von Amand Timmermans
Vor exakt 500 Jahren erschien in Löwen ( heute Belgien) das berühmteste Werk des heiligen Thomas Morus: Libellus vere aureus nec minus salutaris quam festivus de optimo reipublicae statu deque nova insula Utopia (Wirklich goldenes und nicht weniger heilsames als auch festliches Büchlein über den allerbesten Zustand des Staatswesens und über die neue Insel Utopia), kurz Utopia genannt.
Es ist eine Schrift von recht kleinem Umfang. Sie besteht aus drei Teilen.
Das Vorwort, gestaltet als Geleitbrief von St. Thomas Morus an seinen und Erasmus‘ Freund Petrus (Pieter) Gillis (1483–1533), Stadtsekretär von Antwerpen.
Eine längere Einleitung (1. Buch) mit Bezug auf die neuentdeckten Kontinente, auf exotische Länder und fremde Völker mit anderen Sitten, mit Bezug auf Bekannte und große Gelehrte und auf die in der Renaissance fast bis ins Abnorme gesteigerte Begeisterung für das Altgriechische und das Latein. hier wird die Bekanntschaft mit Raphael Hythlodaeus gemacht (nach dem aus dem Buch Tobit der Bibel bekannten Reisebegleitengel Raphael und im zweiten Lemma als „Verbreiter von bloßen Märchen“). Raphael Hythlodaeus ist als Schiffskapitän gerade von einer Weltreise zurückgekommen und erzählt sehr breit und detailliert von dem neuentdeckten Land Utopia (aus altgriechisch ou „nicht“ und topos „Platz, Stelle“ – also: nirgendwo).
In dem 2. Buch werden dann das Staatswesen, die Wirtschaft, die Kultur und die Sitten der Utopier beschrieben: ein Gegenbild zu der damaligen Gesellschaft, ohne Privateigentum, ohne Geldwirtschaft und ohne Hierarchien (sic Diogenes Verlag), basierend auf Humanismus und gesundem Menschenverstand. Die besondere Attraktivität von Utopia besteht übrigens nicht zuletzt darin, daß es ein wirtschaftlich und politisch besonders gut gelingendes Staats- und Gesellschaftsmodell darstellt, und als solches eine echte und anstrebenswerte Alternative zur damaligen realen Welt bildete.
Das kleine Werk ist nicht umfangreich – in der Diogenes-Ausgabe zählt der eigentliche Text 177 recht groß gedruckte Taschenbuchseiten. Thomas Morus widmete dem kleinen Werk sehr viel Aufmerksamkeit: Schon 1515 konsultierte der Heilige Erasmus von Rotterdam auf der Such nach einem guten Drucker. Es ging ihm um eine schöne Typographie und einen ansprechenden Druck mit schönen Holzschnitten. In England sei dies nicht möglich.
So wurde das Werk bei Dirk Martens van Aalst gedruckt, dem „Typographen der Ehrwürdigen Universität Löwen“. Dirk Martens hatte 1478 auch das erste Buch der Niederlande gedruckt – das Speculum peccatorum von Dionysius dem Kartäuser.
Als Autor wird „der berühmte Thomas More, Bürger der glorreichen Stadt London und Vize-sheriff“ genannt. Peter Gillis von Antwerpen wird im Vorwort als Adressat angeführt.
Die Utopia liest sich leicht. Die Sprache ist äusserst gewählt, höflich und leicht formuliert: ein Paradebeispiel für humanistische Meisterschaft im Umgang mit den alten Sprachen.
Frappierend ist der milde und zugleich tiefe Humor, der wie mit goldenem Licht das ganze Buch durchtränkt. Nicht nur die Sitten und die Grobheiten und Greueltaten der damaligen Gesellschaft werden tadelnd beschrieben und durch Paradoxen in ihrer Unzulänglichkeit dargestellt. St. Thomas Morus nimmt auch sich selbst, seine Familie, seine Freunde und die Humanisten im Allgemeinen verschmitzt auf die Schippe.
Der Humor fängt schon auf der ersten Seite des Vorworts an, wo Morus bei Peter Gillis (der den aufwendigen Druck des Büchleins in Löwen betreute) wegen der langen Entstehungszeit des Werks um Nachsicht bittet und dabei seine eigene Arbeit bagatellisiert und seine Intelligenz demonstrativ unter dem Scheffel stellt. Hythlodaeus spricht viel besser Altgriechisch als Latein und St. Thomas Morus gibt eine leutselige Beschreibung seines Familienlebens mit Ehefrau, Kindern, Dienstboten, mit Essen und Schlafen, und nicht zuletzt mit ausführlichen Beschreibungen des damals besonders in England hohen Komforts des täglichen Lebens (was gerade Erasmus stets wieder beeindruckte).
Rührend ist die Beschreibung eines Gastes der Familie, „frommer Mann und Theologe von Beruf, der darauf brennt, Utopia aufzusuchen, nicht aus eitler Neugier oder Sensationslust – er möchte vielmehr unsern Glauben, der dort glücklich Wurzel geschlagen hat, hegen und fördern. Damit das in bester Ordnung geschehe, beschloß er, vorher darum einzukommen, daß er vom Papst ausgesandt, ja zum Bischof der Utopier ernannt werde. Davon hält ihn auch das Bedenken nicht zurück, daß er um dieses Amt bittweise anhalten muß; denn er glaubt, eine Bewerbung sei gestattet, wenn sie nicht aus Ehr- oder Gewinnsucht, sondern im Dienste der Religion erfolgt.“
Eine feinsinnigere biographische Skizzierung von Erasmus von Rotterdam läßt sich kaum finden: ein Theologe und frommer Mann, der einerseits, geprägt von armen Jugendjahren und nach einer sehr langen Zeit unsicherer finanzieller Verhältnisse, sehr gerne Pfründe und Pensionen sammelte, andererseits gegen die Verweltlichung der Kirche protestierte, einerseits gegen hierarchische Auswüchse protestierte und Papst Julius II. persiflierte, andererseits aber beim Papst um ein Monopol seines Novum Instrumentum vorsprach.
Auch die eigene Familie wird nicht gespart: Der junge Diener John Clement (1495–1572) wird mit seinem Griechischspleen humoristisch erwähnt (er war dann immerhin schon 21 Jahre). Clement heiratete später die Adoptivtochter von St. Thomas Morus, wurde ein berühmter Arzt und mußte dann in der Katholikenverfolgung in die südliche Niederlande flüchten, wo er starb.
Die Familie Morus war sehr tierfreundlich, um nicht zu sagen tierversessen: Erasmus hat diese Tierliebe schon in seiner biographischen Skizze an Ulrich von Hutten beschrieben, und der große deutsche Maler Holbein hat mehrere Familienmitglieder mit ihrem Haustier abgebildet. So wird in der Utopia natürlich der bekannte Affe referiert, der einmal mutwillig da und dort ein paar Seiten aus einem Buch von Theophrastos (über Pflanzen – medizinisch besonders interessant für J. Clement) gerissen hat.
Das Vernarrtsein der Humanisten in schöne Bücher wurde ebenfalls lustig beschrieben: Die Utopier waren bei einem zweiten Besuch von Raphael Hythlodaeus entzückt über eine Sophoklesausgabe des berühmten venezianischen Druckers Aldus Manutius „mit den kleinen aldinischen Typen“. Das ist ein lustiger Wink auf Erasmus, der schon in Oktober 1508 von „den herrlichen kleinen Drucktypen, besonders den ganz kleinen Letterchen“ von Manutius geschwärmt hatte.
Die Utopia spiegelt auch den damals neuesten Stand der Wissenschaft wider: Die Utopier benutzen das damals frisch gedruckte griechische Dialektwörterbuch von Hesychius und die Grammatik von Laskaris. Bei der Auswahl der griechischen Lieblingsautoren der Utopier finden sich die damaligen humanistischen Schwerpunkte Aristophanes, Homer, Euripides, Sophokles, Thukydides und Herodot. Die kleinen pertinenten Schriften von Plutarch und die witzige Geschichten von Lukian werden extra erwähnt.
Die Bibel und die Kirchenväter werden nirgends erwähnt, weil nicht passend zu dem nicht selten deftigen Humor der Erzählung und weil nicht korrespondierend mit den Sitten der Utopier. Das Büchlein ist keine Realisierung der Schrift De imitatione Christi von St. Thomas a Kempis und hat auch keinen bekehrenden Charakter.
Wirklich frappierend und derb-humoristisch wird es, wenn Morus die Eheanbahnung und die Ehesitten beschreibt. Da wird bei den Utopiern vor der Eheschließung die ehewillige Frau unter den Augen einer alten Aufpasserin textillos dem künftigen Ehemann gezeigt, und viceversa der Brautjunker im Adamskostüm der künftigen Ehefrau vorgeführt, damit die künftigen Eheleute einen gediegenen Eindruck voneinander bekommen können.
Damals stutzten viele Leser bei diesem Passus. Merkwürdig ist, daß, obwohl in der westlich-säkularisierten Welt inzwischen bei breiten Bevölkerungsschichten alle Hemmungen der Moral und alle Klamotten gefallen sind, durch den Zuzug von orientalischen Völkern mit anderen Sitten und moralischen Vorstellungen jene Brautleutedemonstrierung genauso sperrig dasteht wie vor 500 Jahren.
Nil novi sub sole.
Genauso humoristisch ist der Begegnungsort von Thomas Morus und Peter Gilles mit dem Kapitän Raphael Hythlodaeus. In Antwerpen, vor der Liebfrauenkathedrale – risibile dictu die Bischofskirche des Antwerpener Bischofs Johan Bonny, der in den letzten Jahren durch einige häretische und andere, sehr homofreundliche Aussagen und Papiere aufgefallen ist.
Als Pastiche auf Erasmus‘ an Thomas Morus aufgetragenes kleines Werk Encomiun moriae/Laus Stultitia (Das Lob der Torheit) von 1511, konnte man den Passus auch als Amoris Stultitia beschreiben.
Die Utopia erlebte sofort einen großen Erfolg. Die Humanisten, die gelehrten Bürger, die Fürsten und der Adel lasen sie mit großem Interesse. Viele suchten mit dem Büchlein nach einem anderen, besseren Gesellschaftssystem – nicht selten um Schiffbruch zu erleiden.
Die Utopia wurde das wichtigste Buch des christlichen Humanismus der englischen Renaissance mit wichtigen Personen wie Thomas Colet, St. John Fisher, Richard Foxe und William Warham, die die frühe katholische, innerkirchliche Reform um Erasmus maßgeblich prägten.
Im Sommer 1516 besuchte Erasmus kurz England und gastierte bei St. Thomas Morus. Wenig später erschien Erasmus‘ Novum Instrumentum, die erste gedruckte, kritische Ausgabe der Vulgata, neben einem griechischen „Ur„text.
1517 posierten Erasmus und Peter Gilles bei dem flämischen Maler Quentin Massys für ein berühmtes Doppelporträt, als Geschenk für St. Thomas Morus gedacht.
In den folgenden Jahren formierte sich in England der Widerstand gegen die lutherischen Thesen und Aktionen. Obwohl John Colet 1519 starb, wurde die Treue zum Glauben bewahrt und verteidigt durch St. John Fisher, William Warham und durch St. Thomas Morus, übrigens unterstützt und hochgeschätzt vom englischen König Heinrich VIII. ( dieser wurde dafür vom Papst mit dem Titel Fidei defensor ausgezeichnet).
1526 möchte König Heinrich VIII. seine Ehe mit Katharina von Aragon lösen. In den darauffolgenden Jahren bricht der englische König mit der katholischen Kirche und mit dem Papst. Die treukatholischen Führer werden verhaftet und eingekerkert.
Ende Juni 1535 wird St. John Fisher, der treu an dem Alten Glauben festhielt, geköpft.
In Juli 1535 besteigt St. Thomas Morus 57-jährig das Schafott und bezeugt durch sein Blut die Unverletzlichkeit des katholischen Ehesakraments. Stark geschwächt durch lange Einkerkerung und Folterung stolpert St. Thomas Morus auf der Leiter aufwärts und es wird ihm respektvoll vom Henker geholfen. Humoristisch und stilvoll bis zum Ende, bedankt sich St. Thomas Morus höflich beim Henker und sagt: „Vielen Dank, mein Freund. Nach unten wird es leichter gehen“.
Soviel Tat, Weisheit, Esprit und Gedanken, und trotzdem soviel Glauben, Demut und Humor bis zum Ende.
Gerade in Zeiten, wo das katholische Eheverständnis durch unklare Schriften, Fußnoten und Uminterpretationen aus allen Herren Ländern unter Druck gesetzt wird, ist das tapfere Beispiel von St. Thomas Morus und St. John Fisher ein leuchtendes Vorbild.
Im Sommer 1519 hatte Erasmus in einem berühmten Brief an Ulrich von Hutten St. Thomas Morus porträtiert. Zum Ende hin beschrieb Erasmus dann Morus als „einen Christen am Hofe“.
Das ist richtig, aber nicht ganz vollständig: Thomas Morus war ein Märtyrer, ein Heiliger – als solcher wurde er auch unter Papst Pius XII. kanonisiert.
Er ist ein leuchtendes Vorbild für unsere Zeit.
Justi epulentur.
Thomas Morus: Utopia, Diogenes Verlag, Zürich 2009 (mit einem Porträt des Autors von Erasmus von Rotterdam).
Text: Amand Timmermans
Bild: Wikicommons
Die Staatsidee selbst ist die größte Utopie. Und je stringenter sie zu verwirklichen gesucht wurde, desto dystopischer wurde die manifeste grausame Wirklichkeit der utopischen Idee.
Es ist weniger die Utopie, die durchaus zu leiten vermag, als die Unversöhnlichkeit mit der ursündhaften Natur des menschlichen Daseins, die hier Schaden birgt. Und es ist mehr die Fantasie eines Staates, eines menschengemachten Gottes, der als perfekte Organisation zu schaffen vermögens sein mag, was der jüdische Gott seinem Volk nicht sein konnte.
Die Utopie eines Übergottes ist der Wahn der Moderne – und es ist der Humanismus, der diesen Wahn in sich trägt, geboren aus einem Christentum, dem der Gott der Väter nicht mehr genug war.
Daher die postmoderne Ambivalenz gegenüber dem Islam, die plötzliche Umwertung aller Werte selbst durch Konservative, die heute sogar die Erscheinung westlicher Dekadenz – und sei es eine Dekadenz christlicher Nächstenliebe – zunehmend offensiv vertreten. Denn der Islam steht für den alten Gott – und er steht gegen die moderne Utopie des modernen, im Grunde bloß freiheitlich angestrichenen Staates. Der nun – schlicht und eben – Massenphänomen sehnsüchtiger Projektion einer Egalisierung ganz persönlicher Schuld ist. Im Staat drücken wir uns um die persönlich zu leistende Sühne und lassen andere bezahlen, die wir euphemistisch einvernehmen.
Letztendlich liegt der Islam falsch und ebenso die Juden. Doch auch wir haben uns furchtbar verrannt.
Wir haben Sein Opfer immer noch nicht wirklich angenommen. In Jesus Christ ist gesühnt, was wir selbst auch nur auszusprechen, nie imstande sind. Er ist Herr. Nehmen wir Ihn an, brauchen wir kein Utopia.
Fragmente dessen, was Sie sagen, kann ich grammatikalisch-syntaktisch erfassen, aber was Sie insgesamt sagen wollen, könnte ich nicht in eigenen Worten wiedergeben. Sie mögen tiefe Gedanken verfolgen, aber Sie können sie nicht nachvollziehbar artikulieren. So weiß man nicht, ob man Ihnen beipflichten oder widersprechen soll. Bedauerlich. Vielleicht nennen Sie sich aber gerade deshalb MisterX, weil Ihre „Aussage“ die große Unbekannte ist.
„Die Utopie eines Übergottes ist der Wahn der Moderne – und es ist der Humanismus, der diesen Wahn in sich trägt, geboren aus einem Christentum, dem der Gott der Väter nicht mehr genug war.“
Ist das nicht die Befindlichkeits- und Zustandsbeschreibung, welche auch zur Tendenz des kirchlichen Modernismus-Phänomens führte, welches Heute virulenter den je in den Vordergrund rückt.
Auch Europa scheint mir als Staatsidee mehr und mehr in jenes Utopia zu gleiten, welches: ein „Massenphänomen sehnsüchtiger Projektion einer Egalisierung ganz persönlicher Schuld ist. Im Staat drücken wir uns um die persönlich zu leistende Sühne und lassen andere bezahlen, die wir euphemistisch einvernehmen.“ Und scheitern „ideale Staatsformen“ nicht aufgrund der Unversöhnlichkeit mit der ursündhaften Natur des menschlichen Daseins?
„Doch auch wir haben uns furchtbar verrannt.
Wir haben Sein Opfer immer noch nicht wirklich angenommen. In Jesus Christ ist gesühnt, was wir selbst auch nur auszusprechen, nie imstande sind“
Passt nicht diese Aussage von Kardinal Marx genau in dieses Denkschema?
Kardinal Marx: „Wir wollen die Schutzmacht sein für das gemeinsame Haus aller Menschen“