‘ (le blanc des origines): Der Beginn der neuen Spezies ist unsichtbar und unauffindbar für die wissenschaftliche Forschung. Die Quellen sind verborgen – zu klein. Mit anderen Worten: Die großen Realitäten beginnen in aller Demut. Lassen wir die Frage beiseite, ob und bis zu welchem Grad Teilhard mit seinen Evolutionstheorien recht hat; das Gesetz des unsichtbaren Ursprungs beinhaltet eine Wahrheit – eine Wahrheit, die genau im Wirken Gottes in der Geschichte gegenwärtig ist: ‚Nicht weil du groß bist, habe ich dich erwählt – du bist das kleinste unter den Völkern; ich habe dich erwählt, weil ich dich liebe …‘ sagt Gott zum Volk Israel im Alten Testament und drückt so das grundsätzliche Paradox der Heilsgeschichte aus. Gewiß, Gott schaut nicht auf die Zahlen. Die äußerliche Macht ist nicht Zeichen seiner Gegenwart. Der Großteil der Gleichnisse Jesu zeigt dieses Muster im Handeln Gottes auf und antwortet so auf die Vorstellungen der Jünger, die sich ganz andere Erfolge und Zeichen vom Messias erwarteten. Erfolge, wie sie Satan dem Herrn anbot.“
In seinem Referat führte Kardinal Ratzinger die phänomenale Ausbreitung des Christentums in apostolischer Zeit auf die Gleichnisse des Evangeliums zurück und damit auf die Demut und die scheinbare Marginalität. „Sicher, Paulus hatte am Ende seines Lebens den Eindruck, das Evangelium an die Enden der Welt gebracht zu haben, aber die Christen waren kleine, in der Welt verstreute, nach weltlichem Ermessen völlig bedeutungslose Gemeinschaften. In Wirklichkeit waren sie die Hefe, die von innen den Teig durchdringt und so trugen sie bereits die Zukunft der Welt in sich“, so der damalige Präfekt der Glaubenskongregation.
Die 2000 von Kardinal Ratzinger genannten Bilder und Kriterien bewahren den Ruf zur Neuevangelisierung vor jeder triumphalistischen Rhetorik und vor jeder „Reconquista“-Neurose. Sie bieten praktische Anregungen, um die angemessenen Methoden zu ihrer Verwirklichung zu finden. „Wir suchen keine Aufmerksamkeit für uns, wir wollen nicht die Macht und Ausdehnung unserer Institutionen, wir wollen aber dem Wohl der Menschen und der Menschheit dienen, indem wir Ihm Raum verschaffen, der das Leben ist. Diese Enteignung des eigenen Ich, indem wir uns für die Rettung der Menschen ganz Christus hingeben, ist die grundlegende Voraussetzung für den wahren Einsatz für das Evangelium.“ Eine selbstbezogene Kirche, die lediglich auf sich selbst verweist, wäre ein Instrument der Konfusion und des Anti-Zeugnisses, denn „das Zeichen des Antichristen ist sein Reden im eigenen Namen“, „das Zeichen des Sohnes ist seine Gemeinschaft mit dem Vater“. Deshalb seien „alle vernünftigen und moralisch akzeptablen Methoden zu prüfen. Es ist eine Pflicht, von den verschiedenen Kommunikationsmöglichkeiten Gebrauch zu machen. Doch bloße Worte und alle Kommunikationskünste können den Menschen nicht in jener Tiefe erreichen, in die das Evangelium vorzudringen hat. Wir können die Menschen nicht gewinnen. Wir müssen sie von Gott für Gott erhalten. Alle Methoden und Strategien sind leer ohne das Fundament des Gebets.“
Bereits bei Priesterexerzitien, die Kardinal Ratzinger 1986 für die Gemeinschaft Comunione e Liberazione hielt, zeigte der künftige Papst als Quelle einer authentischen, evangelisierenden Dynamik die Anziehungskraft der Gnade auf, die von Christus selbst gewirkt wird und nicht von kirchlichen Programmen. Damals zog der Kardinal einen Vergleich zwischen heute und dem, was in den frühchristlichen Jahrhunderten geschah. „Die frühe Kirche entfaltete nach der Apostelzeit nur eine sehr eingeschränkte Missionstätigkeit. Sie verfügte über keine besondere Strategie zur Verkündigung des Glaubens an die Heiden. Und trotzdem war es die Zeit des größten Missionserfolgs. Die Bekehrung der Alten Welt war nicht das Ergebnis einer planmäßigen kirchlichen Aktion, sondern die Frucht der Glaubensbestätigung, einer Verifizierung, die im Leben der Christen und in der Gemeinschaft der Kirche sichtbar wurde. Die konkrete Einladung von Erfahrung zu Erfahrung und nichts anderes war, menschlich gesprochen, die missionarische Kraft der frühen Kirche. Die Neuevangelisierung, die wir so dringend notwenig haben, werden wir nicht mit schlau ausgeklügelten Theorien verwirklichen: die katastrophale Erfolglosigkeit der modernen Katechese ist ja mehr als offensichtlich …“
Text: Vatican Insider/Giuseppe Nardi
Bild: Vatican Insider