Wahrheit und Richtigkeit


Die moderne Höhle
Die moderne Höhle.

Von End­re A. Bárdossy*

Anzei­ge

Rati­fi­ca o rec­ti­fi­ca – Bestä­ti­ge oder berich­ti­ge, lau­tet im Spa­ni­schen eine kur­ze Auf­for­de­rung in Befehls­form, wenn man jeman­den zwi­schen die Wand und einem Säbel gestellt hat und ein Bekennt­nis erzwin­gen will. Pla­tons welt­be­rühm­tes und welt­be­we­gen­des Höh­len­gleich­nis stellt ein der­ma­ßen dra­ma­ti­sches Kreuz­ver­hör dar, daß es vom Leser, wenn wir uns in die Rol­len der bei­den Prot­ago­ni­sten ver­set­zen, eine kla­re Unter­schei­dung und eine deut­li­che Ent­schei­dung for­dert. Die Über­tra­gung ent­neh­men wir Fried­rich Schlei­er­ma­chers (1) bis heu­te maß­ge­ben­der Arbeit aus dem Sie­ben­ten Buch der „Poli­te­ia“ (514a – 517c). Die Unter­re­dung ist Teil eines län­ge­ren Streit­ge­sprächs des Sokra­tes mit Glaukon. 

Das Höh­len­gleich­nis ist nicht nur eine dra­ma­ti­sche Per­le der Welt­li­te­ra­tur, son­dern auch für unse­re Zeit wie auf den Leib geschnit­ten. Der Text erweckt den über­zeu­gen­den Ein­druck, daß Pla­ton – ein Mei­ster der Spra­che – dem Leser mit weni­gen Wor­ten, aber psy­cho­lo­gisch tief­grei­fend Sachen erläu­tert, die man anson­sten nur in lan­gen Abhand­lun­gen dar­stel­len könnte.

Das Höhlengleichnis

Sokra­tes: Dem­nächst, – sprach ich, – ver­glei­che dir unse­re Natur in bezug auf Bil­dung und Unbil­dung fol­gen­dem Zustan­de. Sieh näm­lich Men­schen wie in einer unter­ir­di­schen, höh­len­ar­ti­gen Woh­nung, die einen gegen das Licht geöff­ne­ten Zugang längs der gan­zen Höh­le hat. In die­ser sei­en sie von Kind­heit an gefes­selt an Hals und Schen­keln, so daß sie auf dem­sel­ben Fleck blei­ben und auch nur nach vor­ne hin sehen, den Kopf aber her­um­zu­dre­hen der Fes­sel wegen nicht ver­mö­gend sind. Licht aber haben sie von einem Feu­er, wel­ches von oben und von fer­ne her hin­ter ihnen brennt. Zwi­schen dem Feu­er und den Gefan­ge­nen geht oben­her ein Weg, längs die­sem sieh eine Mau­er auf­ge­führt wie die Schran­ken, wel­che die Gauk­ler vor den Zuschau­ern sich erbau­en, über wel­che her­über sie ihre Kunst­stücke zeigen.

Glau­kon: Ich sehe, – sag­te er.

Sieh nun längs die­ser Mau­er Men­schen aller­lei Gerä­te tra­gen, die über die Mau­er her­über­ra­gen, und Bild­säu­len und ande­re stei­ner­ne und höl­zer­ne Bil­der und von aller­lei Arbeit; eini­ge, wie natür­lich, reden dabei, ande­re schweigen.

Ein gar wun­der­li­ches Bild, – sprach er –, stellst du dar und wun­der­li­che Gefan­ge­ne.

Uns ganz ähn­li­che, – ent­geg­ne­te ich. Denn zuerst, meinst du wohl, daß der­glei­chen Men­schen von sich selbst und von­ein­an­der je etwas ande­res gese­hen haben als die Schat­ten, wel­che das Feu­er auf die ihnen gegen­über­ste­hen­de Wand der Höh­le wirft?

Wie soll­ten sie, – sprach er –, wenn sie gezwun­gen sind, zeit­le­bens den Kopf unbe­weg­lich zu halten!

Und von dem Vor­über­ge­tra­ge­nen nicht eben dieses?

Was sonst?

Wenn sie nun mit­ein­an­der reden könn­ten, glaubst du nicht, daß sie auch pfle­gen wür­den, die­ses Vor­han­de­ne zu benen­nen, was sie sähen?

Not­wen­dig.

Und wie, wenn ihr Ker­ker auch einen Wider­hall hät­te von drü­ben her, meinst du, wenn einer von den Vor­über­ge­hen­den sprä­che, sie wür­den den­ken, etwas ande­res rede als der eben vor­über­ge­hen­de Schatten?

Nein, beim Zeus, sag­te er.

Auf kei­ne Wei­se also kön­nen die­se irgend etwas ande­res für das Wah­re hal­ten als die Schat­ten jener Kunstwerke?

Ganz unmög­lich.

Nun betrach­te auch, – sprach ich –, die Lösung und Hei­lung von ihren Ban­den und ihrem Unver­stan­de, wie es damit natür­lich ste­hen wür­de, wenn ihnen fol­gen­des begeg­ne­te. Wenn einer ent­fes­selt wäre und gezwun­gen wur­de, sogleich auf­zu­ste­hen, den Hals her­um­zu­dre­hen, zu gehen und gegen das Licht zu sehn, und, indem er das täte, immer Schmer­zen hät­te und wegen des flim­mern­den Glan­zes nicht recht ver­möch­te, jene Din­ge zu erken­nen, wovon er vor­her die Schat­ten sah: was, meinst du wohl, wür­de er sagen, wenn ihm einer ver­si­cher­te, damals habe er lau­ter Nich­ti­ges gese­hen, jetzt aber, dem Sei­en­den näher und zu dem mehr Sei­en­den gewen­det, sähe er rich­ti­ger, und, ihm jedes Vor­über­ge­hen­de zei­gend, ihn frag­te und zu ant­wor­ten zwän­ge, was es sei? Meinst du nicht, er wer­de ganz ver­wirrt sein und glau­ben, was er damals gese­hen, sei doch wirk­li­cher als was ihm jetzt gezeigt werde?

Bei wei­tem, – ant­wor­te­te er.

Und wenn man ihn gar in das Licht selbst zu sehen nötig­te, wür­den ihm wohl die Augen schmer­zen, und er wür­de flie­hen und zu jenem zurück­keh­ren, was er anzu­se­hen imstan­de ist, fest über­zeugt, dies sei in der Tat deut­li­cher als das zuletzt Gezeigte?

Aller­dings.

Und, – sprach ich –, wenn ihn einer mit Gewalt von dort durch den unweg­sa­men und stei­len Auf­gang schlepp­te und nicht los­lie­ße, bis er ihn an das Licht der Son­ne gebracht hät­te, wird er nicht viel Schmer­zen haben und sich gar ungern schlep­pen las­sen? Und wenn er nun an das Licht kommt und die Augen voll Strah­len hat, wird er nicht das Gering­ste sehen kön­nen von dem, was nun für das Wah­re gege­ben wird.

Frei­lich nicht, – sag­te er –, wenig­stens nicht sogleich.

Gewöh­nung also, mei­ne ich, wird er nötig haben, um das Obe­re zu sehen. Und zuerst wür­de er Schat­ten am leich­te­sten erken­nen, her­nach die Bil­der der Men­schen und der andern Din­ge im Was­ser, und dann erst sie selbst. Und hier­auf wür­de er was am Him­mel ist und den Him­mel selbst leich­ter bei Nacht betrach­ten und in das Mond- und Ster­nen­licht sehen als bei Tage in die Son­ne und in ihr Licht.

Wie soll­te er nicht!

Zuletzt aber, – den­ke ich –, wird er auch die Son­ne selbst, nicht Bil­der von ihr im Was­ser oder ander­wärts, son­dern sie als sie selbst an ihrer eige­nen Stel­le anzu­se­hen und zu betrach­ten imstan­de sein.

Not­wen­dig, – sag­te er.

Und dann wird er schon her­aus­brin­gen von ihr, daß sie es ist, die alle Zei­ten und Jah­re schafft und alles ord­net in dem sicht­ba­ren Rau­me und auch von dem, was sie dort sahen, gewis­ser­ma­ßen die Ursa­che ist.

Offen­bar, – sag­te er –, wür­de er nach jenem auch hier­zu kom­men.

Und wie, wenn er nun sei­ner ersten Woh­nung gedenkt und der dor­ti­gen Weis­heit und der dama­li­gen Mit­ge­fan­ge­nen, meinst du nicht, er wer­de sich selbst glück­lich prei­sen über die Ver­än­de­rung, jene aber beklagen?

Ganz gewiß.

Und wenn sie dort unter sich Ehre, Lob und Beloh­nun­gen für den bestimmt hat­ten, der das Vor­über­zie­hen­de am schärf­sten sah und am besten behielt, was zuerst zu kom­men pfleg­te und was zuletzt und was zugleich, und daher also am besten vor­her­sa­gen konn­te, was nun erschei­nen wer­de: glaubst du, es wer­de ihn danach noch groß ver­lan­gen und er wer­de die bei jenen Geehr­ten und Macht­ha­ben­den benei­den? Oder wird ihm das Home­ri­sche begeg­nen und er viel lie­ber wol­len „das Feld als Tage­löh­ner bestel­len einem dürf­ti­gen Mann“ (2) und lie­ber alles über sich erge­hen las­sen, als wie­der sol­che Vor­stel­lun­gen zu haben wie dort und so zu leben?

So – sag­te er – den­ke ich, wird er sich alles eher gefal­len las­sen, als so zu leben.

Auch das beden­ke noch, sprach ich. Wenn ein sol­cher nun wie­der hin­un­ter­stie­ge und sich auf den­sel­ben Sche­mel setz­te: wür­den ihm die Augen nicht ganz voll Dun­kel­heit sein, da er so plötz­lich von der Son­ne herkommt?

Ganz gewiß.

Und wenn er wie­der in der Begut­ach­tung jener Schat­ten wett­ei­fern soll­te mit denen, die immer dort gefan­gen gewe­sen, wäh­rend es ihm noch vor den Augen flim­mert, ehe er sie wie­der dazu ein­rich­tet, und das möch­te kei­ne klei­ne Zeit sei­nes Auf­ent­halts dau­ern, wür­de man ihn nicht aus­la­chen und von ihm sagen, er sei mit ver­dor­be­nen Augen von oben zurück­ge­kom­men und es loh­ne nicht, daß man auch nur ver­su­che hin­auf­zu­kom­men; son­dern man müs­se jeden, der sie lösen und hin­auf­brin­gen woll­te, wenn man sei­ner nur hab­haft wer­den und ihn umbrin­gen könn­te, auch wirk­lich umbringen?

So sprä­chen sie ganz gewiß, – sag­te er.

Inhaltsanalyse des Gleichnisses

Aus die­sem, von einem beru­fe­nen Alt­phi­lo­lo­gen vor­züg­lich ins Deut­sche über­setz­ten Ori­gi­nal­text geht her­vor, daß die alten Grie­chen zwei Aus­drücke für die Wahr­heit hat­ten. Die­se phi­lo­so­phisch und lite­ra­risch ein­ma­li­gen Aus­drücke haben Geschich­te und Epo­chen gemacht, da sie das euro­zen­tri­sche Den­ken durch zwei­ein­halb Jahr­tau­sen­de hin­durch von Grund auf zu prä­gen ver­moch­ten. Sie grenz­ten die Zivi­li­sa­ti­on erfolg­reich von der Bar­ba­rei ab. Sie ver­lie­hen uns Ori­en­tie­rung nicht nur von den frü­hen Anfän­gen bis heu­te, son­dern unwi­der­ruf­lich für immer. Chri­stus sagt uns deut­lich und unmiß­ver­ständ­lich, – nicht nur für ein paar pedan­te, haar­spal­te­ri­sche Euro­pä­er, son­dern auch für alle Asia­ten, Afri­ka­ner und Ame­ri­ka­ner auf dem Wege zu einer ein­zi­gen Welt­zi­vi­li­sa­ti­on –, daß Gott allein der „Weg“, die „Wahr­heit“ und das „Leben“ sei (Johan­nes 14, 6). Ver­su­chen wir also zu unter­schei­den, was das hei­ßen soll:

I. άλήθεια (a‑letheia)

  1. Wahr­heit,
  2. Wirk­lich­keit, im Plu­ral wah­re Umstände,
  3. Wahr­haf­tig­keit, Aufrichtigkeit,
  4. im Neu­en Testa­ment Offen­ba­rung Got­tes (lat. reve­la­tio /​ Ent­hül­lung),
  5. wort­wört­lich „Un-ver­bor­gen­heit“.

άληθής (a‑lethes)

  1. ohne ver­heim­li­chen­des Täu­schen, wahr­haf­tig, ehrlich,
  2. wahr, wirk­lich, sicher, zuverlässig,
  3. wort­wört­lich „un-ver­bor­gen“.

Die Wahr­heit ist das Wirk­li­che, d. h. die Rea­li­tät ohne Trug und Lug, frei von Illu­sio­nen. „In- oder Un- lusio­när“ bedeu­tet von der Wort­wur­zel her Spiel- und Spaß­ver­der­ber zu sein. Das lat. Verb il-ludo, illude­re, illu­si, illu­s­us heißt somit übel mit­spie­len, betrü­gen, nicht auf­rich­tig, son­dern mit gezink­ten Kar­ten spielen.

Der Grund­be­griff der „Wahr­heit“ resul­tiert also aus der Ety­mo­lo­gie die­ses merk- und denk­wür­di­gen Wor­tes in Ver­bin­dung mit einem win­zi­gen, pri­va­ti­ven (ver­nei­nen­den) Präfix:

  • a- im Griechischen,
  • in- im Lateinischen,
  • un- im Deutschen.

Die Wur­zel λήθή (lethe)

  • bedeu­tet ein­fach das Ver­ges­sen, Vergessenheit,
  • ist aber auch der dra­ma­ti­sche Name des Flus­ses in der Mytho­lo­gie, der in der Unter­welt die toten See­len der ewi­gen Aus­lö­schung anheimgibt.

Die Wort­sip­pe umfaßt des weiteren:

ληθάήoς (letha­no)

  1. ver­ges­sen lassen,
    a) Aktiv
    λανθάνω (land­a­no)
  2. ver­bor­gen, unbe­kannt, unbe­merkt sein oder blei­ben, entgehen
  3. ver­ges­sen machen, und
    b) Medial
  4. ver­ges­sen,
  5. absicht­lich ver­säu­men, unterlassen.

Cf. das lat. Verb lateo, late­re, latui, das dem Sinn und dem Klang nach aus dem Grie­chi­schen ent­lehnt ist:

  1. ver­bor­gen sein,
  2. unbe­kannt bleiben.

Das Prä­sens Par­ti­zip: latens /​ dt. „latent“ lebt in unse­rer Umgangs­spra­che bis heu­te weiter:

  1. ver­bor­gen, verdeckt,
  2. heim­lich, ver­steckt, unwahr.

Das Wah­re ist also das Unver­ges­se­ne /​ das Nicht-Laten­te /​ das Nicht-Ver­deck­te /​ das Nicht-Ver­bor­ge­ne /​ das Nicht-Ver­heim­lich­te, son­dern das im hel­len Licht Offen­sicht­li­che, das Evi­den­te, Ent­hüll­te, die „wirk­li­che“ Wirk­lich­keit, die nicht vor­ge­täuscht wer­den kann. Nach der Über­lie­fe­rung der Phi­lo­so­phia peren­nis (also der blei­ben­den, zeit­lo­sen Phi­lo­so­phie) gilt also die alte Definition:

VERITAS EST ADÆQUATIO INTELLECTUS ET REI –
Die Wahr­heit ist die Abstim­mung des Ver­stan­des mit der Realität,
d. h. Anglei­chung und Ori­en­tie­rung an die Sache,
an die objek­ti­ve Gege­ben­heit und objek­ti­ve Bewer­tung der Dinge,
wor­an nicht gemo­gelt wer­den kann.

II. όρθόθεìς‚ (ort­ho­tes)

  1. gera­de, auf­rech­te Stellung,
  2. Rich­tig­keit, Wahrheit.

όρθός‚ (orthos)

  1. auf­ge­rich­tet, aufrecht,
  2. gera­de, gera­de­aus, geradewegs,
  3. recht, rich­tig, wahr,
  4. Adverb auf die rech­te Art, pas­send, schicklich.

όρθόω (orthoo)

  1. gera­de­ma­chen,
  2. in die Höhe rich­ten, auf­rich­ten, erheben,
  3. empor­brin­gen, för­dern, zu Anse­hen bringen,
  4. Pas­siv sich auf­rich­ten, sich erheben,
  5. glück­lich von­stat­ten gehen, Erfolg haben, gelingen,
  6. sei­ne Rich­tig­keit haben, wahr sein.

Das Rich­ti­ge ist somit das Auf­rech­te /​ das Auf­rich­ti­ge /​ das schlicht und ein­fach Auf­wärts­stre­ben­de, um das Gute in der Rea­li­tät mit einer trif­ti­gen Defi­ni­ti­on unter­schei­den und in die Tat umset­zen zu kön­nen. Mit der Bedeu­tung des Wah­ren, Rich­ti­gen, Unent­behr­li­chen ist also im Ortho…doxen ein Prä­fix vor­an­ge­stellt, das die blo­ße Mei­nung: δόξα (doxa) zum Höhe­ren qua­li­fi­ziert, und in allen euro­päi­schen Hoch­spra­chen häu­fig ver­wen­det wird, von der Ortho-Pädie ange­fan­gen über die Orth-Optik bis zur Ortho-Gra­phie für die Behand­lung hin­ken­der Schrei­ber­lin­ge und schie­len­der Pro­phe­ten, die uns heu­te in der Öffent­lich­keit mit Lügen- und Lücken­pres­se, Fern­se­hen und Inter­net überfluten.

Wer sich das Pla­to­ni­sche Kon­zept der Wahr­heit nicht aner­zo­gen und ver­in­ner­licht hat, kann kein zivi­li­sier­ter, „römi­scher“ Bür­ger (Civis roma­nus) und noch weni­ger ein „römi­scher“ Katho­lik sein! Wem die­se Begrif­fe nicht in Leib, See­le und Intel­lekt auf­ge­gan­gen und bis in die letz­ten Fasern assi­mi­liert wor­den sind, hat vom Chri­sten­tum nur eine hal­be Ahnung. Das Neue Testa­ment wur­de für uns einst in der Per­len­schrift der Grie­chen nie­der­ge­legt und in der Fas­sung ihrer prä­zi­sen Begriff­lich­keit ver­mit­telt. Die in Ver­ges­sen­heit gera­ten­de Über­lie­fe­rung neu zu ent­zif­fern ist heu­te die Her­aus­for­de­rung der Stun­de, wor­an nicht nur das Wesen der christ­li­chen Reli­gi­on, son­dern der gesam­ten Abend­län­di­schen Zivi­li­sa­ti­on hängt.

Platons Lehre von der Wahrheit –
in der falschen Wiedergabe nach Heidegger

Heid­eg­ger war der gei­sti­ge Zieh­va­ter Karl Rah­ners, ein Apo­stat aus der Römisch-Katho­li­schen Kir­che, ein über­zeug­ter Natio­nal­so­zia­list und von Berufs­we­gen ein Nar­ziß. Er war in sein eige­nes Den­ken so ver­liebt, daß er es als abso­lu­ten Neu­be­ginn des Phi­lo­so­phie­rens über­haupt ver­kün­den woll­te. Zwi­schen den älte­sten Prä­so­kra­ti­kern einer­seits (von denen nur win­zi­ge Frag­men­te übrig­blie­ben sind) und sei­nen eige­nen Frag­men­ten, Vor­le­sun­gen und Vor­trä­gen ande­rer­seits ließ er kei­ne Über­gän­ge zu. Von Pla­ton und Ari­sto­te­les, über Tho­mas von Aquin bis zur Abfas­sung des Ersten Teils sei­ner ein­zi­gen monu­men­ta­len Abhand­lung unter dem Titel „Sein und Zeit“ (1927), deren Zwei­ten Teil er nie fer­tig­brach­te, äch­te­te er alle Vor­gän­ger mit dem Bann der von ihm soge­nann­ten, frei erfun­de­nen „Seins­ver­ges­sen­heit“. Pathe­tisch salb­te er sich zum pro­phe­ti­schen „Kün­der des Seyns“, dem es zum Leid­we­sen aller Stu­den­ten und Bewun­de­rer all­zu oft gefällt sich enig­ma­tisch zu „ver­ber­gen…“ Sobald die Gemein­de der Hörer und Leser in Trance gera­ten war, wur­den die Rät­sel­wör­ter ortho­gra­phisch ver­un­stal­tet und mit einer Hun­dert­schaft von akri­bi­schen Expek­to­ra­ten (wie Seyn, Ent­ber­gung, Ek-sistenz, etc) eskortiert.

Mit der „Ver­ges­sen­heit des Seins“ setz­te Heid­eg­ger also die λήθή (lethe) und die άλήθεια (alet­heia), wie wir sie im Höh­len­gleich­nis ken­nen­ge­lernt haben, mit dem sub­stan­ti­vier­ten Infi­ni­tiv „Sein“ zusam­men. Die­ses zwei­te Ele­ment des unge­wöhn­li­chen Kom­po­si­tums bedeu­tet nach alter Über­lie­fe­rung ent­we­der die Essenz (Wesen, Sosein) oder die Exi­stenz (Dasein) eines Dings, Zeugs oder des Men­schen bis hin­auf zu den „Göt­tern“ wie es der Neu­hei­de Heid­eg­ger aus dem Schwarz­wald ger­ne zu sagen pfleg­te. Daher dürf­te es auch einem Leser, der in der Heid­eg­ger­schen Kunst­spra­che unbe­wan­dert ist, leicht fal­len, die­sen Misch­masch sei­ner dada­isti­schen Sprach­spie­le zu durch­schau­en. Das Sein kom­plett zu ver­ges­sen, ist in der Tat nur im Irren­haus bei krank­haf­ter (nicht vor­ge­spiel­ter!) Schi­zo­phre­nie mög­lich. Selbst wenn wir blo­ße Schat­ten betrach­ten, ver­neh­men wir immer noch Erin­ne­run­gen an das wirk­li­che Sein Got­tes und der Welt.

Wenn ein deut­scher Phi­lo­soph im XX. Jahr­hun­dert den Sachen mytho­lo­gi­sche Meta­phern andich­tet, wonach die Spra­che etwa das „Haus des Seyns“, der Mensch wie­der­um den „Hir­ten des Seyns“ dar­stel­le, ist er nicht ernst zu neh­men. Wenn sich dabei das „Seyn“ sel­ber (und nicht das fal­sche Bewußt­sein der Gauk­ler!) ab und zu „ver­ber­ge“, wie ein Kind hin­ter dem Vor­hang, um sich „ent­ber­gend“ wie­der als „Geschick“ anzu­kün­di­gen …, mag viel­leicht unrei­fe Per­sön­chen wie Han­nah Are­ndt im Hör­saal und im Bett des Mar­bur­ger Pro­fes­sors beein­druckt haben, anson­sten sind sie belang­lo­se lite­ra­ri­sche Flos­keln zwei­fel­haf­ter Qua­li­tät und mage­rer Aus­sa­ge­kraft. Pla­tons Meta­pher der strah­len­den Son­ne ist zwar eine genia­le Ein­ge­bung, aber aus der Dich­ter­spra­che einen tat­säch­li­chen „Seins­zy­klus“ mit Abend­däm­me­rung und Mor­gen­rö­te abzu­lei­ten, ist ein Miß­brauch des Alle­go­ri­schen. Das Sosein oder Dasein einer Sache zu ver­ges­sen, wenn es chro­nisch wird, ist ja eher ein kin­di­sches Spiel­chen oder ein alters­be­ding­tes Gebre­chen, die wir an die­ser Stel­le ver­nach­läs­si­gen kön­nen. Eine flie­gen­de Lese­pro­be aus der Gesamt­aus­ga­be (Bd. IX. p. 223) mag viel­leicht abschlie­ßend genügen:

Das Unver­bor­ge­ne muß einer Ver­bor­gen­heit ent­ris­sen, die­ser in gewis­sem Sin­ne geraubt wer­den. Weil für die Grie­chen anfäng­lich die Ver­bor­gen­heit als ein Sich­ver­ber­gen das Wesen des Seins durch­wal­tet und somit auch das Sei­en­de in sei­ner Anwe­sen­heit und Zugäng­lich­keit („Wahr­heit“) bestimmt, des­halb ist das Wort der Grie­chen für das, was die Römer „veri­tas“ und wir „Wahr­heit“ nen­nen, durch das α-pri­va­ti­vum (ά‑λήθεια /​ a‑letheia) aus­ge­zeich­net. Wahr­heit bedeu­tet anfäng­lich das einer Ver­bor­gen­heit Abge­run­ge­ne. [?!] WAHRHEIT IST ALSO ENTRINGUNG JEWEILS IN DER WEISE DER ENTBERGUNG. [?!]

Das Fra­ge­zei­chen und die Her­vor­he­bung durch Kapi­täl­chen sind natür­lich von mir, um unter­strei­chen zu kön­nen, daß die Ent­zif­fe­rung wohl nicht nur anfäng­lich, son­dern stets dort vor sich geht, wo der gesun­de Men­schen­ver­stand tätig wird, also durch die immer­wäh­ren­de Phi­lo­so­phie und die katho­li­sche Reli­gi­on, durch die prä­zi­se Tech­nik und die wah­re Kunst so – wie auch immer – im gewöhn­li­chen Leben, vor allem aber in der Erzie­hung, in der Schu­le und in der Pre­digt der Kirche.

[Fort­set­zung des Zitats p. 230]: Der Über­gang von einer Lage in die ande­re besteht in dem Rich­tig-wer­den des Blickes. An der όρθόθεìς‚ (ort­ho­tes), der Rich­tig­keit des Blickes, liegt alles. Durch die­se Rich­tig­keit wird das Sehen und das Erken­nen ein rech­tes, so daß es zuletzt gera­de­aus auf die höch­ste Idee [des Guten] geht und in die­ser „Aus­rich­tung“ sich festmacht.

Heid­eg­ger konn­te somit aus dem scho­la­sti­schen Wahr­heits­be­griff der „Adaequa­tio intellec­tus et rei“ nicht ent­schlüp­fen. Denn sei­ne Roß­täu­sche­rei anstel­le von Adäqua­ti­on (Anglei­chung) Ent­rin­gung oder gar Ent­ber­gung zu set­zen, ist ledig­lich ein dada­isti­sches Spielchen.

Da Karl Rah­ner in Heid­eg­ger sei­nen Mei­ster und Men­tor ver­ehr­te, ist es ein emi­nen­tes katho­li­sches Inter­es­se, die Heid­eg­ger­schen Aberra­tio­nen unter die Lupe zu neh­men. In Bezug auf sei­ne Pla­ton-Inter­pre­ta­ti­on hat er das welt­be­rühm­te Höh­len­gleich­nis usur­piert, indem er es in wei­ten Krei­sen bekannt mach­te, aber auch mut­wil­lig ver­such­te, „Wahr­heit und Rich­tig­keit“ (= Alet­heia + Ort­ho­tes) aus­ein­an­der­zu­spal­ten – frei­lich ent­ge­gen den Absich­ten des Ori­gi­nal­tex­tes und ent­ge­gen der christ­li­chen Überlieferung.

Somit redu­zier­te Heid­eg­ger sei­ne fun­da­men­ta­le phä­no­me­no­lo­gi­sche „Per­zep­ti­on“ der Exi­stenz zu einem „Sein zum Tode“ (wie sei­ne bekann­te­ste For­mel lau­tet), was in der Tat einer „App­er­zep­ti­ons­ver­wei­ge­rung“ gleich­kommt. Denn dazu, was nach dem letz­ten Tritt und Schritt an der Tür­schwel­le zum Ἅιδης‚ (Hades) gesche­hen wird, d. h. ent­we­der zur Unter­welt der grie­chi­schen Mär­chen, zum inhalts­lo­sen Nihi­lis­mus oder zum ewi­gen Leben im wirk­li­chen Jen­seits, muß ein auf­rech­ter Schrift­stel­ler der Letz­ten Din­ge ent­we­der Ja oder Nein sagen. Den „Wet­ter­win­kel der Escha­to­lo­gie“ (Hans Urs von Bal­tha­sar) nach der Heid­eg­ger­schen Art eines Zam­pa­no kon­se­quent aus­zu­schwei­gen, ist ein Non­sens. Bereits der hl. Pau­lus sag­te, daß es letzt­lich auf eines ankommt: Wenn Chri­stus nicht auf­er­stan­den ist, dann sind wir Chri­sten die bedau­erns­wer­te­sten unter allen Men­schen (1 Kor 15, 19). Der grie­chisch gebil­de­te Pau­lus wuß­te also wor­um es geht in die­sem escha­to­lo­gi­schen Roulett.

Eine nähe­re Beschäf­ti­gung mit Heid­eg­gers nichts­sa­gen­der Unde­fi­ni­ti­on der Wahr­heit kön­nen wir uns also erspa­ren. Prak­tisch fol­gen­reich scheint jedoch sei­ne Kon­klu­si­on aus dem Höh­len­gleich­nis zu sein. Unter dem Titel „Pla­tons Leh­re von der Wahr­heit“ (1931/​32, 1940) behaup­te­te er, daß die ursprüng­li­che, pri­mä­re Alet­heia (das Wahr­neh­men eines unver­bor­ge­nen /​ unver­hüll­ten Dings oder Sache als nack­te Tat­sa­che) erst durch die Rich­tig­stel­lung des bewer­ten­den Intel­lek­tes ver­dor­ben sei und damit auch das nicht enden­wol­len­de Zeit­al­ter der „Seins­ver­ges­sen­heit“ ange­bro­chen wer­de. Heid­eg­ger lehn­te jed­we­des Nach­den­ken über die Kon­se­quen­zen der „Ort­ho­tes“ (Rich­tig­keit) einer Sache, eines Prin­zips oder einer Tugend ab, da er sich zeit sei­nes Lebens wei­ger­te, mit „Ethik und Moral“ zu beschäf­ti­gen. Aus der­sel­ben „App­er­zep­ti­ons­ver­wei­ge­rung“ (3) spru­deln sei­ne kon­flikt­be­la­de­nen Ansich­ten über die Tech­nik her­vor. Kein Inge­nieur ver­mag in der tech­ni­schen Zivi­li­sa­ti­on ohne „Rich­tig­keit“ des Den­kens aus­zu­kom­men und in einem poe­ti­schen Wol­ken­kuckucks­heim zu schwe­ben. Eben­falls ver­mag kein Den­ker – ob Phi­lo­soph oder Theo­lo­ge – auf die größt­mög­li­che, wenn auch nur annä­hern­de Rich­tig­keit zu verzichten.

Heid­eg­gers lan­ges Leben ver­blieb dem­entspre­chend eine lal­len­de Gau­ke­lei, und sei­ne Biblio­thek größ­ten­teils unleserlich.

*End­re A. Bár­d­os­sy war o. Uni­ver­si­täts­pro­fes­sor in San Sal­va­dor de Jujuy, Argen­ti­ni­en, für Land­wirt­schaft­li­che Betriebswirtschafts­lehre und Lei­ter eines Semi­na­rio de Apli­ca­ción Inter­di­sci­pli­na­ria im Depart­a­men­to de Cien­ci­as Socio-Econó­micas an der Uni­ver­si­dad Nacio­nal de Cuyo, Men­do­za. Bei Katho​li​sches​.info ver­öf­fent­lich­te er zuletzt den Auf­satz Unter­schei­dung der Gei­ster in der Über­fluß­ge­sell­schaft von heu­te (Teil I der Tri­lo­gie, zu der der vor­lie­gen­de Auf­satz Teil II ist).

Bil­der: : etat​-du​-mon​de​-etat​-​d​-etre​.net/​s​o​c​r​a​t​e​-​c​a​v​e​r​n​e​-​m​o​d​e​r​n​e​/​A​u​tor (Screen­shots)
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(1) Fried­rich Schlei­er­ma­cher (1768–1834) über­setz­te Pla­tons Sämt­li­che Wer­ke ins Deutsche.

(2) Sich als „Tage­löh­ner“ bei einem dürf­ti­gen Mann zu ver­din­gen und für einen Hun­ger­lohn… zu arbei­ten war für einen frei­en Grie­chen schon bei Homer sprich­wört­lich die größt­mög­li­che Erniedrigung.

(3) Cf. Hei­mi­to von Dode­rer: Die Dämo­nen (Roman 1956).

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1 Kommentar

  1. Ein sehr wich­ti­ger Artikel.
    Die Dia­lo­gen von Pla­ton bzw.das dort auch skiz­zier­te Gedan­ken­gut der Kon­tra­hen­ten ist sehr wich­tig bei der Ana­ly­se von vie­len moder­ni­sti­schen Ten­den­zen in der Kirche.

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