(Vatikan) Auf der Rechten wie auf der Linken, bei den Lefebvrianern wie bei den Dossettianern der Schule von Bologna, so der Vatikanist Paolo Rodari, ist die Kritik an der von Papst Benedikt XVI. mit seiner Rede vor der Römischen Kurie am 22. Dezember 2005 vorgeschlagenen Hermeneutik, sprich Interpretation des Zweiten Vatikanischen Konzils substantiell dieselbe.
Was haben Traditionalisten und Progressive gemeinsam?
Die Hermeneutik der Kontinuität, wie sie vom Papst gewünscht wird, erscheint beiden Seiten als Hindernis für das „wahre Verständnis“ des Konzils, wie sie es sehen. Eine Erneuerung in der Kontinuität zu behaupten, so sagen sie, hieße, daß sich schlußendlich in der Substanz nichts geändert und in Wirklichkeit nie ein Umbau stattgefunden hätte. Die eine wie die andere Seite sieht im Konzil jedoch eine Diskontinuität, sogar einen offenen Bruch mit dem, was vorher war. Bis dahin herrscht Übereinstimmung zwischen den so konträren Positionen. Die beiden Gruppen unterscheiden sich allerdings darin, daß es sich für die Traditionalisten um eine negative Diskontinuität handelt, für die Progressiven hingegen um eine positive.
Der 50. Jahrestag der Eröffnung des Konzils am 11. Oktober läßt beide Gruppen für ihre Hermeneutik des Bruchs in den Ring steigen.
Progressive sehen Deutungshoheit über Konzil schwinden
Am vergangenen 15. September versammelten sich mehrere Dutzend Referenten und Vertreter von über 100 Gruppen und Vereinigungen der katholischen Linken zu einer Tagung, um über die „Kirche für alle, Kirche der Armen“ zu diskutieren. Die „Kirche für alle“, so sagten sie, ist die Kirche des Konzils, das „Johannes XXIII. als pastorales und nicht als dogmatisches“ Konzil wollte, wie die progressiven Kirchenkreise durch ihre tiefsitzende Abneigung gegen Dogmen nicht müde werden, zu wiederholen. Die Tagung wurde mit einer Botschaft des „roten“ (emeritierten) Bischofs von Ivrea, Luigi Bettazzi eröffnet. Unter den Referenten fanden sich Namen wie jener des Linkskatholiken Raniero La Valle, der während des Konzils unter der Aufsicht des progressiven Erzbischofs von Bologna, Giacomo Kardinal Lercaro die Tageszeitung der Bischöfe in Italien leitete und der gut organisierten, progressiven Konzilsrichtung und ihren Zielen viel Raum in der katholischen Zeitung bot.
In der betont selbstbewußt vorgetragenen Rede La Valles wurde eine gewisse Unruhe hörbar. Die Hermeneutik der Kontinuität Benedikts XVI. gewann schnell an Boden und läßt die anderen Lesarten immer mehr in den Hintergrund treten. Das verlangt nach strategischen Kurskorrekturen. La Valle forderte deshalb zur „Überwindung der verschiedenen Hermeneutiken“ auf und dazu, das Konzil selbst als „Hermeneutik“ zu nehmen, um „im Licht“ des Konzils die Geschichte der Kirche zu interpretieren. Der alte Wein einer retroaktiven Umdeutung der gesamten Kirchengeschichte in einem neuen Schlauch. Der taktische Hintergedanke ist offenkundig und erklärt sich aus einem Schritt der Römischen Kurie.
Tagung des Päpstlichen Komitees für Geschichtswissenschaft
Um aus der derzeit herrschenden Pattsituation mit zwei sich unversöhnlich gegenüberstehenden Hermeneutiken herauszukommen, organisierte das Päpstliche Komitee für Geschichtswissenschaften mit päpstlicher Zustimmung vom 3.–5. Oktober an der Lateranuniversität die Tagung Das Zweite Vatikanische Ökumenische Konzil im Licht der Archive der Konzilsväter, wie der Vatikanist Paolo Rodari berichtet. Das erklärte Ziel der Tagung ist die Überwindung der Gegensätze durch deren wissenschaftliche Benennung, Analyse und Aufarbeitung. Tatsächlich befindet sich die geschichtswissenschaftliche Aufarbeitung des Konzils noch in den Kinderschuhen. Jahrzehntelang trat die progressive Schule von Bologna mit ihrer Geschichte des Konzils als Monopolist auf und beeinflußte damit in der Ausbildung von Priestern und Theologen deren Sichtweise. Erst 2011 durchbrach der traditionsverbundene Historiker Roberto de Mattei dieses Monopol. Sein Buch Das Zweite Vatikanische Konzil – eine bislang ungeschriebene Geschichte liegt auch in deutscher Übersetzung vor. Damit haben gewissermaßen die beiden sich in der Bruch-These berührenden Extreme umfassende Darstellungen vorgelegt, nicht aber die Hermeneutik der Kontinuität.
Auftrag Benedikts XVI. Konzilsgeschichte umfassend und ideologiefrei zu erforschen
Mit der Tagung des Päpstlichen Komitees für Geschichtswissenschaften soll der erste Schritt dazu gesetzt werden. Keine leichte Arbeit. Das Komitee hat von Papst Benedikt XVI. den Auftrag erhalten, alle bekannten und zugänglichen privaten Aufzeichnungen der Konzilsväter, deren Dokumente, Korrespondenz, Tagebücher zu studieren. Das Komitee hat kurzum alles, was in direktem oder indirektem Zusammenhang mit dem Konzil steht und sich in den Archiven der Konzilsteilnehmer findet, zu sichten und zu prüfen. „Das bedeutet eine große Anstrengung“, so der Prämonstratenser und Kirchenhistoriker Bernard Ardura, seit 2009 Nachfolger von Walter Kardinal Brandmüller als Präsident des Päpstlichen Komitees für Geschichtswissenschaften. Der päpstliche Auftrag an das Komitee sei es, so Pater Ardura, „das Konzil frei von ideologischen Voreingenommenheiten darzustellen“.
Konzilsgeschichte zwischen Giuseppe Alberigo und Roberto de Mattei
Damit antwortet der Heilige Stuhl auf die Schule von Bologna, der mit ihrer fünfbändigen Geschichtes des Zweiten Vatikanischen Konzils (1995–2001) unter der Leitung des inzwischen verstorbenen Giuseppe Alberigo, eine ideologisch einseitige Darstellung vorgeworfen wird. Die Schule von Bologna folgte dabei der Linie, daß eine Darstellung des Konzils nur anhand der offiziellen Dokumente unmöglich sei. Dieser Methode folgte 2011 auch Roberto de Mattei, der eine weitausholende ideengeschichtliche Vorgeschichte des Konzils verfaßte, um das Entstehen verschiedener progressiver Strömungen im Episkopat und den Konzilsperiti und deren Zielsetzungen auf dem Konzil aufzuzeigen. Dazu zog er in umfangreicher Weise nicht offizielle Aufzeichnungen von traditionsverbundenen wie progressiven Konzilsvätern heran.
Schule von Bologna will mit Konzil gesamte Kirchengeschichte seit Konstantin enden lassen
Philippe Chenaux, Dozent für moderne Kirchengeschichte an der Lateranuniversität erkennt die große Anstrengung der Schule von Bologna an, verwirft aber deren Ergebnisse: „Die von der Schule von Bologna präsentierte Lesart des Konzils, die in der Geschichtswissenschaft in Ermangelung eines ebenso umfangreichen Gegenentwurfs fast eine Hegemonialstellung einnimmt, entspricht nicht jener des kirchlichen Lehramtes unter Johannes Paul II. und Benedikt XVI.“ Die Historiker der Schule von Bologna sahen im Konzil „ein Ereignis“, das „eine so starke Zäsur in der Kirchengeschichte darstellte, daß sie ein ‚Davor‘ und ein ‚Danach‘ ausmachen konnten. Für sie stellte das Konzil für die Christenheit das Ende einer Epoche dar, das Ende der nachtridentinischen Zeit, wenn nicht sogar jene der gesamten nachkonstantinischen Zeit.“
Verurteilte Theologen wurden zu Vordenkern der progressiven Konzilsrichtung
Anders ausgedrückt, was sich für diese Historiker „durch das Konzil veränderte, betraf nicht so sehr die Ideen und die Menschen, sondern vielmehr das Urteil, das über sie formuliert wurde, das, was der französische Historiker Etienne Fouilloux ‚die eindeutige Umkehrung der Zeichen gewirkt durch das Ereignis‘ nannte“. Diese „Umkehrung“ ging so weit, „daß einige mit Mißtrauen beobachtete oder sogar kurz zuvor noch verurteilte Theologen wie jene der Nouvelle theologie von Congar, de Lubac über Danielou bis Chenu zu den großen Vordenkern des Erneuerungsgedankens wurden“, so Chenaux.
Blick auf Konzil „von Mißbrauch befreien“
Die vatikanische Tagung will keine „Gegengeschichte“ des Zweiten Vatikanischen Konzils schreiben, aber den Anstoß für eine wissenschaftliche Erforschung der Konzilszeit geben, die auf einer möglichst breiten Quellenbasis beruht, unvoreingenommen und ideologiefrei ist. Damit soll „vermieden werden“, so Chenaux, „die Geschichte des Konzils für Zwecke zu mißbrauchen, die außerhalb seiner Geschichte liegen“. Ziel sei es, zu einem ausgewogeneren und fundierteren Verständnis der damaligen Ereignisse zu gelangen.
Text: Paolo Rodari/Giuseppe Nardi
Bild: Gloria.tv