(Athen/Brüssel) “Wie wir vor zwei Wochen beschlossen haben, müssen wir diese Praxis des ‚Kommt alle rein‘ stoppen. Wir versuchen es, während wir hier sprechen. Ich richte einen Appell an alle potentiellen illegalen Wirtschaftsmigranten, wo immer sie auch seien: Kommt nicht nach Europa.“ Der so spricht, ist kein gescholtener Rechtspopulist, sondern der Präsident des Europäischen Rats, der Liberalkonservative Donald Tusk. Den Appell richtete er während seines Besuchs in Athen. Der Ratspräsident bereist gerade Griechenland und die Türkei, um eine neue Linie gegen die illegale Masseneinwanderung bekanntzugeben.
Differenzierung zwischen Flüchtlingen und Wirtschaftsmigranten
Tusk führte in Athen eine Differenzierung zwischen Flüchtlingen und illegalen Wirtschaftsmigranten ein. Eine Differenzierung, wie sie bereits im Sommer des Vorjahres von Kritikern der Einwanderungswelle gefordert wurde. Bis vor kurzem wurde jedoch jede mahnende Stimme vom intoleranten Chor des „Alle sind Flüchtlinge und Willkommen und Basta“ erstickt.
Die Zahlen sprechen eine klare Sprache. In Griechenland halten sich Tausende Einwanderer auf, die ins Land gelassen wurden, nun aber nicht weiter können, nachdem Mazedonien die Grenze weitgehend dichtgemacht hat. Im Sommer des Vorjahres hatte die mazedonische Regierung eine entgegengesetzte Linie vertreten und jeden durchgelassen unter der Bedingung, daß er das Land schnell Richtung Norden wieder verläßt. Ganz rigide ist Mazedonien auch heute nicht. Derzeit dürfen täglich bis zu 300 Migranten das Land durchqueren.
Der Grund für den Sinneswandel in Skopje waren die Grenzschließungen durch Ungarn, dann auch durch Österreich, und die Ablehnung des deutschen Verteilungsplans durch die Staaten der Visegrad-Gruppe, darunter auch Tusks Heimat Polen.
Über Griechenland verläuft nun eine neue Schlepperroute nach Albanien und von dort über die Straße von Otranto ins nahegelegene Italien. Athen drückt an der albanischen Grenze beide Augen zu in der Hoffnung, daß durch diese Lücke möglichst viele Migranten aus dem derzeitigen Stauraum Griechenland entweichen.
EU im Wandel: 1.000 Migranten galten 2014 als Katastrophe, 2016 als Ideal
Die mazedonische und die albanische Grenze sind aber nicht das einzige „griechische Problem“. Die Insel Lesbos, unweit der türkischen Küste, ist derzeit mit 75.000 Migranten vollgestopft, manche sprechen sogar von über 100.000. Die Insel selbst zählt nur 86.000 Einwohner.
Nach offizieller griechischer Zählung sind in den ersten beiden Monaten 2016 123.000 Migranten eingetroffen. Die Dunkelziffer, das gibt man auch im Athener Innenministerium zu, liegt „höher“.
Die EU denkt an eine Quotenregelung. Um die Einwanderung „verwalten“ zu können, soll die Zahl der Ankommenden auf 1.000 Personen je Tag reduziert werden. Bis Ende 2014 galt die Zahl 1.000 noch als Notstands-Katastrophe. Nach den Menschenmassen, die sich 2015 unkontrolliert nach Europa drückten, wurde aus dem „Katastrophenwert“ ein „Idealwert“.
Auf die Frage, ob die illegalen Einwanderungsströme sich an solche bürokratischen Wunschvorgaben halten werden, bekommt man von griechischen Regierungsvertretern nur ein mitleidiges Lächeln. Die Sache sehe hier an der Grenze eben ganz anders aus als an einem Schreibtisch in Brüssel, meint auch der griechische Polizeidolmetscher auf Lesbos. Die Maßnahmen müßten, wenn schon, weit vor der griechischen Grenze greifen. Die Parole könne nur lauten: „Abschreckung“.
Tusks Botschaft in Athen – „Abschreckung“
Was der junge Polizist denkt, entspricht dem, was inzwischen auch Donald Tusk mit seinem Anti-Migrations-Appell von sich gibt. Die Staaten der Visegrad-Gruppe verschaffen sich Gehör. Trotz harter Prügel, die sie aus Brüssel und anderen Staatskanzleien beziehen, haben sie sich nicht gebeugt. Selbst das bisher besonders hart auf Ungarn einprügelnde österreichische Regierung, ist inzwischen auf den Visegrad-Zug aufgesprungen, natürlich ohne dies offiziell zuzugeben. Da ist es wohl eine Ironie der Geschichte, daß der neue österreichische Verteidigungsminister und rote „Migrationsbeauftragte“, Hans Peter Doskozil (SPÖ), aus dem Burgenland – dem ehemaligen Deutsch-Westungarn – nach Wien geholt wurde, wo er zuvor Landespolizeidirektor war.
Tusks Athener Appell vertritt polnische und europäische Interessen. Tusks Partei, die Bürgerplattform, verlor im vergangenen Jahr zuerst das Amt des Staatspräsidenten und dann auch die Mehrheit im Parlament. Die Regierung in Warschau stellt seither die katholisch-konservative Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS). Der amtierende polnische Präsident Andrzej Duda (PiS) ist nicht gewillt, dem EU-Verteilungsplan der illegal in die EU gelassenen Migranten zuzustimmen. Warschau verweist darauf, daß diese Flüchtlinge und Wirtschaftsmigranten nicht aus angrenzenden Staaten im Sinne des internationalen Völkerrechts stammen. Polen grenze an die Ukraine, einem Krisengebiet, was dem Land humanitäre Verpflichtungen auferlege.
EU in der größten Krise ihrer Geschichte: „Schlimmer als die Finanzkrise“
Wie schwer die europäische Krise ist, zeigt die Problemlosigkeit, mit der derzeit Staaten die Grenzkontrollen wieder einführen. Was gestern noch als unmöglich galt und als antieuropäischer Vertragsbruch bezeichnet wurde, geht heute anstandslos. Die Grenzkontrollen haben das Schengen-Abkommen faktisch aufgehoben. Das Beispiel zeigt, was von an angeblich Unmöglichen bei entsprechendem Willen alles möglich ist. Es zeigt auch, wie sehr sich Politiker der Einzelstaaten in anderen Fragen gegenüber dem eigenen Volk hinter angeblich verbindlichen Vorgaben Brüssels verstecken.
Die Einwanderungsfrage ist inzwischen zum vielseitigen politischen Druckmittel geworden. Die Nationalstaaten zeigen plötzlich neue Lebenskraft. Brüssel übt Druck auf die Visegrad-Staaten aus, die auch sonst gegenüber der neuen, relativistischen „Wertewelt“ der EU aus der Reihe tanzen. Paris droht London und versucht zusammen mit Brüssel und Berlin die britischen EU-Austrittsgelüste zu bändigen. Griechenland und Italien wollen mehr Geld von Brüssel, weil sie von der Migrationswelle besonders „belastet“ seien. In den EU-Geberländern wächst der Unmut über die südländischen Begehrlichkeiten, auch noch Geld dafür zu wollen, daß bisher alle Migranten „Willkommen“ geheißen und möglichst schnell über die Grenze nach Norden weitergeschoben wurden.
Österreichs „Modell“ mit Ablaufdatum
Ein Modell, das auch Österreichs Bundeskanzler Werner Faymann (SPÖ) lange Monate – von den heimischen Medien‑, Kirchen- und Kulturvertretern umjubelt – zum Unmut des bayerischen Nachbarn praktizierte. Während das CSU-geführte München etwas verschämt, und gegen den Willen Berlins, hinter der Grenze punktuelle Polizeikontrollen einführte, deren Effizienz bezweifelt werden darf, aber den Bürgern zumindest etwas guten Willen signalisierte, kontrollierte die benachbarte tschechische Polizei längst offiziell, systematisch und direkt an der Grenze zu Österreich.
Tusks Appell ist daher auch als Versuch eines Strategiewechsels zum Erhalt der Europäischen Union zu sehen. Denn die scheint durch das katastrophale Krisenmanagement des Vorjahres (Stichwort „Willkommenskultur“) an allen Ecken leckgeschlagen. Der Ausschluß Griechenlands aus dem Schengen-Raum steht ebenso im Raum wie der Abschied Großbritanniens aus der EU, sollte sich das britische Stimmvolk in dreieinhalb Monaten mehrheitlich für den EU-Austritt aussprechen. Beide Szenarien könnten die EU in ihrer bisherigen Form, schneller als gedacht, zur Vergangenheit machen.
Steht die EU hinter Tusk?
Tusk ist ein polnischer Politiker. Kein deutscher Politiker in seiner Position hätte so gesprochen, wie er es getan hat. Das bedeutet auch, daß Tusk für seinen Appell von Athen nicht unbedingt damit rechnen kann, die EU-Gremien und das Bundeskanzleramt in Berlin hinter sich zu haben. Vielleicht hatte deshalb sein Aufruf streckenweise etwas von einem Flehen in der Art: Bitte, ihr illegalen Wirtschaftsmigranten, kommt nicht, denn wir können nicht mehr.
In diesem Zusammenhang ist auch Tusks Zusicherung an die syrischen Nachbarstaaten zu verstehen nach dem Motto: Wir zahlen, aber behaltet euch die Flüchtlinge. Wörtlich sagte Tusk: „Während wir die Kontrollen an unseren Außengrenzen verstärken, müssen wir auf massive Weise unsere Unterstützung für die syrischen Flüchtlinge und die Staaten, die an Syrien grenzen, erhöhen und zudem den Mitgliedsstaaten helfen, die am stärksten von den negativen Folgen der Krise betroffen sind, besonders Griechenland.“
Tusk versicherte dem griechischen Ministerpräsidenten Alexis Tsipras, daß Griechenland nicht aus dem Schengen-Raum ausgeschlossen werde. „Griechenland von Schengen auszuschließen, ist weder ein Ziel noch ein Mittel“ der europäischen Politik, wie Tusk über Twitter mitteilte.
Nach dem Geldregen für die Türkei will auch Griechenland einen Anteil
Nach dem großzügigen Geldregen, den Bundeskanzlerin Merkel über die Türkei ausschüttete, fordert auch Tsipras finanzielle Hilfe. Tusk sprach von „höchster Dringlichkeit“ und begrüßte die Ankündigung der EU-Kommission, den Mitgliedsstaaten eine Notstandshilfe in Höhe von 700 Millionen Euro zur Verfügung zu stellen. Griechenland wird am meisten davon profitieren, denn „es muß eine außerordentliche humanitäre Krise bewältigen“, so Tusk.
Tsipras provoziert zugleich, um den Preis nach oben zu treiben, und forderte „Sanktionen“ gegen jene EU-Staaten, die die Handhabung des Migrantenflusses durch einseitige Grenzmaßnahmen behindern würden. Damit sind nicht nur Österreich und Ungarn, sondern auch Polen gemeint. Der Adressat ist allerdings Brüssel und Berlin, denn dort liegen die Schlüssel zum EU-Tresor.
Wie aber steht es um den griechischen Willen zur Grenzsicherung gegenüber der Türkei? Am kommenden 7. März wird zum Thema in Brüssel ein türkisch-europäischer Gipfel stattfinden. Beobachter gehen davon aus, daß das Ergebnis vor allem neue Geldzusagen an Ankara sein werden, in kleinerem Umfang wahrscheinlich auch an Athen. Ob das die EU-Außengrenze sicherer macht, daran wird gezweifelt.
Die Türkei ist derzeit das Haupttransitland. Ankara hat damit ein Mittel in der Hand, die EU schwitzen zu lassen. Tusks Hilfsangebot an die Nachbarstaaten Syriens ist wichtig, doch betrifft das bestenfalls ein Drittel des Migrantenstroms. Wie das vergangene Jahr zeigte, steht auf der EU-Eintrittskarte zwar Syrien drauf, doch zwei Drittel der Migranten kamen aus ganz anderen Weltgegenden.
Glaubwürdigkeitskrise der Politik
Tusk unterschied in Athen erstmals zwischen Flüchtlingen und illegalen Wirtschaftsmigranten. Genau diese Differenzierung fordern die Europäer. Genau in diesem Punkt fühlten sich Bundesdeutsche und Österreicher im vergangenen Jahr von den eigenen Regierungen im Stich gelassen. Denn das Unbehagen, daß Veränderungen in der eigenen Heimat und im eigenen Lebensumfeld stattfinden, die man so gar nicht will, deren Folgen und Probleme unabsehbar sind und denen man sich ohnmächtig ausgeliefert fühlt, hat beträchtliche Teile auch der deutschen Bevölkerung erfaßt. Und nicht wenige wünschten sich eine Regierungslinie wie jene von Budapest oder Warschau. Selbst in Wien ticken die Uhren in diesem Punkt inzwischen anders als in Berlin.
Vielleicht besteht also Hoffnung, daß auch andere Differenzierungen bei der hohen Politik ankommen und im Zusammenhang mit dem Nahost-Konflikt auch die Frage der verfolgten Christen zu einem Thema wird.
Ein Nachbarland Syriens ist übrigens auch die Türkei und damit vom Völkerrecht verpflichtet, sich um die Flüchtlinge zu kümmern. Ankara hat daraus in mehrfacher Hinsicht ein Geschäft mit der EU gemacht. Ganz abgesehen davon ist der Nachfolgestaat des Osmanischen Reiches Partei im Nahost-Konflikt. Damit ist nicht nur die Frage der Kurden gemeint, gegen die Ankara im eigenen Land, im Nordirak und in Nordsyrien Krieg führt.
„Glaubt nicht den Schleppern. Riskiert nicht euer Leben: Es bringt nichts!“
Tusk sagte in seinem Athener Appell: „Glaubt nicht den Schleppern. Riskiert nicht euer Leben und euer Geld: Es bringt nichts. Griechenland und kein anderes europäisches Land werden mehr ein Transitland sein. Die Schengen-Regeln werden eingehalten werden.“
Die südlichen EU-Staaten müssen den Worten Tusks noch Taten folgen lassen, damit die Botschaft in den verschiedenen Weltteilen ankommt. Tusks Worte haben jedoch jene Mauer eingerissen, die 2015 in seltener Einmütigkeit zwischen Regierungen, „Leitmedien“ und der politischen Linken errichtet worden war. Eine Mauer der Desinformation und der Gängelung, mit der jeder Einwanderer zum „Flüchtling“ und „Flüchtlingshilfe“ zur bedingungslosen Pflicht erklärt und dagegen kein Widerspruch geduldet wurde.
Tusk ist der bisher ranghöchste europäische Politiker, der bewußt der „Flüchtlingslüge“ widersprochen hat. Daß es ein Pole ist, ein Politiker, der zwischen Warschau und Brüssel zwischen zwei Stühlen sitzt, ist kein Zufall. Die Wortführer der „Willkommenskultur“ werden wahrscheinlich reagieren. Tusk hat aber jene ehrlichen Worte ausgesprochen, die man sich von ehrlichen Politikern erwarten darf. Er hat den Wirtschaftsmigranten die Rute ins Fenster gestellt mit der Frage: „Fragt euch: Lohnt sich der Aufwand wirklich?“
Text: Andreas Becker
Bild: NBQ