Gelebtes Christentum – Das Gegenmittel zur nachkonziliaren Mentalität


Statue des Erzengels Michael in der Kartause Serra San Bruno, in der Dom François de Sales Pollien 1936 gestorben ist.
Statue des Erzengels Michael in der Kartause Serra San Bruno, in der Dom François de Sales Pollien 1936 gestorben ist.

von Rober­to de Mattei*

Anzei­ge

Man kann sich nicht vom histo­ri­schen Kon­text iso­lie­ren, in dem man lebt, und noch weni­ger gegen die eige­ne Zeit ankämp­fen. Man müs­se sich an die Situa­tio­nen anpas­sen, „aggiorn­ar­si“. Das ist der Refrain, der in der katho­li­schen Welt seit den Zei­ten des Zwei­ten Vati­ka­ni­schen Kon­zils in Umlauf ist.

Das nach­syn­oda­le Schrei­ben Amo­ris lae­ti­tia ist die reif­ste Frucht die­ser Men­ta­li­tät, die das ewig­gül­ti­ge Gesetz des Evan­ge­li­ums dem ver­än­der­li­chen „Dia­log“ mit der Welt unter­ord­net. Hin­ter die­ser Art zu den­ken, steht eine imma­nen­te Welt­sicht, die die unver­än­der­li­che Ord­nung der meta­phy­si­schen und mora­li­schen Prin­zi­pi­en durch den Pri­mat des Wer­den­den ersetzt, indem die sub­jek­ti­ve Erfah­rung des Men­schen zum ein­zi­gen Kri­te­ri­um der Wirk­lich­keit erho­ben wird.

Die Pra­xis ersetzt den Logos. Es sind nicht die Grund­sät­ze, die über das Leben des Men­schen urtei­len. Es ist die kon­kre­te Lebens­er­fah­rung, die über die Wahr­heit der Grund­sät­ze urteilt. Die Fol­gen sind ver­hee­rend: vor­ehe­li­cher Geschlechts­ver­kehr, Schei­dung, Abtrei­bung, Homo­se­xua­li­tät kön­nen, da Teil der Lebens­er­fah­rung, nicht auf abso­lu­te Wei­se ver­ur­teilt wer­den. Die Stra­ße der mora­li­schen Auf­lö­sung ist offen.

"Gelebtes Christentum" von Dom Pollien
„Geleb­tes Chri­sten­tum“ von Dom Pollien

Ein Gegen­mit­tel zu die­ser defor­mier­ten Sicht des christ­li­chen Lebens bie­tet die Lek­tü­re des Mei­ster­wer­kes von Dom Fran­çois de Sales Pol­li­en „Cri­stia­ne­si­mo vissuto“ (Geleb­tes Chri­sten­tum), das soeben in Ita­li­en im Ver­lag Fidu­cia neu auf­ge­legt wurde.

Dom Pol­li­en war ein Kar­täu­ser­mönch, der am 1. August 1853 in Che­ve­noz in Hoch­sa­voy­en gebo­ren wur­de und am 12. Febru­ar 1936 in der Kar­tau­se von Ser­ra San Bru­no in Kala­bri­en gestor­ben ist. Als er in der Gro­ßen Kar­tau­se bei Gre­no­ble die Gelüb­de ableg­te, nahm er den Namen von Franz von Sales an, eines gro­ßen geist­li­chen Mei­sters, des­sen Leh­re, zusam­men mit jener eines ande­ren her­aus­ra­gen­den Savoy­ers, Joseph de Maist­re, sein Den­ken form­te. Dom Pol­li­en übte zahl­rei­che wich­ti­ge Ämter in sei­nem Orden aus, den­noch ver­brach­te er – wie alle Kar­täu­ser – sein Leben in der Stil­le, der Ein­sam­keit, des Stu­di­ums und des Gebets. Er war Autor zahl­rei­cher Schrif­ten, dar­un­ter das sehr bekann­te Werk „La vie inté­ri­eu­re sim­pli­fi­ée et ramenée à son fon­de­ment“, das 1894 bei Dehom­me in Paris unter dem Namen Joseph Tis­sot ver­öf­fent­licht wur­de. Das Buch erleb­te zwi­schen 1894 und 1933 18. Auf­la­gen. In deut­scher Über­set­zung erschien es 1904 unter dem Titel „Das inner­li­che Leben muß ver­ein­facht und wie­der auf sei­ne Grund­la­ge zurück­ge­führt wer­den“ bei Manz in Regens­burg. Bis 1933 erleb­te auch die deut­sche Aus­ga­be acht Auflagen.

Weni­ger bekannt, aber von nicht weni­ger Bedeu­tung ist sein Werk „Cri­stia­ne­si­mo vissuto. Con­sig­li fon­da­men­ta­li dedi­ca­ti alle ani­me serie“ (Geleb­tes Chri­sten­tum. Grund­le­gen­de Rat­schlä­ge für ern­ste See­len), das 1904 in Ita­li­en mit einem Vor­wort des Wirt­schafts­wis­sen­schaft­lers Giu­sep­pe Tonio­lo ver­öf­fent­licht wur­de. [1] Die­ses kur­ze geist­li­che Trak­tat ver­dient es, der Schrift „L’âme de tout apo­sto­lat“ (1907), dt. Über­set­zung unter dem Titel „Inner­lich­keit. Die See­le allen Apo­sto­lats[2] des Trap­pi­sten­ab­tes Dom Jean-Bap­ti­ste-Gust­ave Chau­t­ard zur Sei­te gestellt zu wer­den wegen des Pri­mats, den er dem inne­ren Leben als Fun­da­ment des christ­li­chen Lebens zuschreibt.

Dom Pollien: "Das innerliche Leben"
Dom Pol­li­en: „Das inner­li­che Leben“

Dom Pol­li­en will die Chri­sten for­men, die tap­fe­ren Her­zens und mit abso­lu­ter Stand­haf­tig­keit in den Grund­sät­zen in das Leben ihrer Zeit ein­tau­chen. Das Leben der Pflan­zen wie auch das der Men­schen, erklärt er, folgt einem vita­len Prin­zip. Um aber das Leben vor­an­zu­brin­gen und zu ent­fal­ten, muß das Prin­zip sei­nen Geset­zen fol­gen. Die­se Geset­ze sind, anders als bei den Pflan­zen, für die Tie­re und die Men­schen fest­ste­hend. Wer sie miß­ach­tet, und nur die Men­schen kön­nen ent­schei­den, dies zu tun, ist zur Selbst­zer­stö­rung verurteilt.

Die Men­schen haben ein natür­li­ches Leben: die Ein­heit der See­le mit dem Kör­per. Sie sind aber bestimmt zu einem über­na­tür­li­chen Leben: der Ein­heit der See­le mit Gott.

Die Ver­herr­li­chung Got­tes ist Ziel und Seins­zweck des Men­schen, der allein durch Aus­rich­tung auf die­ses Ziel sein wah­res Glück fin­det. Es geht daher dar­um, Gott im Leben der Men­schen und der Völ­ker immer den ersten Platz ein­zu­räu­men. Wenn Gott aus den Ideen und den Sit­ten aus­ge­schlos­sen wird, ist die Ord­nung der Din­ge umge­stürzt, und die Gesell­schaft ver­sinkt im Cha­os. Die Men­schen brau­chen daher die Grund­sät­ze und das Moral­ge­setz, um ihr Ver­hal­ten aus­zu­rich­ten. Die Grund­sät­ze sind nicht abstrakt. Nichts geschieht ohne sie.

„Man sagt: Es feh­len die Men­schen. Ich glau­be das nicht. Es feh­len die Grund­sät­ze, des­halb for­men sich auch kei­ne Chri­sten mehr.“ „Grund­sät­ze, Grund­sät­ze!“ (S. 157).

Die Festig­keit in den Grund­sät­zen bedeu­tet nicht Här­te in der Art, wie die Grund­sät­ze ver­tei­digt werden.

„Die Grund­sät­ze eig­nen sich nicht für Anpas­sun­gen: Sie sind, oder sie sind nicht. Wenn es hin­ge­gen um die anzu­wen­den­den Mit­tel geht, kannst und sollst du ent­ge­gen­kom­mend sein. Die Pra­xis kann sich an alle Situa­tio­nen anpas­sen und sich allem bedie­nen. Ent­schlos­sen­heit in den Grund­sät­zen, Sanft­heit in den Mitteln.“

Nur auf den Grund­sät­zen läßt sich das Leben der Men­schen und der Völ­ker bau­en, weil ein Mensch, aber auch die Gesell­schaft, soviel gilt wie die Ideen, die er bekennt. Heu­te, schreibt Dom Pol­li­en, muß die christ­li­che Gesell­schaft neu auf­ge­rich­tet wer­den, und um sie neu auf­zu­rich­ten, sind an erster Stel­le ihre Ideen zurechtzubiegen.

„Die Idee macht den Men­schen. Heu­te gibt es kei­ne Men­schen mehr, weil es kei­ne Ideen mehr gibt. Es gibt nur mehr Wor­te. Willst du ein Mensch sein? Dann ver­laß die Wor­te und hab Ideen, das heißt, tief­ge­hen­de Sicht­wei­sen zu den Din­gen. Und um tief­ge­hen­de Sicht­wei­sen zu den Din­gen zu haben, muß man sie als das sehen, als das sie Gott geschaf­fen hat und als die sie Gott führt. Und um sie so zu sehen, ist es not­wen­dig, daß du dich in die Blick­rich­tung stellst, in der Gott dich haben will. Wenn du dich an einem fal­schen Punkt befin­dest, siehst du auch falsch. Daher: zuerst Gott und dann du“ (S. 47).

Die neue, nach­kon­zi­lia­re Moral ver­schiebt den Akzent von Gott zum Men­schen, behaup­tet, daß das Gebot des Evan­ge­li­ums undurch­führ­bar sei und schafft einen Bruch zwi­schen der Wahr­heit und dem christ­li­chen Leben. Dom Pol­li­en lädt die Chri­sten ein, die­sen Bruch zu über­win­den, indem sie die christ­li­chen Grund­sät­ze in ihrer Ganz­heit leben. Auf der­sel­ben Linie äußer­te sich Pius XII., als er sich am 23. Mai 1952 an die deut­sche Jugend wandte:

„Die Tren­nung von Reli­gi­on und Leben, als ob für die Wirk­lich­keit des Daseins, für den Beruf, die Wirt­schaft, alle die öffent­li­chen Berei­che Gott über­haupt nicht exi­stier­te, die­se Tren­nung ist ja gera­de eines der Zei­chen für den Ver­fall der christ­li­chen Kul­tur; sie ist eben­so Ursa­che wie Wir­kung der Ver­welt­li­chung des gesam­ten Menschen.“

Am 6. Janu­ar 1945 an den fran­zö­si­schen Epi­sko­pat gerich­tet, äußer­te der­sel­be Papst die Hoff­nung auf das Auf­tre­ten „einer gro­ßen Schar von Men­schen, fest in den Grund­sät­zen, bestens unter­wie­sen in der Leh­re der Kir­che, die sich hin­ge­ben, den wah­ren christ­li­chen Geist in den sozia­len, wirt­schaft­li­chen und recht­li­chen Bereich hin­ein­zu­tra­gen und durch ihr staats­bür­ger­li­ches und poli­ti­sches Han­deln die Wah­rung der reli­giö­sen Inter­es­sen sicherzustellen“.

In sei­ner Rede vom 21. Janu­ar 1945 an die Maria­ni­schen Kon­gre­ga­tio­nen von Rom bekräf­tig­te Pius XII.:

„Die gegen­wär­ti­ge Zeit braucht daher Katho­li­ken […], die mit festem Blick auf das Ide­al der christ­li­chen Tugend, der Rein­heit und der Hei­lig­keit, sich der Opfer bewußt, die die­se for­dern, die­sem Ide­al mit ihren gan­zen Kräf­ten im täg­li­chen Leben zustre­ben, immer gera­de, immer auf­recht, ohne daß die Ver­su­chun­gen und Ver­füh­run­gen sie bie­gen. Daher, mei­ne gelieb­ten Söh­ne und Töch­ter, ein Hel­den­tum, häu­fig ver­bor­gen, aber des­halb nicht weni­ger kost­bar und bewun­derns­wert als das blu­ti­ge Mar­ty­ri­um. Die gegen­wär­ti­ge Zeit braucht Katho­li­ken ohne Furcht, für die das offe­ne Beken­nen ihres Glau­bens in Wor­ten und Taten etwas ganz Natür­li­ches ist, wann immer das Gött­li­che Gesetz und die christ­li­che Ehre es ver­lan­gen. Wah­re Men­schen, inte­gre, stand­fe­ste und uner­schrocke­ne Men­schen! Jene, die das nicht sind, wer­den von der heu­ti­gen Welt ver­wor­fen, abge­lehnt und getreten.“

Dom Pol­li­en hat­te geschrieben:

„Gott und die Kir­che ver­lan­gen nach Ver­tei­di­gern, aber nach wirk­li­chen Ver­tei­di­gern, sol­che, die kei­nen Schritt zurück­wei­chen, sol­che, die treu sind bis zur Hin­ga­be, bis zum Tod, sol­che, die sich an der gan­zen Stren­ge der Dis­zi­plin üben, um für alle Hel­den­ta­ten des Kamp­fes bereit zu sein“ (S. 162).

Das Echo die­ser Wor­te klingt noch in den Her­zen. Die Jugend des 21. Jahr­hun­derts kann sich nicht von den Auf­for­de­run­gen unse­rer Kir­chen­füh­rer zum Kom­pro­miß mit der Welt ange­zo­gen füh­len. Sie for­dert von der Kir­che einen Auf­ruf zum Hel­den­tum. Geleb­tes Chri­sten­tum bedeu­tet strei­ten­des Chri­sten­tum. Wenn ein Christ mit der Hil­fe der Gna­de sein Leben an den Grund­sät­zen des Evan­ge­li­ums aus­rich­tet und kämpft, um die­se Wahr­heit zu ver­tei­di­gen, kann ihn kein Hin­der­nis aufhalten.

*Rober­to de Mat­tei, Histo­ri­ker, Vater von fünf Kin­dern, Pro­fes­sor für Neue­re Geschich­te und Geschich­te des Chri­sten­tums an der Euro­päi­schen Uni­ver­si­tät Rom, Vor­sit­zen­der der Stif­tung Lepan­to, Autor zahl­rei­cher Bücher, zuletzt in deut­scher Über­set­zung: Ver­tei­di­gung der Tra­di­ti­on: Die unüber­wind­ba­re Wahr­heit Chri­sti, mit einem Vor­wort von Mar­tin Mose­bach, Alt­öt­ting 2017.

Bild: Wikicommons/​Correspondenza Romana

 


[1] Eine deut­sche Über­set­zung ist nicht bekannt.

[2] Die deut­sche Aus­ga­be erleb­te zunächst unter dem Titel „Inner­lich­keit. Die See­le jeder kari­ta­ti­ven Tätig­keit“ vor 1933 min­de­stens vier Auf­la­gen, die im Ver­lag des Zister­zi­en­ser­klo­sters Schlier­bach erschie­nen sind. 1951 erfolg­te bei Räber eine Neu­aus­ga­be, die in jüng­ster Zeit und mit dem obge­nann­ten Titel als Nach­druck im Sar­to-Ver­lag neu auf­ge­legt wurde. 

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1 Kommentar

  1. Die fort­ge­schrit­te­ne neg. Rela­ti­vie­rung der christl. Leh­re ist bereits weit fortgeschritten.
    Obwohl wir zu Gott beten: „Dein Wil­le gesche­he…“, wird nach­kon­zil­li­ar mehr und mehr sug­ge­riert, dass der Wil­le Got­tes an die sog. moder­ne Zeit ange­passt wer­den könnte.
    -
    Das ist nur noch schwer rück­gän­gig zu machen, zumal die aktu­ell päpst­li­che Sicht kei­ner­lei Ein­sicht dies­be­züg­lich erken­nen lässt. Nur indem unser christl. Gewis­sen bezeugt, dass wir die­sen rela­ti­vie­ren­den Weg nicht mit­ge­hen dür­fen, kön­nen wir noch umkeh­ren und lang­fri­stig bewir­ken, dass wir selbst den Weg gehen, der den Wil­len Got­tes als abso­lut aner­kennt, damit wir uns nicht mit­schul­dig machen.

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