Von Friedrich Romig*
„Alles, was das Böse braucht, um zu triumphieren, ist, dass die Guten nichts tun.“
(angeblich Edmund Burke)
Immer wieder durch Putin zitiert, findet Iwan Iljin (1883–1954) nun auch vermehrte Beachtung in den westlichen Leitmedien. Man will wissen, wie Putin „tickt“. Kaum besser kann diese Frage für uns Deutsche beantwortet werden als durch das nun auch in unsere Sprache sorgfältig übersetzte Buch von Iwan Iljin, das ein Thema aufgreift, welches wir nur allzugerne verdrängen: die Notwendigkeit des gewaltsamen Widerstands gegen das Böse. Es ist ein Widerstand, der sich nicht nur gegen Fremde, sondern auch gegen die Mitbürger richtet, wenn diese die Existenz, Sicherheit, Unabhängigkeit und Freiheit von uns und unserem Land bedrohen.
Wir befinden uns heute in einer Situation, in der ein missverstandenes, gutmenschliches, liberal-willenloses Christentum zur „Verschleuderung“ unseres religiösen, kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen „Erbes“ geführt hat (Erzbischof Kardinal Christoph Graf Schönborn) und die Gefahren einer „Abschaffung Deutschlands“ (Thilo Sarrazin) und Europas (Altabt Gregor Henckel von Donnersmarck) nicht zu übersehen sind.
Für Deutschsprachige, die sich gegen diese Gefahren stemmen, kommt das Buch von Iwan Iljin gerade zur rechten Zeit. Was wir bislang vielleicht nur fühlten, wird uns nun in logisch stringenter Weise nahegebracht: Das Christentum ist keine Religion des Friedens, sondern des unabweislichen und dauernden, persönlichen und kollektiven „Kampfes, und zwar eines dramatischen, zwischen Gut und Böse, Licht und Finsternis“ (Vatikanum II, Gaudium et spes, Nr. 16, Rom 1965).
In einer umfassenden und überaus subtilen Weise führt Iwan Iljin uns in diesen Kampf ein, erörtert seine geistigen und seelischen Voraussetzungen, seine anzuwendenden Mittel sowie seine Folgen sowohl für das „Heil“ des Kämpfers wie für das „Wohl“ seines Landes. Der „Krieg gegen den Terror“, in dem wir uns heute alle in der einen oder anderen Form ausnahmslos befinden, verleiht dem Buch eine geradezu unheimliche Aktualität.
Die ersten zwölf Kapitel des Buches werfen die Frage auf, ob es sich denn überhaupt lohnt, gegen das uns im Inneren und Äußeren bedrohende Böse zu kämpfen. Sollen wir uns nicht einfach wegdrehen, das Böse gewähren lassen und hoffen, dass es sich totläuft? In ihrer „radikal-pazifischen Variante“ wird diese Auffassung von Leo Tolstoi vertreten. Doch wie verhalten wir uns denn wirklich, wenn ein Mörder seiner Geisel das Messer ansetzt und wir sie retten könnten, indem wir den Geiselnehmer erschießen? Machen wir von der Schusswaffe Gebrauch? Die Antwort fällt jenen Menschen vermutlich leicht, die noch nie einen anderen Menschen im Krieg oder Frieden erschossen haben. Ob auf Befehl oder aus eigenem Entschluss der Abzugshebel gedrückt wurde, immer bleibt in der Psyche „etwas“ hängen. Und auch demjenigen, der den rettenden Schuss nicht ausgelöst hat, bleiben Selbstvorwürfe und die Belastung seines Gewissens nicht erspart.
Die „Dramatik“ im Widerstand gegen das Böse, von der vierzig Jahre nach dem Erscheinen des Buches von Iwan Iljin auch das Vatikanum II spricht, ist Folge der Erbsünde und der Vertreibung aus dem Paradies. Seither gibt es keinen Frieden mehr auf dieser Welt, sondern Tod, Brudermord, Völkermord, Unterdrückung und Ausbeutung in mannigfacher Weise. Iljin warnt uns eindringlich vor falschen Hoffnungen, denn auch der Friede, den Christus gibt, ist „nicht von dieser Welt“ (Joh 14, 27). Christus selbst sagt ja von sich, er sei „nicht gekommen den Frieden zu bringen, sondern das Schwert“ (Mt 10, 34). Widerstandslosigkeit gegenüber dem Bösen ist für Christus keine Option. Christus sät Zwietracht. Er ist „ein Zeichen des Widerspruchs“ (Lk 2,34), vertreibt die Geldwechsler mit Peitschenhieben, also mit Gewalt, aus dem Tempel, nicht ohne vorher ihre Tische umzustürzen (Joh 2, 13–16). Er spaltet sein Volk und wirft jenen Juden, die nicht an ihn glauben, vor, sie hätten den Teufel zum Vater, den Verwirrer, Lügner und Menschenmörder von Anfang an (Joh 8, 44–47).
Christi Gebot der Feindes- und der Nächstenliebe bezieht sich nicht auf den Geist der Gottesleugner und Gotteslästerer (S. 352f). Nicht die von diesem Geist so häufig verführten Menschen, sondern ihn, den Geist, muss man hassen, denn er ist der Grund für den Bruch mit Gott und für den Bund mit Satan, der das Böse in die Welt bringt.
Ganz in diesem Sinne führt Iljin das Unglück, das die Völker „heimsucht“, auf falsche Ideologien zurück, „hauptsächlich bei der Intelligenz“. Indem sich diese Intelligenz „den listigen Anschein der einzig richtigen Deutung der christlichen Offenbarung verlieh, hat diese Lehre sehr lange den Menschen eingeflößt, dass die Liebe humane Anteilnahme sei; dass die Liebe das Schwert ausschließe; dass jeder Widerstand gegen einen Übeltäter mittels der Kraft (Anm.: des Schwertes) bösartige und verbrecherische Gewalt sei; dass nicht derjenige liebe, der kämpft, sondern derjenige, der den Kampf flieht; dass lebendige und heilige Desertion die Manifestation der Heiligkeit sei; dass man das Werk Gottes um der eigeneren moralischen Gerechtigkeit willen verraten könne und solle…“ (S. 322).
„Listiger Anschein“, Legitimation durch Missbrauch der christlichen Lehre, die Heuchelei der “humanen Anteilnahme“ , der Verzicht auf das Kampf- und Richtschwert, die „Flucht“ vor der Verantwortung, die Heiligsprechung des Deserteurs, der Verrat am göttlichen Auftrag: Man muss diese Satzteile von Semikolon zu Semikolon langsam in sich einsaugen, anders kann man die geballte Ladung an Sprengstoff nicht verstehen, mit der in jedem einzelnen Kapitel seines Buches Iljin die heute weitverbreiteten Vorstellungen über Political Correctness, Menschenrechte, gutmenschliche Humanität, Liberalismus, Freiheitsrechte, Demokratie, Rechtsstaat, Globalismus in die Luft jagt und als selbstgerechte Heuchelei entlarvt.
Iljin, dessen Begabung schon nach wenigen Semestern von seinen Lehrern erkannt wurde, nahm lange vor der Approbation seiner Dissertation die Vorlesungstätigkeit an der berühmten Kaiserlichen Moskauer Universität (heute Lomonossow-Universität) als Privatdozent auf. Seine Fakultät finanzierte einen mehrjährigen Studienaufenthalt in Frankreich, Italien, England und Deutschland und sorgte für die Kontakte zu den berühmtesten Philosophen der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts. Aus dem Studium der damals vorherrschenden deutschen Philosophie entsteht 1918 seine vom Professorenkollegium als Meisterwerk beurteilte Arbeit über „Die Philosophie Hegels als Lebenswerk Gottes und des Menschen“, die ihm den Professorentitel einbringt. Die Einsicht Hegels, dass kein Staat und keine Gesellschaft ohne religiöse Fundierung auf Dauer existieren können, macht Iljin zu seinem eigenen Lebenswerk. In der bolschewistischen, antichristlichen Revolution mit ihren Hekatomben an Ermordeten sieht er dem Bösen unmittelbar ins Gesicht. Er selbst wird in Moskau wegen „antikommunistischer Tätigkeit“ mehrfach verhaftet. 1922 wird er unter der Androhung ins Ausland abgeschoben, bei Rückkehr sofort erschossen zu werden.
Die Abschiebung führte ihn nach Berlin und hier wurde er zum führenden Mitorganisator des geistigen Widerstandes der russischen Emigration gegen die Sowjets. Von 1923 bis 1934 wirkt er an der von Nikolai Berdjajew gegründeten „Religionsphilosophischen Akademie“, wird zum wichtigsten Ideologen der „Weißen“, entfaltet eine rege Vortrags- und publizistische Tätigkeit, die weit in das konservative Lager des Westens hineinreicht. 1934 wird er von den Nationalsozialisten, die er ebenso wie die Bolschewisten der geistigen Unterwelt zuordnet, verhaftet. Dem berühmten Pianisten, Komponisten und Dirigenten Sergei Rachmaninow gelingt es, Iljin freizukaufen und ihn nach Genf zu holen. Dort setzt Iljin seine publizistische Tätigkeit bis zu seinem Tode fort. In Sowjetrussland waren seine Werke verboten und unbekannt. Das änderte sich erst, als der Nobelpreisträger Alexander Solschenizyn in seinem vierbändigen Monomentalroman „Das Rote Rad“ die beiden Hauptfiguren, eine Professorin für Mittelalterliche Geschichte und einen Obersten der russischen Armee, zu entschiedenen Gegnern der neuzeitlichen Revolutionen hochstilisierte, die seit der „Aufklärung“ Russland und Europa verheerten. Zu seiner nachhaltigen Wirkung sei wenigstens auf den 2014 erschienenen Artikel in der Neuen Zürcher Zeitung hingewiesen, den Sonja Margolina unter dem Titel veröffentlichte: „Putins Ideologie vom eurasischen Großrussland. Die Weißen haben gewonnen, der Einfluss der Ideen von Iljin auf Russland von heute“. Als ein äußeres Zeichen seiner Wertschätzung darf die 2005 erfolgte Exhumierung seiner sterblichen Überreste, ihre Überführung nach Moskau und ihre feierliche, unter großer Beteiligung der Bevölkerung erfolgte Beisetzung in einem Ehrengrab im Donskoi-Kloster angesehen werden.
Es ist nur natürlich, dass mit der steigenden Wertschätzung auch die Gegner von Iwan Iljin auf den Plan gerufen wurden und werden. Sie fürchten das von Iljin geschwungene „orthodoxe Schwert“, das sie mit dem Bösen, Antipatriotischen, Liberalen, Wahrheitsfernen, Antichristlichen, Subjektiven, Eitlen, geistig Korrupten in Verbindung bringt und sie damit entwertet und verdammt. Bis heute verstehen sie nicht, dass diejenigen, die dem Bösen nicht Widerstand leisten, von ihm „absorbiert“ und „besessen“ werden (S. 37). Ihre kulturzerstörende Wirkung beruht letztlich auf ihrem Kampf gegen das Christentum (S. 409). Sie dünken sich „modern“ und „tolerant“, weil sie auf Wahrheit und Tradition verzichten. Dass sie mit diesem Verzicht ihre Freiheit und Identität verlieren, merken sie wohl erst, wenn sie in der Diktatur einer Brave New World (Aldous Huxley) oder einer Animal Farm (George Orwell) aufwachen.
Iwan Iljin: Über den gewaltsamen Widerstand gegen das Böse. Mit „Pro et contra“ von Nikolai P. Poltorazkij zur Polemik um Iljins Ideen (Philosophia Eurasia). Herausgegeben und mit einem Vorwort versehen von Adorján Kovács. Nachwort von Franzisk Yavtilov. Übersetzung aus dem Russischen: Sascha Rudenko. Edition Hagia Sophia. 421 Seiten. Wachtendonk 2018. ISBN-13: 978–3‑96321–005‑1
Der Beitrag ist auch in der Quartalsschrift Neue Ordnung (I/2018, S. 52–54) erschienen.
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*Friedrich Romig, Univ-Doz. em., ist Autor verschiedener Bücher darunter „Die Rechte der Nation “ (Leopold Stocker, 2002) und „Der Sinn der Geschichte“ (Regin, 2011), das der Historiker Ernst Nolte als „großes Buch der christlichen Geschichtsdeutung“ bezeichnete. 2013 legte der Ökonom die Schrift „ESM – Verfassungsputsch in Europa“ (Antaios) vor. Bei Katholisches.info veröffentlichte er „Consummatum est“ – Léon Bloy: Das Heil durch die Juden.
Bild: Obieg.pl/Rusk.ru (Screenshots)