(Vatikan) Am 18. April 2005 hielt Joseph Kardinal Ratzinger als Dekan des Kardinalskollegiums die Predigt bei der Missa Pro Eligendo Romano Pontifice in der Patriarchalbasilika zu St. Peter in Rom. Mit Blick auf die soeben zu Ende gegangene Bischofssynode über die Familie, bei der es zu ungewöhnlichen Szenen des Unmuts über das Vorgehen von Papst Franziskus und seiner Mitarbeiter, allen voran Kardinal Walter Kasper, Kardinal Lorenzo Baldisseri, Erzbischof Bruno Forte von Chieti-Vasto und Titularerzbischof Victor Manuel Fernandez, Rektor der Päpstlichen Universität Buenos Aires und Ghostwriter des Papstes, gekommen ist, wird die programmatische Ansprache unmittelbar vor Beginn des Konklaves zum Kontrastpunkt. Barmherzigkeit war das wichtigste Stichwort der Bischofssynode und dient einer Richtung in der Kirche als Chiffre für revolutionäre Eingriffe in die kirchliche Lehre und Ordnung.
Über Barmherzigkeit sprach 2005 auch der damalige Kardinaldekan Joseph Ratzinger. Sichtbar wird ein unterschiedliches Verständnis, das über das bloße Verständnis von Barmherzigkeit hinausgeht. Einige zentrale Auszüge aus der Predigt.
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MISSA PRO ELIGENDO ROMANO PONTIFICE
Predigt von
Joseph Kardinal Ratzinger
Patriarchalbasilika zu St. Peter
18. April 2005
Lesungen: Jes 61,1–3a. 6a. 8b–9;
Eph 4,11–16;
Joh 15,9–17
In dieser verantwortungsvollen Stunde hören wir mit besonderer Aufmerksamkeit auf das, was der Herr uns mit seinen eigenen Worten sagt. Aus den drei Lesungen möchte ich nur einige Abschnitte auswählen, die uns in einem Augenblick wie diesem direkt betreffen.
Die Erste Lesung bietet ein prophetisches Bild der Figur des Messias – ein Bild, das seine ganze Bedeutung von dem Augenblick her erhält, als Jesus, der diesen Text in der Synagoge von Nazaret liest, sagt: „Heute hat sich dieses Schriftwort erfüllt“ (Lk 4,21). Im Zentrum des prophetischen Textes stoßen wir auf ein Wort, das – zumindest auf den ersten Blick – widersprüchlich erscheint. Der Messias, der von sich spricht, sagt, er sei gesandt worden, damit er „ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe, einen Tag der Vergeltung unseres Gottes“ (Jes 61,2). Wir hören voll Freude die Ankündigung des Jahres der Barmherzigkeit: die göttliche Barmherzigkeit setzt dem Bösen eine Grenze – hat der Heilige Vater uns gesagt. Jesus Christus ist die göttliche Barmherzigkeit in Person: Christus begegnen heißt, der Barmherzigkeit Gottes begegnen. Der Auftrag Christi ist durch die priesterliche Salbung zu unserem Auftrag geworden; wir sind aufgerufen, „das Jahr der Barmherzigkeit des Herrn“ nicht nur mit Worten, sondern mit dem Leben und mit den wirksamen Zeichen der Sakramente zu verkünden. Was aber will Jesaja sagen, als er den „Tag der Vergeltung unseres Gottes“ ankündigt? Jesus hat in Nazaret, als er den Text des Propheten las, diese Worte nicht ausgesprochen – er schloß mit der Ankündigung des Jahres der Barmherzigkeit. War das vielleicht der Anlaß zu der Empörung, die nach seiner Predigt aufkam? Wir wissen es nicht. Auf jeden Fall hat der Herr seinen authentischen Kommentar zu diesen Worten durch den Tod am Kreuz abgegeben. „Er hat unsere Sünden mit seinem Leib auf das Holz des Kreuzes getragen…“, sagt der hl. Petrus (1 Petr 2,24). Und der hl. Paulus schreibt an die Galater: „Christus hat uns vom Fluch des Gesetzes freigekauft, indem er für uns zum Fluch geworden ist; denn es steht in der Schrift: Verflucht ist jeder, der am Pfahl hängt. Jesus Christus hat uns freigekauft, damit den Heiden durch ihn der Segen Abrahams zuteil wird und wir so aufgrund des Glaubens den verheißenen Geist empfangen“ (Gal 3,13).
Die Barmherzigkeit Christi ist keine billig zu habende Gnade, sie darf nicht als Banalisierung des Bösen mißverstanden werden. Christus trägt in seinem Leib und in seiner Seele die ganze Last des Bösen, dessen ganze zerstörerische Kraft. Er verbrennt und verwandelt das Böse im Leiden, im Feuer seiner leidenden Liebe. Der Tag der Vergeltung und das Jahr der Barmherzigkeit fallen im Ostermysterium, im toten und auferstandenen Christus zusammen. Das ist die Vergeltung Gottes: Er selbst leidet in der Person des Sohnes für uns. Je mehr wir von der Barmherzigkeit des Herrn berührt werden, um so mehr solidarisieren wir uns mit seinem Leiden, werden wir bereit, „das, was an den Leiden Christi noch fehlt“ (Kol 1,24), in unserem Leib zu ergänzen.
Gehen wir zur Zweiten Lesung über, zum Brief an die Epheser. Hier geht es im wesentlichen um drei Dinge: erstens um die Ämter und Charismen in der Kirche als Gaben des auferstandenen und in den Himmel aufgefahrenen Herrn; sodann um das Heranreifen des Glaubens und der Erkenntnis des Sohnes Gottes als Voraussetzung und Inhalt der Einheit im Leib Christi; und schließlich um die gemeinsame Teilnahme am Wachsen des Leibes Christi, das heißt an der Umgestaltung der Welt in die Gemeinschaft mit dem Herrn.
Wir verweilen nur bei zwei Punkten. Der erste ist der Weg zur »Reife Christi«, wie es etwas vereinfachend im italienischen Text heißt. Dem griechischen Text nach müßten wir genauer von dem „Maß der Fülle Christi“ sprechen, die zu erreichen wir gerufen sind, um wirklich Erwachsene im Glauben zu sein. Wir sollen nicht Kinder im Zustand der Unmündigkeit bleiben. Was heißt, unmündige Kinder im Glauben sein? Der hl. Paulus antwortet: Es bedeutet, „ein Spiel der Wellen zu sein, hin- und hergetrieben von jedem Widerstreit der Meinungen…“ (Eph 4, 14). Eine sehr aktuelle Beschreibung!
Wie viele Glaubensmeinungen haben wir in diesen letzten Jahrzehnten kennengelernt, wie viele ideologische Strömungen, wie viele Denkweisen… Das kleine Boot des Denkens vieler Christen ist nicht selten von diesen Wogen zum Schwanken gebracht, von einem Extrem ins andere geworfen worden: vom Marxismus zum Liberalismus bis hin zum Libertinismus; vom Kollektivismus zum radikalen Individualismus; vom Atheismus zu einem vagen religiösen Mystizismus; vom Agnostizismus zum Synkretismus, und so weiter. Jeden Tag entstehen neue Sekten, und dabei tritt ein, was der hl. Paulus über den Betrug unter den Menschen und über die irreführende Verschlagenheit gesagt hat (vgl. Eph 4,14). Einen klaren Glauben nach dem Credo der Kirche zu haben, wird oft als Fundamentalismus abgestempelt, wohingegen der Relativismus, das sich „vom Windstoß irgendeiner Lehrmeinung Hin-und-hertreiben-lassen“, als die heutzutage einzige zeitgemäße Haltung erscheint. Es entsteht eine Diktatur des Relativismus, die nichts als endgültig anerkennt und als letztes Maß nur das eigene Ich und seine Gelüste gelten läßt.
Wir haben jedoch ein anderes Maß: den Sohn Gottes, den wahren Menschen. Er ist das Maß des wahren Humanismus. „Erwachsen“ ist nicht ein Glaube, der den Wellen der Mode und der letzten Neuheit folgt; erwachsen und reif ist ein Glaube, der tief in der Freundschaft mit Christus verwurzelt ist. Diese Freundschaft macht uns offen gegenüber allem, was gut ist und uns das Kriterium an die Hand gibt, um zwischen wahr und falsch, zwischen Trug und Wahrheit zu unterscheiden. Diesen erwachsenen Glauben müssen wir reifen lassen, zu diesem Glauben müssen wir die Herde Christi führen. Und dieser Glaube – der Glaube allein – schafft die Einheit und verwirklicht sich in der Liebe. Dazu bietet uns der hl. Paulus – im Gegensatz zu den ständigen Sinnesänderungen derer, die wie Kinder von den Wellen hin- und hergeworfen werden – ein schönes Wort: die Wahrheit tun in der Liebe, als grundlegende Formel der christlichen Existenz. In Christus decken sich Wahrheit und Liebe. In dem Maße, in dem wir uns Christus nähern, verschmelzen auch in unserem Leben Wahrheit und Liebe. Die Liebe ohne Wahrheit wäre blind; die Wahrheit ohne Liebe wäre wie „eine lärmende Pauke“ (1 Kor 13,1).
Einleitung: Giuseppe Nardi
Bild: CTV ((Screenshots)