Die Parabel vom Großinquisitor


Glasunow: Der Großinquisitor
Glasunow: Der Großinquisitor

Von Wolf­ram Schrems*

Anzei­ge

Das Bild von Papst Fran­zis­kus, der am 2. Okto­ber mit sorg­sam aus­ge­such­ten, somit pri­vi­le­gier­ten, „Bedürf­ti­gen und Migran­ten“ in der Haupt­kir­che von Bolo­gna schmau­ste, wur­de von den Mas­sen­me­di­en weit­hin ver­brei­tet. Der Papst sen­det als Gast­ge­ber des in einem Kir­chen­raum ver­an­stal­te­ten Ban­ketts (halal, wie man irgend­wo lesen konn­te) eine deut­li­che Bot­schaft aus.

Kirche San Petronio: Alles für das Mittagessen mit dem Papst vorbereitet
Kir­che San Petro­nio: Alles für das Mit­tag­essen mit dem Papst vorbereitet

Die­se Bot­schaft wird man auf dem Hin­ter­grund der äußerst läs­si­gen Behand­lung der Eucha­ri­stie als Prio­ri­tät des irdi­schen Bro­tes vor dem himm­li­schen bezeich­nen kön­nen, als Vor­rei­hung des Irdi­schen vor dem Himmlischen.

Gleich­zei­tig tut der Papst noch etwas ande­res, das in die­se Rich­tung geht: Er befreit die Men­schen auf bestimm­te Wei­se von ihren Sün­den. Er sagt ihnen, Gott wür­de den Gläu­bi­gen den Voll­zug der Sün­de gestat­ten, ja ihn sogar for­dern (Amo­ris lae­ti­tia, 303). Die­ser Voll­zug ist zwar nach dem Papst kein „Ide­al“, aber doch das Bestmögliche.

Somit gibt es eigent­lich kei­ne Sün­de, kein in sich Schlech­tes und zu Ver­mei­den­des, mehr.

Die Kom­bi­na­ti­on bei­der Bot­schaf­ten, näm­lich die Prio­ri­tät des Bro­tes über den Glau­ben und die Abschaf­fung der Sün­de, erin­nert an eine pro­phe­ti­sche Bot­schaft aus dem 19. Jahr­hun­dert. Die­se ist dem Titel nach weit­hin bekannt, dem Inhalt nach aber lei­der viel weni­ger. Es geht um Dosto­jew­skis Para­bel vom Groß­in­qui­si­tor im Roman Die Brü­der Karamasow.

Die Apostaten im kirchlichen Amt und der Versucher

Die Grund­aus­sa­ge der – ziem­lich skur­ri­len und schwie­rig zu inter­pre­tie­ren­den – Para­bel ist:

Der Groß­in­qui­si­tor erklärt dem im 15. Jahr­hun­dert nach Sevil­la wie­der­ge­kehr­ten Chri­stus, daß die Men­schen zu schwach für sei­ne Bot­schaft sei­en. Sie hät­ten nicht die gei­sti­ge Kraft, sich aus rei­ner Lie­be für Chri­stus zu ent­schei­den. Chri­stus wol­le die Gläu­bi­gen „stolz“ und „stark“ machen, aber nur ganz weni­ge wür­den das errei­chen. Des­halb habe der Groß­in­qui­si­tor mit sei­nen Ver­bün­de­ten die Vor­schlä­ge des „furcht­ba­ren und klu­gen Gei­stes, des Gei­stes der Selbst­ver­nich­tung und des Nicht­seins“[1]Zita­te nach der zwei­spra­chi­gen Aus­ga­be bei Reclam, Stutt­gart 2008. auf­ge­nom­men, den Chri­stus in der Wüste zurück­ge­wie­sen hatte:

„Denn in die­sen drei Fra­gen [der Ver­su­chun­gen Chri­sti] ist gleich­sam die gan­ze wei­te­re Geschich­te des Men­schen­ge­schlech­tes zu einem Gan­zen zusam­men­ge­faßt und vorhergesagt“.

Der Groß­in­qui­si­tor legt nun dar, daß man den Men­schen Brot und Spie­le bie­ten müs­se, um sie an sich zu bin­den. Zu die­sem Zweck müs­se man ihnen aber weg­neh­men, was sie besit­zen, und eine Umver­tei­lung durchführen.

Vor allem aber müs­se man den Men­schen die Erlaub­nis zur Sün­de geben, denn sie sei­en zu schwach, die Sün­de zu mei­den, und die Erlaub­nis wer­de wie­der­um das Ver­trau­en in die Macht­ha­ber, die die­se Erlaub­nis gewäh­ren, stär­ken. Man muß den Men­schen die Frei­heit weg­neh­men, um ihnen die „Frei­heit“ zur Sün­de zu geben. Denn die wah­re Frei­heit sei eine zu gro­ße Last. Sie ver­langt die Ent­schei­dung zum Guten. Die Men­schen müß­ten aber pri­mär satt sein:

„Weißt Du wohl, daß nach Ver­lauf von Jahr­hun­der­ten die Mensch­heit durch den Mund ihrer Wei­sen und Gelehr­ten ver­kün­den wird, es gebe gar kein Ver­bre­chen und folg­lich auch kei­ne Sün­de, son­dern es gebe nur Hung­ri­ge? Mache sie satt, und dann erst ver­lan­ge von ihnen Tugend! Das wer­den sie auf das Ban­ner schrei­ben, das sie gegen Dich erhe­ben werden“.

Bert Brecht soll­te es im 20. Jahr­hun­dert so for­mu­lie­ren: „Erst kommt das Fres­sen, dann kommt die Moral“ (Die Drei­gro­schen­oper).

Wenn man auf die Leh­re von Papst Fran­zis­kus und sein Ver­hal­ten blickt: Ist nicht genau das zum Pro­gramm gemacht wor­den? Aus „Barm­her­zig­keit“ und „Men­schen­freund­lich­keit“ des Pap­stes, der die „Rigi­den“ angreift?

Schließ­lich gibt es auch das mensch­heit­li­che Bedürf­nis nach Frie­den und Eini­gung. Was der Turm­bau zu Babel noch nicht geschafft habe, wol­le der Groß­in­qui­si­tor mit sei­nen Ver­bün­de­ten vollenden:

„[Denn] das Bedürf­nis einer die gan­ze Welt umfas­sen­den Ver­ei­ni­gung ist die drit­te und letz­te Qual der Men­schen. Immer hat die Mensch­heit in ihrer Gesamt­heit danach gestrebt, sich unter allen Umstän­den uni­ver­sell zu gestalten“.

Papst Fran­zis­kus hat bekannt­lich eine star­ke Schlag­sei­te zur inter­na­tio­na­len Macht, zu den Prot­ago­ni­sten einer „Neu­en Welt­ord­nung“, und eine gro­ße Aver­si­on gegen patrio­ti­sche Staatsmänner.

Am Schluß schickt der Groß­in­qui­si­tor Chri­stus fort und sagt Ihm, Er möge nie wie­der kom­men und stören.

Soweit die Para­bel. Da es Ivan Kara­ma­sow ist, der die­se Para­bel sei­nem jün­ge­ren Bru­der Aljoscha vor­trägt, ist es nicht ganz klar, wie Dosto­jew­ski selbst zu ihr steht. Denn Ivan ist kla­rer­wei­se weder die Haupt­fi­gur des Romans noch eine mora­li­sche Auto­ri­tät. Die Para­bel ist auch ver­wor­ren und stellt den Glau­ben der Kir­che falsch dar.

Wie dem auch sei: Dosto­jew­ski erkann­te offen­bar etwas, das ihn beun­ru­hig­te. Er hat die Mecha­nis­men des tota­len Staa­tes, der sich an kei­ner­lei Wahr­heit gebun­den fühlt und eine her­me­tisch zur Wahr­heit hin abge­schlos­se­ne Dik­ta­tur, even­tu­ell in reli­giö­sem Gewand, errich­ten will, vor­aus­ge­se­hen. Etwa sieb­zig Jah­re vor Geor­ge Orwell pro­phe­zei­te Dosto­jew­ski den tota­len Sozi­al­staat, der sich von den Gebo­ten Got­tes abkop­pelt, die Frei­heit abschafft und sich als Alp­traum erweist.

Dabei wer­den christ­li­che Ver­satz­stücke ver­wen­det, viel­leicht sind sogar apo­sta­sier­te Kir­chen­män­ner involviert.

Der totale Sozialstaat und die unbemerkte Unfreiheit

Der Kom­mu­nis­mus ver­wirk­lich­te zunächst das, was Dosto­jew­ski vor­aus­sah: Die Ent­eig­nung, die Umver­tei­lung, die All­zu­stän­dig­keit des Staa­tes, die (zeit­wei­li­ge) Erlaub­nis zur Sün­de im pri­va­ten Bereich (unkom­pli­zier­te Schei­dung, Wie­der­hei­rat, Abtreibung).

Im Gefol­ge der Eta­blie­rung des Kul­tur­mar­xis­mus im Westen („Irr­tü­mer Ruß­lands“) geht die­se Stra­te­gie wei­ter: Hohe Steu­ern, Umver­tei­lung, Staats­ein­grif­fe, sexu­el­le Revo­lu­ti­on, „freie Liebe“.

Was dabei ver­lo­ren­geht, ist die inne­re Frei­heit. Aber die wenig­sten schei­nen es zu bemer­ken. Zu tief stecken sie im System. Vom Gewis­sen wer­den sie zwar ab und zu belä­stigt, der Staat hilft ihnen aber bei der „Flucht vor Gott“ (nach dem pro­phe­ti­schen Buch von Max Picard, 1934).

Auf­grund einer erfolg­rei­chen Sub­ver­si­ons­po­li­tik sind die­se Wahn­ideen auch in die Kir­che ein­ge­drun­gen. Das liegt zwar schon eini­ge Jahr­zehn­te zurück, ist aber durch die Poli­tik des der­zei­ti­gen Pon­ti­fex nun­mehr voll­stän­dig in das Licht der Öffent­lich­keit gelangt.

Der Wunsch nach dem tota­len Sozi­al­staat bei gleich­zei­ti­ger Abschaf­fung oder wei­test­ge­hen­den Zurück­drän­gung des Pri­vat­ei­gen­tums bei­spiels­wei­se ist inner­kirch­lich schon län­ger vor­han­den. Dafür pro­pa­giert man in einem bestimm­ten Seg­ment des deutsch­spra­chi­gen Katho­li­zis­mus ein „bedin­gungs­lo­ses Grundeinkommen“.

Ist es nicht so, daß in Orwells uto­pi­schem Staat ein gro­ßer Teil der Bevöl­ke­rung nicht arbei­tet und von der arbei­ten­den Bevöl­ke­rung erhal­ten wird?

Übri­gens gibt es noch ein arbeits­lo­ses Grund­ein­kom­men, das unsitt­lich ist, näm­lich den Wucher, das Leben von Zin­sen. Denn das bedeu­tet, ande­re für sich arbei­ten zu lassen.

Eine Ver­ur­tei­lung die­ser Ein­kom­mens­quel­len durch den gegen­wär­ti­gen Papst ist nicht erinnerlich.

Dafür ist etwas ande­res erin­ner­lich: Papst Fran­zis­kus gab, wie schon oben fest­ge­hal­ten, in Amo­ris lae­ti­tia 303 eine Erlaub­nis zur Sün­de. Nun ist die Häre­sie der Leug­nung des intrin­se­ce malum, des in sich schlech­ten und immer zu ver­mei­den­den Aktes, auch im Papst­tum ange­kom­men. Jahr­zehn­te­lang war das – als Wider­spruch gegen Hum­a­nae vitae (1968) und gegen Veri­ta­tis sple­ndor (1993) – in der aka­de­mi­schen Theo­lo­gie vor­be­rei­tet wor­den, wobei nicht zuletzt die Jesui­ten Vor­ar­beit leisteten.

Ein Jesu­it als Papst bringt das nun in ein – wie gut oder schlecht auch immer defi­nier­tes – Lehr­amt. Er erlaubt den Men­schen die Sün­de, zumin­dest im Klei­nen, im ver­meint­lich Pri­va­ten. Er bleibt in die­sem Fall beim Ehe­bruch ste­hen. Er erlaubt kei­nen Völ­ker­mord, kei­ne Errich­tung von Ver­nich­tungs­la­gern, kei­nen Atom­krieg. Josef Sei­fert wies aber dar­auf hin, daß, wenn eine in sich schlech­te Hand­lung erlaubt ist, es kei­nen Grund gibt, nicht auch alles ande­re zu erlauben.

Der Kampf von Papst Franziskus gegen den „Pelagianismus“ – ein schlimmer Verdacht

In die­sem Zusam­men­hang bekommt plötz­lich die wie­der­hol­te War­nung des Pap­stes vor dem „Pela­gia­nis­mus“ eine ganz neue Bedeu­tung. Man hat­te immer den Ein­druck, Papst Fran­zis­kus sei zu unge­bil­det, um die­sen Aus­druck rich­tig zu gebrau­chen. Auf dem Hin­ter­grund von Amo­ris lae­ti­tia und den ande­ren päpst­li­chen Doku­men­ten stellt sich jedoch ein viel schlim­me­rer Ver­dacht ein: Woll­te der Papst den Gläu­bi­gen etwa sagen, sie könn­ten ohne­hin nicht nach den Gebo­ten Got­tes leben, also soll­ten sie es gleich gar nicht versuchen?

Mit ande­ren Wor­ten: Ging es ihm dar­um, die Ent­schluß­kraft der Gläu­bi­gen zum Guten mit dem Hin­weis auf die Irr­leh­re des Pela­gi­us („  um 418) zu unter­mi­nie­ren? Des­sen Leh­re wird meist so wie­der­ge­ge­ben, daß der Mensch ohne Gna­de Got­tes das Ewi­ge Leben errei­chen kön­ne. Das ist falsch. Aber des­we­gen ist das Gegen­teil noch lan­ge nicht rich­tig, wonach der Mensch nichts zu sei­nem Heil bei­tra­gen müs­se bzw. könne.

Gera­de der Ordens­va­ter des Pap­stes, der hl. Igna­ti­us, mahnt im Exer­zi­ti­en­buch, nicht gewohn­heits­mä­ßig und mit Vor­sicht die Fra­gen von Gna­de und Prä­de­sti­na­ti­on anzu­schnei­den. Denn die Beru­fung auf die Gna­de kann die eige­ne Anstren­gung läh­men und den Fata­lis­mus begün­sti­gen. Und wer sich nicht mehr anstrengt, ver­fällt. Damit tre­ten Über­druß und Ver­lust der Selbst­ach­tung ein. Ein gesun­des christ­li­ches Selbst­be­wußt­sein ist jedoch für die Lebens­ge­stal­tung von gro­ßer Wichtigkeit.

Es wider­steht auch eher dem Druck der Welt und des tota­len Staates.

Was den sozia­li­stisch ori­en­tier­ten Sozi­al­staat betrifft, so hat Fran­zis­kus – wie so oft – nichts kon­kre­tes vor­ge­legt. Aber sei­ne Ver­traut­heit mit kom­mu­ni­sti­schen Füh­rern und Ideo­lo­gen läßt eine star­ke Inkli­na­ti­on in die­se Rich­tung erkennen.

Resümee

So oder anders: Dosto­jew­ski sprach von einem Abfall der römi­schen Kir­che, der – in ihrem mensch­li­chen Ele­ment – mitt­ler­wei­le zwei­fels­frei ein­ge­tre­ten ist: Ein Papst geriert sich als welt­li­cher Heils­brin­ger, Brot, Spie­le und die Befrei­ung vom schlech­ten Gewis­sen inklu­si­ve. Das Schmau­sen in der Kir­che San Petro­nio stellt das grell dar.

Was genau sei­ne Absich­ten und sein Gewis­sens­zu­stand sind, kann man nicht sagen. Die Cor­rec­tio filia­lis ent­hält sich hier auch jeder Aussage.

Aber wie auch immer: Die Ana­lo­gie zum Groß­in­qui­si­tor ist beklemmend.

Daß die­se im 100. Jahr nach Fati­ma so deut­lich wird, ist bezeich­nend. Höchst­wahr­schein­lich erfüllt sich hier der­je­ni­ge Teil des Drit­ten Geheim­nis­ses, über den ange­sichts der vati­ka­ni­schen Ver­tu­schungs­stra­te­gie der letz­ten Jahr­zehn­te noch immer nur spe­ku­liert wer­den kann.

*Wolf­ram Schrems, Wien, Mag. theol., Mag. phil., Kate­chist, Unter­zeich­ner der Cor­rec­tio filialis

Bild: fed​ord​ost​oevsky​.ru (Screenshots)/MiL

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1 Zita­te nach der zwei­spra­chi­gen Aus­ga­be bei Reclam, Stutt­gart 2008.
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