(Rom) Einige Gedanken des bekannten Historikers Roberto de Mattei zum Karfreitag. Vom Ort „Dominus flevit“ am Ölberg, von wo aus Jesus die Stadt Jerusalem sah und über sie weinte,als diese Ihm gerade einen triumphalen Einzug bereitete, von eben diesem Ort aus versucht Roberto de Mattei am Karfreitag seinen Blick auf die Welt und vor allem die Kirche von heute zu richten.
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Ostern: Jesus weint über Jerusalem
von Roberto de Mattei
Eigentlich sollte es ein Augenblick größter Freude sein: Jesus zieht in Jerusalem ein, empfangen vom Zuspruch und der Begeisterung der Menge. Heute ist er der populärste Mensch in Jerusalem. Doch Jesus läßt sich von den Schmeicheleien nicht täuschen. Die Welt applaudiert ihm, doch er gefällt sich nicht darin, er rühmt sich nicht dieses Erfolges. Während der Triumphzug zum Tempel hinabsteigt, betrachtet Jesus von der Höhe des Westhangs des Ölbergs aus die Stadt Jerusalem, wo sich die Orte seines bevorstehenden Leidens befinden: das schmucke Bauwerk des Tempels, die glitzernde Residenz des Herodes, das nüchterne Viereck der Festung Antonia, dem Sitz der römischen Garnison.
Et ut appropinquavit, videns Civitatem flevit super illam (Lk 19,41). Als Jesus die Stadt Jerusalem sah, weinte er plötzlich über sie. Wer da weint, ist nicht irgendein Mensch und auch nicht eine höchste weltliche Autorität: es ist die zweite Person der Allerheiligsten Dreifaltigkeit, das fleischgewordene Wort, der Gottmensch, in dem sich die gesamte Geschichte zusammenfaßt. Sein Weinen hat eine Bedeutung, die die Geschichte aller Jahrhunderte betrifft. Jesus weinte als Kind in der Krippe von Betlehem. Bethanien wurde Zeuge der Tränen, die Er über den Tod von Lazarus vergoß. Die Tränen begleiten seine Passion. Doch dieses Mal handelt es um ein anderes Weinen. Er weint über die Stadt, die Er vor sich hat, die keine Stadt wie die anderen ist: es ist Jerusalem, die Heilige Stadt des auserwählten Volkes, das geistliche Zentrum der Welt. Jesus weint wegen der Strafe, die Jerusalem bevorsteht, aber der Hauptgrund seiner Tränen sind die Sünden, die Beleidigungen Gottes, die der Grund für jene Strafe sind.
Der Rauch Satans ist in den Tempel Gottes eingedrungen und verdunkelt die Augen der Hohepriester. Unter Tränen und Schluchzen sprach Jesus: „Jerusalem, Jerusalem, wenn doch auch du an diesem Tag erkannt hättest, was dir Frieden bringt. Jetzt aber bliebt es vor deinen Augen verborgen!“ (Lk 19,42) Das ist, als würde man sagen: Wenn du die Dinge wüßtest, die ich über dich weiß, dann würdest ohne Zweifel auch Du weinen, so wie jetzt weine. Aber das alles ist dir verborgen, als Strafe wegen deiner Sünden. Deshalb weinst du nicht, bereust du nicht und wirst auch keinen Nutzen aus deiner Reue und deinem Schmerz haben. Auf die Hosianna-Rufe der Menge antwortet Jesus mit der Prophezeiung der unentrinnbaren Strafe für die untreue Stadt: „Denn es werden Tage über dich kommen, da deine Feinde einen Wall um dich aufwerfen und dich einschließen und bedrängen werden von allen Seiten. Sie werden dich und deine Kinder in dir zerschmettern und kein Stein wird in dir über dem anderen bleiben, weil du die Zeit der Gnade nicht erkannt hast.“ (Lk 19,43–44).
Jesus kennt die schrecklichen Prüfungen, die ihn erwarten. Aber nicht deshalb weint er. Er weint nicht wegen sich selbst, wegen der Schmerzen, die ihm bevorstehen, dem Leiden, das ihn erwartet, er weint über das Schicksal der Heiligen Stadt. Kann es einen größeren Beweis für eine Liebe für Jerusalem geben? Dennoch kann diese grenzenlose Liebe nicht die unendliche Gerechtigkeit Gottes abwenden. Gott ist nicht nur unendlich barmherzig, sondern auch unendlich gerecht, weil er unendlich heilig ist. Und Jerusalem wird aufgrund seiner Sünden nicht verschont.
Heute gibt es eine andere Stadt, über die zu weinen gilt. Es ist die Stadt, von der uns das Dritte Geheimnis von Fatima spricht. Jene „große, halb zerstörte Stadt“, die der Papst durchquert, „halb zitternd mit wankendem Schritt, von Schmerz und Sorge gedrückt“, und „für die Seelen der Leichen“ betet, „denen er auf seinem Weg begegnet“. Was bedeutet diese geheimnisvolle Stadt, die halb in Ruinen liegt? Bedeutet sie eine Stadt, eine Kultur oder gar die Kirche Christi? Nur die Zukunft wird das dramatische Rätsel enthüllen. Heute ist die Stunde der Tränen. Die Tränen bringen den Ernst der tragischen und dramatischen Situation zum Ausdruck, in der sich die Welt befindet.
Es ist nicht die Stunde der Euphorie und der Illusionen, aber ebensowenig des respektlosen Sarkasmus oder fruchtloser Polemiken unter Christen. Es ist der Augenblick der Trauer und des Weinens. Die Tränen entstehen aus dem Schmerz. Und wenn die Tränen ein Geschenk sind, so ist der Schmerz ein Gefühl, das genährt werden will, indem man die Dinge kennt, die uns angehen: Verzichten wir daher nicht darauf, die Vernunft auszuüben, sondern stützen wir mit der Vernunft unseren Glauben und erleuchten wir mit unserem Glauben unsere Vernunft. Möge die Gottesmutter uns diese Gnade in der Stunde des Leidens Christi und der Kirche gewähren.
Text: Corrispondenza Romana
Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Ars Cristiana