Die „Broeders van Liefde“ aus Belgien: der caritative Hauptorden Belgiens (2)


Die sieben Werke der Barmherzigkeit

Der katho­li­sche Hos­pi­tal­or­den Broe­ders van Lief­de (Brü­der der Lie­be) sorgt in der katho­li­sche Kir­che für hef­ti­ge Dis­kus­sio­nen, weil der bel­gi­sche Zweig des Ordens Ende April bekannt­gab, in sei­nen Kran­ken­häu­sern und Betreu­ungs­ein­rich­tun­gen die Eutha­na­sie ein­zu­füh­ren. Nach dem ersten Teil, der sich mit der Ent­wick­lung des Ordens von der cari­ta­ti­ven Kon­gre­ga­ti­on zum Sozi­al­kon­zern befass­te, nun der zwei­te Teil.

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Von Fer­di­nand Boischot

Gust­ave Wap­pers, Sze­ne aus den Sep­tem­ber­ta­gen von 1830

Die Unab­hän­gig­keit Bel­gi­ens (1830) ging mit fast vier Jahr­zehn­ten wirt­schaft­li­chem Rück­gang und Ver­ar­mung der Bevöl­ke­rung im Nor­den einher.

Eine lan­ge Rei­he von Miß­ern­ten und Wet­ter­ka­ta­stro­phen, die hohen Zöl­le für die Pas­sa­ge durch die auf nie­der­län­di­schem Ter­ri­to­ri­um lie­gen­de Schel­de­mün­dung mit Nie­der­gang der Hafen­stadt Ant­wer­pen, eine auf die Inter­es­sen der süd­bel­gi­schen Koh­le- und Stahl­in­du­strie zuge­schnit­te­ne Frei­han­dels­po­li­tik mit fata­len Fol­gen für die Bau­ern im Nor­den, die Blocka­de der nörd­li­chen Gren­ze mit den Nie­der­lan­den, die indu­stri­el­le Revo­lu­ti­on (Tex­til) mit Bil­dung eines Indu­strie­pro­le­ta­ri­ats und nicht zuletzt die Ein­füh­rung des Fran­zö­si­schen als ein­zi­ger Lan­des­spra­che, wo die Mehr­heit der Bevöl­ke­rung flä­mi­sche Dia­lek­te sprach, und weit­ge­hen­de Ver­nach­läs­si­gung des auch mini­mal­sten Schul­un­ter­richts führ­ten zu einem gewal­ti­gen wirt­schaft­li­chen und gei­sti­gen Nie­der­gang der flä­mi­schen Bevölkerung.

Das ein­zi­ge struk­tu­rie­ren­de Ele­ment, das den Men­schen dort übrig­blieb, war der katho­li­sche Glau­ben und, damit zusam­men­hän­gend, der nie­de­re Klerus.

Par­al­lel fand eine star­ke Zunah­me der Bevöl­ke­rung statt.

In die­ser Gesamt­la­ge fan­den die Broe­ders van Lief­de ein für ihren Orden her­vor­ra­gend geeig­ne­tes und wei­tes Arbeitsfeld:
Sor­ge für arme Män­ner, für Blin­de, Tau­be, gei­stig Behin­der­te, psy­chisch Kran­ke, Gefan­ge­ne, Schul­bil­dung für die unte­re Schichten:
die Kon­gre­ga­ti­on der Broe­ders van Lief­de lie­fer­te für vie­le Gemein­den und Städ­te die Sozi­al­be­treu­ung aus einer Hand.

Typisch für die­se Kon­gre­ga­ti­on war ihre eng­ma­schi­ge Ver­bin­dung mit den staat­li­chen Behör­den jeg­li­cher Cou­leur (so übri­gens schon im frü­he­sten Anfang mit der fran­zö­sisch-revo­lu­tio­nä­ren Obrig­keit, mit dem Regime Napo­le­ons und in dem König­reich der Nie­der­lan­den), und spä­ter dann beson­ders stark im König­reich Belgien.
Dies führ­te dann zu einer einer­seits gewal­ti­gen Ent­wick­lung mit sehr vie­len Nie­der­las­sun­gen und Häu­sern, zu ins­ge­samt gewal­ti­gen Geld­strö­men (und bei Schwie­rig­kei­ten und Que­re­len mit Gemein­de­ver­wal­tun­gen zu vor­über­ge­hend erdrücken­den finan­zi­el­len Pro­ble­men durch gro­ße Dar­le­hen) und zu sehr wenig Inter­es­se für die lang­sam ent­ste­hen­de Flä­mi­sche Bewe­gung bzw. für die Selbst­hil­fe der Bevölkerung.

Um 1865 kommt es über­all in Euro­pa zu tie­fen Aus­ein­an­der­set­zun­gen zwi­schen frei­mau­re­risch inspi­rier­ten Libe­ra­len und spä­ter auch Sozia­li­sten einer­seits und katho­li­schen Kon­ser­va­ti­ven anderseits.

Auch in Bel­gi­en kommt es zu rabia­ten Dis­pu­ten; es ent­wickelt sich eine aus­ge­präg­te sog. „Ver­säu­lung“ der Gesell­schaft auf lebens­an­schau­li­cher Grund­la­ge: jede Lebens­an­schau­ung hat­te ihre eige­ne poli­ti­sche Par­tei, ihre Bank, ihre Knei­pen, ihre Kran­ken­kas­se, ihre Lob­bys, ihre Feste, ihre Chö­re und Musikvereine.
Das Leben eines Men­schen spiel­te sich in die­sem reser­vier­ten Sek­tor ab; die Anstel­lun­gen bei den Staats­be­hör­den und halb­staat­li­chen Ein­rich­tun­gen wur­den fast kom­plett nach Reli­gi­ons-/Par­tei­zu­ge­hö­rig­keit vergeben.

Bis zum Ende des 20. Jhdt. wird die­ses System die bel­gi­sche Poli­tik und das Staats­we­sen dominieren.

Die­se gesell­schaft­li­che Eigen­heit kam der Kon­gre­ga­ti­on der Broe­ders van Lief­de sehr entgegen.
Als wich­ti­ger Teil der Sozi­al­für­sor­ge, teils mit Mono­pol­cha­rak­ter, hob sie das Anse­hen der Katho­li­ken, sorg­te und dis­zi­pli­nier­te nach innen, expan­dier­te nach außen, wuchs kon­ti­nu­ier­lich und hat­te durch ihre Schu­len einen wich­ti­gen Ein­fluß auf die Jugend und durch ihre Ein­rich­tun­gen auf die brei­te Mas­se der Bevölkerung.
Inter­es­sant bei dem letz­ten Punkt: die Kon­gre­ga­ti­on rich­te­te ab 1871 soge­nann­te Juve­na­te ein, den Hei­men und Ein­rich­tun­gen ver­bun­de­ne gei­sti­ge Bil­dungs­in­sti­tu­te und wei­ter­bil­den­de Schu­len, wo Jüng­lin­ge ab dem 14. Jahr ein­tre­ten konn­ten, aus­ge­bil­det wur­den und, ein­mal erwach­sen, in die Kon­gre­ga­ti­on ein­tre­ten konnten.
Etwa drei­ßig Pro­zent der Juve­ni­sten tra­ten in die Kon­gre­ga­ti­on ein.

Unter nur weni­gen und teils lang amtie­ren­den Gene­ral­obe­ren wur­de die­se Kon­gre­ga­ti­on rasch sta­bil und wuchs:
1832 („  Simon Ber­nar­dus DeNoter): 3 Häu­ser, 11 Brüder
1842 (Aloy­si­us Bour­go­is (1796–1874), Gene­ral­obe­rer 1832–1862, 1865–1871): 13 Häu­ser, 1857 188 Brüder
1876 („  Nico­laus Ver­cau­te­ren): 17 Häu­ser (davon 1 in Mon­tré­al und 1 in Bos­ton) und 277 Brü­der; Sor­ge für 1600 Senio­ren und Gei­stes­kran­ke, Unter­richt und teils Heim­un­ter­brin­gung für 3500 Kin­der, vie­le davon seh- und hörbehindert.
1888 (Ame­de­us Stock­mans, 1844–1922): wird nach län­ge­ren Schwie­rig­kei­ten mit dem Bischof von Gent die Kon­gre­ga­ti­on der Broe­ders van Lief­de als Kon­gre­ga­ti­on des päpst­li­chen Rechts anerkannt.

Die 7 Wer­ke der Barm­her­zig­keit, alt­nie­der­län­di­sche Schule

Bei den innen­po­li­ti­schen Pro­ble­men in Bel­gi­en und der zuneh­men­den Pola­ri­sie­rung und „Ver­säu­lung“ der Gesell­schaft bekommt der Orden eine stets wich­ti­ge­re Rol­le in der katho­li­schen „Säu­le“.
Der Erste Welt­krieg setz­te dem Orden, wie dem fast ganz besetz­ten Bel­gi­en, sehr schwer zu.

Unter File­mon S’pa­pen (1863–1945) nimmt die Anzahl der Broe­ders um fast ein Drit­tel zu und es ver­dop­peln sich die Akti­vi­tä­ten (10 neue Häu­ser in Bel­gi­en, 25 neue Häu­ser im Ausland).

Beim Nach­for­schen fällt auf, daß gera­de in der Peri­ode des Inter­bel­l­ums, wo die Flä­mi­sche Bewe­gung sehr aktiv wur­de und gera­de Orden wie die Jesui­ten, Domi­ni­ka­ner und Bene­dik­ti­ner die flä­mi­schen Katho­li­ken führ­ten und bil­de­ten, die Broe­ders van Lief­de auf die­sem Gebiet nicht in Erschei­nung tre­ten (dies übri­gens in Gegen­satz zu ihrem weib­li­chen Pen­dant, die „Schwe­ster der Lie­be“, mit u.A. dem berühm­ten Mäd­chen­ly­ce­um Regi­na Cae­li in Dilbeek).

Sie tre­ten auch nicht bei den teils sehr pro­gres­si­ven Dis­kus­sio­nen und Gesprä­chen an der Fakul­tät Got­tes­ge­lehrt­heit der Katho­li­schen Uni­ver­si­tät Lou­vain auf (Don­dey­ne, Sue­n­ens, Philips).
Die Zahl der Ordens­an­ge­hö­ri­gen erreicht in die­ser Peri­ode ihren Höhepunkt.

Der Zwei­te Welt­krieg setzt dem poli­tisch bel­gi­zi­stisch ori­en­tier­ten Orden erneut zu.

Bei der schwe­ren Repres­si­on nach dem Zwei­ten Welt­krieg, die sehr rasch einen anti­flä­mi­schen und auch aus­ge­spro­chen anti­ka­tho­li­schen Cha­rak­ter bekam (und meh­re­re Orden, beson­ders die Jesui­ten, drang­sa­lier­te), hiel­ten sich die Broe­ders van Lief­de kom­plett zurück und beschäf­tig­ten sich, enger ver­knüpft mit der bel­gi­schen Poli­tik bzw. den Christ­de­mo­kra­ten wie je zuvor, mit ihren kari­ta­ti­ven Werken.

Die bio­gra­phi­sche Skiz­ze auf Wiki­pe­dia von War­ner Ludo­vicus De Beuckel­aer (1899–1984) (Gene­ral­obe­re 1945–1958) schreibt hier sehr illu­stra­tiv: „Die Anzahl der Brü­der blieb kon­stant“ (was an sich schon bemer­kens­wert ist, ging doch ab 1955 die Zahl der Beru­fun­gen bei den gro­ßen Orden in Bel­gi­en und beim Diö­ze­san­kle­rus rapi­de zurück). Zugleich wird fest­ge­stellt, „daß vie­le Häu­ser nicht gut geführt wur­den“ und „das intel­lek­tu­el­le Niveau der Brü­der zu ver­bes­sern war“.

Auch das inne­re reli­giö­se Leben war inzwi­schen offen­sicht­lich weit­ge­hend erloschen.

Nach 12 Jah­ren an der Spit­ze der Kon­gre­ga­ti­on demis­sio­nier­te Bru­der De Beuckel­aer 1958 im Alter von 59 Jah­ren „wegen gesund­heit­li­cher Schwä­che“ (er stirbt jedoch erst 1984 im geseg­ne­ten Alter von 85 Jahren).

Par­tei­po­li­tisch sehr stark ver­bun­den mit den Christ­de­mo­kra­ten, total bel­gisch ori­en­tiert, theo­lo­gisch schwach fun­diert, intel­lek­tu­ell schwach und ein­sei­tig sozi­al aus­ge­rich­tet, stol­per­te der Orden 1958 in poli­tisch schwie­ri­ge Zei­ten für Bel­gi­en (Spra­chen­kampf, Kul­tur­kampf, Unab­hän­gig­keit des Kon­gos, Föde­ra­li­sie­rung des Lan­des, wirt­schaft­li­che Pro­ble­me) und wir­re Zei­ten für die Kir­che in die Zäsur des 2. Vati­ka­ni­schen Konzils.

1958 wird zum ersten (und bis jetzt letz­ten Mal) ein Nicht-Bel­gi­er, Broe­der Koen­raad Reich­gelt aus den Nie­der­lan­den zum Gene­ral­obe­ren geweiht.

Refe­ren­zen:

  • Koen­raad Reich­gelt: De Broe­ders van Lief­de I (1805–1876), Gent, 1957
  • René Stock­man: Lief­de in Actie. 200 jar Broe­ders van Lief­de, Davids­fonds, Leu­ven, 2006
  • Die Bio­gra­phien der Gene­ral­obe­ren auf der nie­der­län­disch­spra­chi­gen (bel­gi­schen) Wikipedia
  • Die Ency­clo­pe­die der Vlaam­se Beweging, Lan­noo, 1975

Text: Fer­di­nand Boischot
Bild: Wikicommons

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