(Rom) Der Vatikanist Sandro Magister nahm in diesen Tagen nicht nur die päpstliche Globalisierungskritik unter die Lupe, sondern insgesamt den politischen Zungenschlag von Franziskus. „Der Papst der Barmherzigkeit ist auch der Papst der antikapitalistischen und globalisierungsfeindlichen ‚Volksbewegungen‘. Castro stirbt, Trump gewinnt, die populistischen Regime Lateinamerikas brechen zusammen, aber er gibt nicht auf. Er ist überzeugt, daß die Zukunft der Menschheit das Volk der Ausgeschlossenen ist“, so Magister.
„Wirtschaft, die tötet“ bekämpfen
Das Pontifikat von Papst Franziskus habe „zwei tragende Achsen“, eine religiöse und eine politische. Die religiöse Achse „ist der Regen der Barmherzigkeit, der alle und alles reinigt“. Die politische Achse „ist der weltweite Kampf gegen die ‚Wirtschaft, die tötet‘ “. In Zusammenarbeit mit den „Volksbewegungen“ will der Papst diese Wirtschaft bekämpfen. Die Bezeichnung „Volksbewegungen“ wurde von ihm selbst geprägt. In ihnen „sieht er die Zukunft der Menschheit aufleuchten“, so der Vatikanist.
Man muß bis Papst Paul VI. zurückgehen, um ein vergleichbares, umfassendes politisches Konzept zu finden, das sich allerdings auf die katholischen Parteien Europas stützte, in Italien auf die DC von Alcide Degasperi, in der Bundesrepublik Deutschland auf die CDU von Konrad Adenauer. Diese europäische politische Tradition der Christdemokratie ist inzwischen weitgehend untergegangen oder nur mehr ein Schatten ihrer selbst. Der Niedergang wurde von Vladimir Palko, dem ehemaligen slowakischen Innenminister, in seinem Buch „Die Löwen kommen“ beschrieben. Der Niedergang setzte ein, als die Christdemokraten, als Reaktion auf die Studentenproteste 1968 zuerst und den Zusammenbruch des kommunistischen Ostblocks 1989/1991 dann, ihre eigenen Positionen aufgaben.
Diese europäische und christdemokratische Tradition ist Jorge Mario Bergoglio ohnehin fremd. „Als Argentinier ist sein Humus ein ganz anderer. Er hat einen Namen, der in Europa einen negativen Beigeschmack hat, nicht aber in der Heimat des Papstes: der Populismus.“
Volk als mythische und mystische Kategorie – „Volksbewegungen werden Schicksal des Planeten bestimmen“
„Das Wort Volk ist nicht eine logische Kategorie, sondern eine mystische Kategorie“, sagte Papst Franziskus im vergangenen Februar auf dem Rückweg von Mexiko. In einem seiner jüngsten Interviews verfeinerte er diese Aussage. Weil „alles, was das Volk tut, gut ist“, sei es besser von „mythisch“ statt „mystisch“ zu sprechen. „Es braucht einen Mythos, um das Volk zu verstehen“, so Franziskus. Das Interview ist Teil des am 10. November von seinem Mitbruder und Vertrauten, Antonio Spadaro SJ, herausgegebenen Buches „In deinen Augen ist mein Wort“ (Nei tuoi occhi è la mia parola).
„Diesen Mythos erzählt Bergoglio jedesmal, wenn er die ‚Volksbewegungen‘ um sich versammelt. Das tat er bisher dreimal: im Oktober 2014 in Rom, im Juli 2015 in Bolivien und zuletzt am 5. November 2016 wieder in Rom. Jedesmal entflammt er das Auditorium mit endlosen Reden, jede von 30 Seiten Länge, die zusammen das politische Manifest dieses Papstes bilden“, so Magister.
Die Bewegungen, die Franziskus um sich schart, wurden nicht von ihm geschaffen. Sie bestanden bereits vor seinem Pontifikat, haben also eine politische, kulturelle und ideologische Vorgeschichte. Gemeinsam haben sie, daß sie nichts spezifisch Katholisches haben. Sie sind zum Teil der Rest der großen antikapitalistischen und globalisierungsfeindlichen Gegenkundgebung zum WTO-Gipfel von Seattle 1999 und des Weltsozialforums, das 2001 in Porto Alegre startete, ergänzt „durch die Vielzahl der Ausgestoßenen, von denen der Papst ‚jenen Strom der moralischen Energie‘ ausgehen sieht, „der durch die Einbeziehung der Ausgeschlossenen in den Aufbau des Schicksals des Planeten entsteht“.
Dieses „Schicksal des Planeten“ werde von den „Volksbewegungen“ bestimmt, deren Machtübernahme der Papst Franziskus vorhersagt, Es werde sich um eine Machtübernahme handeln, die „die logischen Verfahrensweisen der formalen Demokratie übersteigt“. Wörtlich sagte der Papst am 5. November, die „Volksbewegungen sind aufgerufen, die Demokratien, die eine wahre Krise durchmachen, neu zu beleben, neu zu gründen“.
„Kommunistische und papistische Internationale um Klassenkampf des 21. Jahrhunderts zu gewinnen“
„Und wenn für diese weltweite Revolution ein Anführer gebraucht wird, dann haben ihn manche bereits im Papst ausfindig gemacht“, so Magister. Vor einem Jahr tat das im Teatro Cervantes von Buenos Aires bereits der italienische Philosoph Gianni Vattimo, eine Stimme, die in weltweiten Ultralinken Gehör findet. Er forderte die Bildung einer neuen „kommunistischen und papistischen Internationale“, deren unumstrittener Anführer Papst Franziskus sein solle, um den „Klassenkampf“ des 21. Jahrhunderts „zu führen und zu gewinnen“.
An der Seite Vattimos saß damals Kurienbischof Marcelo Sanchez Sorondo am Podium. Der Argentinier gehört in politischen Fragen zu den engsten Vertrauten von Papst Franziskus. Sanchez Sorondo schien die Vorstellung einer neuen Internationale sichtlich zu gefallen. Es gab kein Wort der Distanzierung.
Die Mächte, gegen die das „Volk der Ausgeschlossenen“ rebelliert, sind in der Sicht des Papstes „die Wirtschaftssysteme, die – um zu überleben – Krieg führen, um ihre Wirtschaftsbilanzen zu sanieren.“ Das, so Magister, sei für Papst Franziskus auch der Schlüssel, mit dem er „den Dritten Weltkrieg in Stücken“ und den islamischen Terrorismus erklärt.
Jesuitengeneral als „Trost“ – „Ausgeschlossene“ verschafften Donald Trump zum Wahlsieg
Unterdessen scheitern jedoch die lateinamerikanischen populistischen Regime, für die Papst Franziskus „soviel Sympathie bekundet“, ob in Argentinien, in Brasilien, in Peru oder in Venezuela.
„Teilweiser Trost ist für den Papst, daß der neue Generalobere des Jesuitenordens, Pater Arturo Sosa Abascal, aus letzterem Land kommt.“ Der neue „Schwarze Papst“ hat sein Leben lang nur über Politik und Sozialwissenschaften geschrieben und gelehrt. In seiner Jugend war er Marxist, dann ein Unterstützer des Aufstiegs von Hugo Chavez, „der el Pueblo de Venezuela in die Katastrophe führte“, so der Vatikanist.
Durcheinandergebracht wird das politische Konzept von Franziskus nicht nur durch das Abtreten der Linksregierungen, sondern auch durch den Tod des Diktators Fidel Castro und durch den Wahlsieg von Donald Trump, der seine Wahl gerade den Industriestaaten an den Großen Seen verdankt. Dort wählte die traditionell demokratisch geprägte Arbeiterschaft der großen kapitalistischen Industrie dieses Mal republikanisch. Die „Ausgeschlossenen“ erkannten sich als Globalisierungsverlierer und zogen die Handbremse. Sie erkannten nämlich auch, daß es eine Globalisierungszusammenarbeit zwischen der politischen Linken, Unternehmern und Finanzkapitalismus gibt. Das bekannteste Stichwort dieser Zusammenarbeit lautet: Einwanderung.
Text: Giuseppe Nardi
Bild: MiL