(Brüssel) Laut erstem Bericht des Europäischen Zentrums für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (ECDC ) mit dem Titel „Sexuell übertragbare Erkrankungen in Europa: 1990–2009“, hat sich die Ansteckung mit Chlamydien mehr als verdoppelt und betrifft in 75 Prozent aller Fälle junge Menschen im Alter zwischen 15 und 24 Jahren.
Der Blick auf andere Infektionskrankheiten wie Syphilis, Gonorrhö, Lymphogranuloma venereum ergibt, daß Syphilis-Infektionen zunehmen, während die anderen statistisch leicht zurückgehen, allerdings in einigen Ländern eine deutliche Zunahme zeigen. Der Direktor der ECDC, einer Agentur der Europäischen Union, Marc Sprenger, warnt: „In Wirklichkeit liegen die Zahlen sicher für alle Pathologien höher, weil nicht alle Fälle den Behörden korrekt gemeldet werden und weil die asymptomatischen Infektionen selbst dann nicht erfaßt werden, wenn sie zur Epidemie beitragen.“
Ausgenommen Chlamydien, betreffen diese Krankheiten mit Anteilen zwischen 25 und 98 Prozent weit überdurchschnittlich männliche Homosexuelle. „Ein Beleg dafür, daß es die sexuellen Verhaltensweisen und nicht die Art der Prävention ist, die die Verbreitung einer Geschlechtskrankheit bestimmen“, so Tommaso Scandroglio.
Eine der interessantesten Ergebnisse des ECDC-Berichts ist die Tatsache, daß eine starke Zunahme von Geschlechtskrankheiten ausgerechnet in Ländern festgestellt wurde, in denen am frühesten und am intensivsten Sexualaufklärung samt Schulsexualerziehung betrieben wird und eine Vielzahl staatlicher Initiativen zur Vorbeugung von Geschlechtskrankheiten angeboten werden. Jene Länder also, in denen eine Verhütungsmentalität im allgemeinen Bewußtsein stark verankert ist. 88 Prozent aller sexuell übertragbarer Geschlechtskrankheiten in den untersuchten Staaten konzentrieren sich auf die vier nordeuropäische Staaten Schweden, Norwegen, Großbritannien und Dänemark. Staaten, deren Gesundheitsministerien und Gesundheitsbehörden den „Safer Sex“ zur offiziellen Staatspolitik gemacht haben.
Schweden ist Vorreiter in Sachen Sexualaufklärung und Schulsexualerziehung. Dort entstand 1933 durch die Feministin Elise Ottesen-Jensen eine der allerersten Vereinigungen für Sexualaufklärung. 1945 wurde das erste Handbuch zum Thema gedruckt, zehn Jahre später die Schulsexualerziehung verpflichtend ab der Grundschule eingeführt. An sogenannten „Condom’s Days“ wurde bereits kleinen Kindern beigebracht, wie man ein Kondom gebraucht. Im benachbarten Norwegen wird an Kindern ab dem 11. Lebensjahr die Safe-Sex-Pädagogik praktiziert.
Laut einer Studie des internationalen Abtreibungslobbyisten International Planned Parenthood Federation (IPPF) von 2006, die in Zusammenarbeit mit der schwedischen Lund University und dem Regional Office for Europe der Weltgesundheitsorganisation WHO durchgeführt wurde, verfüge Dänemark über eine „exzellente“ Sexualaufklärung, während Staaten wie Tschechien, der Bundesrepublik Deutschland, Irland und Polen als „schwarze Schafe“ hingestellt wurden. Und dennoch befindet sich Dänemark an der Spitze bei den Neuinfektionen. „Das sagt viel aus darüber, wieviel die gepriesene Sexualerziehung bei der Prävention von Geschlechtskrankheiten wirklich taugt, wenn laut ECDC-Bericht auf 100.000 Bürger in Dänemark 541 Fälle von Chlamydien kommen, im ‚rückständigen‘ Irland aber nur 90.“
Großbritannien, das trotz Schulsexualerziehung und staatlichen Sexualaufklärungskampagnen an der Spitze der Staaten mit der höchsten Rate an Geschlechtskrankheiten steht, will bereits Kindergartenkinder ab fünf Jahren Sexualkunde verpassen. Das vorbereitete Programm sieht Einheiten über Homosexualität und Geschlechtskrankheiten vor. Zudem wurde beschlossen, kostenlos Präservative an Jugendliche im Alter zwischen 13 und 20 Jahren zu verteilen. Um in den Genuß dieser staatlichen Dienstleistung zu gelangen, braucht man eine Condom Card, die am Ende von Sexualaufklärungskursen ausgehändigt werden. In Norwegen und Schweden stehen an Schulen Kondomautomaten, an denen sich die Schüler kostenlos bedienen können.
Diese Länder orientieren sich letztlich nur an den 2010 veröffentlichten „Internationalen Richtlinien zur Sexualerziehung“ des UN-„Kinderhilfswerks“ UNESCO. In diesen wird zum Beispiel ausdrücklich aufgefordert den Kindern im Alter von 5–8 Jahren über Masturbation zu reden, mit jenen von 9–12 Jahren über Orgasmus und ab 15 Jahren über „sichere“ Abtreibung.
Die EU-Studie zeigt, wie wenig stichhaltig die seit Jahrzehnte behauptete Gleichung: mehr Aufklärung und mehr Prävention = weniger Risiken und mehr Gesundheit. Im Gegenteil scheint eine Übersättigung an Kondomen, Informationen und vor allem immer früherer Sexualisierung offensichtlich zu immer mehr Geschlechtskrankheiten und mehr Abtreibungen zu führen.
Dieses Paradox beruht auf zwei Gründen: Zum Einen auf die Art der Information über die menschliche Sexualität, die genitalfixiert ist und auf die Befriedigung der Instinkte abzielt. Welche ungezügelte Leidenschaft auch immer sich bemerkbar macht, ihr soll freier Lauf gelassen werden. Daraus resultiert ein früher Drang, der Sexualität Priorität einzuräumen und das Verhalten der nordeuropäischen Jugendlichen – aber nicht nur dort – zu steuern. Je mehr Sexualpartner jemand hat, desto höher ist das Infektionsrisiko.
Zum anderen durch die Propagierung künstlicher Verhütungsmittel, deren Scheitern längst offensichtlich ist, allein schon weil kein Kondom Schutz vor allen bekannten Geschlechtskrankheiten bieten kann, wie selbst die Kondomhersteller im Kleingedruckten zugeben, das allerdings niemand liest. Und jene, die sie lesen müßten, wie Gesundheitsbehörden und Politiker, die die Sexualaufklärungskampagnen beschließen, ignorieren es, ebenso wie sie die Studien der Fachleute ignorieren, weil sie ihrem Wunschdenken widersprechen. Zu den Fachleute gehört zum Beispiel Stephen Genius, Assistenzprofessor an der Universität von Alberta in Kanada: „Das Präservativ kann nicht als definitive Antwort auf die Gefahr von Geschlechtskrankheiten betrachtet werden, weil es einen ungenügenden Schutz gegen die Übertragung vieler verbreiteter Krankheiten bietet.
„Den Jugendlichen wird durch öffentliche Kampagnen eine irreführende Sicherheit der Kondome vorgegaukelt, die sich dazu veranlaßt mehr Geschlechtskontakte zu haben und damit ihr Ansteckungsrisiko erhöhen“, so Tommaso Scandroglio. „Weil man im Auto einen Sicherheitsgurt anlegt, darf man deshalb nicht auf das Gaspedal drücken.“ Die Fachleute sprechen von „risk compensation“: Je geringer das Risikobewußtsein, desto risikobereiter das Verhalten. (S. Peltzman, The Effects of Automobile Safety Regulation; I. Tazi-Preve, J. Roloff, Abortion in West and East Europe: problems of access and services; T.D. Mastro, W. Cates Jr, M.S.Cohen, Antiretroviral Products for HIV Prevention: Looking toward 2031; J. Richens, J. Imrie, A. Copas, Condoms and seat belts: the parallels and the lessons).
“Mit anderen Worten: angesichts von erhöhter Promiskuität und mangelnder Keuschheit nützt kein Kondom und keine Sexualaufklärung“, so Scandroglio.
Ob die Lektion zumindest von der ECDC verstanden wurde, fragt sich Scandroglio. „Offensichtlich nicht, da auf der Titelseite des Berichts eine ganze Reihe bunter Kondome abgebildet ist.“
Text: Bussola Quotidiana/Giuseppe Nardi
Bild: BQ