Liebe Brüder und Schwestern!
Bei der Audienz vergangene Woche habe ich die Person und das Leben des heiligen Bonaventura vorgestellt. Heute möchte ich kurz über sein Denken und sein Werk sprechen. In seinem letzten, unvollendet gebliebenen Werk Hexaà«meron – eine Auslegung zu den sechs Schöpfungstagen – legte er eine Geschichtstheologie vor. Innerhalb des Franziskanerordens war die Bewegung der Spiritualen entstanden, die in Franz von Assisi die Erfüllung der Prophezeiungen des schon verstorbenen Zisterzienserabtes Joachim von Fiore sah. Das heißt: Es wird ein neues Zeitalter des Heiligen Geistes kommen, das die bisherige Kirche hinter sich lassen wird und wo die Menschen in einer neuen Freiheit und Weite leben werden. Bonaventura, der sich um eine authentische Deutung des heiligen Franziskus und um den inneren Zusammenhalt seines Ordens und dessen Sein in der Kirche mühte, wies diese Interpretation zurück: Es gibt nicht nach der Zeit Christi noch eine Zeit des Heiligen Geistes, es ist keine andere Kirche zu erwarten. So muß sich die franziskanische Gemeinschaft in die konkrete, reale Kirche mit ihrer Lehre und ihrer inneren Ordnung einfügen. Aber das Phänomen Franziskus zeigt, daß der Reichtum Christi unerschöpflich ist und die Tatsache, daß in Christus schon alles gesagt ist, nicht bedeutet, daß wir an die Vergangenheit angekettet sind. Er ist unerschöpflich, und immer Neues wird sichtbar. Franziskus war in seiner Zeit das Zeichen dafür, daß die Neuheit Christi in der Kirche lebt und in ihr unerschöpflich ist. So hat Bonaventura den Franziskanerorden einerseits auf dem Realismus aufgebaut, daß er in diese eine Kirche Christi gehört, andererseits auf das Wissen um die Neuheit dieser Bewegung, die die alten Ordensideale überschritt zu einer neuen Weise des Lebens in der Weite der Verkündigung und in missionarischer Dynamik. Große Bedeutung hat Bonaventura als Autor spirituell-mystischer Schriften, mit denen er seine Ordensregierung in diesem Sinne als zugleich voranführend und konkret, den Menschen Rechnung tragend, darstellt und die Menschen von innen her zu führen versucht. Das wichtigste Werk daraus ist das Itinerarium mentis in Deum – die Wanderschaft des Menschen zu Gott –, wo er zeigt, daß, um zu Gott zu kommen, intellektuelle Anstrengung allein nicht ausreicht, sondern die Reinigung des Herzens notwendig ist und das innere Aufwärtsgehen des Menschen, die wirkliche Nachfolge Christi, die dann zu lebendiger Erfahrung Gottes und zu innerer Freude führt.
Gerne heiße ich alle Gäste deutscher Sprache willkommen. Besonders grüße ich heute die Priester aus der Diözese Linz mit ihrem Bischof Ludwig Schwarz sowie den Rektor, die Kollegsgemeinschaft und die Ehemaligen des Collegio Teutonico di Santa Maria in Camposanto. Wie der heilige Bonaventura wollen wir uns in die Schule des Göttlichen Meisters begeben, sein lebendiges Wort aufnehmen, damit er in uns wohne und uns zur wahren Freude führe. Von Herzen segne ich euch alle.