(Paris) Der französische Schriftsteller Voltaire, eigentlich François-Marie Arouet (1694–1778) gilt als „Vater der Aufklärung“ und als „Papst des Laizismus“. Ganz anderer Ansicht ist die französische Schriftstellerin und Historikerin Marion Sigaut. Voltaire habe „die Wirklichkeit verzerrt, um seine fixen Ideen zu rechtfertigen. Sein Anliegen war nicht die Wahrheit, sondern die Zerstörung des Christentums“, so die namhafte Pariser Autorin, die heute in Burgund lebt.
Marion Sigaut, Historikerin und Schriftstellerin
Im Alter von 18 Jahren schloß sie sich den 68er Studentenprotesten an, machte sich linkes Gedankengut zu eigen und wurde in der feministischen Bewegung aktiv. Als überzeugte Zionistin ging sie Anfang der 1970er Jahre nach Israel und schloß sich einem Kibbuz an. Aufgrund dieser Erfahrungen distanzierte sie sich später vom Zionismus und wandte sich der katholischen Tradition zu.
Sie studierte Geschichte in Paris und debütierte 1989 mit ihrem ersten Roman „Le Petit Coco“. Ihre ersten fünf Romane befassen sich mit Israel und dem israelisch-palästinensischen Konflikt und tragen autobiographische Züge. Ihr zweiter Roman erschien 1992 unter dem Titel „Das Herz zweier Welten“ auch in deutscher Übersetzung.
Als Historikerin befaßt sich Sigaut vor allem mit dem 18. Jahrhundert, mit dem Ancien Regime in seiner Endphase, der Aufklärung und der Französischen Revolution. Sigaut spricht von einer „Notwendigkeit, die Geschichtsschreibung zu korrigieren“. Vor allem die katholische Kirche und die Katholiken würden in den Geschichtsbüchern, wie sie an den Schulen benützt werden, verzerrt dargestellt. Auch das sei, unter anderem, ein „Erbe der Aufklärung“, so Sigaut. Über Voltaire legte sie 2014 das ebenso vielbeachtete wie angefeindete Buch „Voltaire – Une imposture au service des puissants“ (Voltaire – Ein Betrüger im Dienst der Mächtigen) vor.
Der Literaturwissenschaftler, Historiker und Theologe Giuseppe Reguzzoni, Übersetzer zahlreicher Schriften von Joseph Ratzinger, Walter Kasper und Christoph Schönborn ins Italienische, führte mit Marion Sigaut ein Gespräch über Voltaire, das in der Wochenzeitschrift Tempi veröffentlicht wurde.
Gespräch über Voltaire
Nach einer langjährigen Forschungstätigkeit räumt Sigaut mit Vorurteilen auf, die noch heute die Zeit der Aufklärung im apologetischen Tonfall darstellen. Ihre erste Arbeit zum Thema war das 2008 veröffentlichte Buch „La Marche rouge, les enfants perdus de l’hopital general“. Darin schildert Sigaut die dunklen Seiten einer jansenistischen Einrichtung in Paris, die Schauplatz eines gigantischen Kinderhandels war. 2011 folgte eine Aufsatzsammlung über die vorrevolutionäre Zeit „De la centralisation monarchique à la révolution bourgeoise“. Mit „Voltaire – Une imposture au service des puissants“ wagte sie schließlich den Angriff auf den Säulenheiligen des französischen Laizismus. „Eine sehr genau dokumentierte, aber politisch völlig unkorrekte Studie“, so Reguzzoni. Sie „beweist nicht nur ihre große historische Kompetenz, sondern vor allem ihren Mut als Forscherin, die nur einer ehrlichen Suche nach der Wahrheit der Fakten verpflichtet ist“.
Reguzzoni: Warum Voltaire? Warum ist rund um diese Persönlichkeit noch eine maßlose Schwärmerei zu registrieren, mehr sogar noch als es bei seinen Zeitgenossen der Fall war.
Sigaut: Ich wollte nicht über Voltaire arbeiten, bin ihm aber im Laufe meiner Forschungen begegnet, was unausweichlich ist, wenn man sich für das 18. Jahrhundert interessiert. Ich war erstaunt, zu entdecken, welches Gefälle das trennt, was gesagt wird von dem, was war. Unglaublich. Die Lüge ist so enorm, daß sich mir der Wunsch geradezu aufgedrängt hat, das richtigzustellen. Es war notwendig, die Wahrheit zu sagen. Die Schwärmerei für Voltaire ist der Maßstab für die verlogene Enormität, die das System über unsere Vergangenheit verbreitet. Das Publikum liebt einen Voltaire, den es nie gegeben hat. Was es wirklich bewundert, ist die Intelligenz, die Großzügigkeit, den Mut, den Einsatz für eine gute Sache, eben alles, von dem man es glauben läßt, daß Voltaire es verteidigt habe. Die Lüge ist einfach zu groß.
Reguzzoni: Aber Voltaire wurde zweimal in die Bastille gesperrt! Auch deshalb wird er noch heute als Symbol der Gedankenfreiheit präsentiert. Sie schreiben hingegen in Ihrem Buch, daß der damals 22jährige Voltaire nur ganz kurz in der Bastille war wegen seines Pamphlets Puero regnante, mit dem er sich der Beleidigung des Staatsoberhauptes schuldig gemacht hatte, ein Verbrechen, auf das auch heute in unserer Rechtsordnung Gefängnis steht. Kann man die Voltairesche Hagiographie kritischer lesen? Kann man Voltaire historisch objektiver lesen, ohne die Dogmen der Gedankenfreiheit zu übertreten?
Sigaut: Voltaire zu kritisieren, bedeutet, all das in Frage zu stellen, was uns über unsere Vergangenheit erzählt wird. Das gegenwärtige System läßt uns glauben, daß die Aufklärung eine Erlösungsbewegung für das Volk und die Französische Revolution eine Volkserhebung war, daß Voltaire die Meinungsfreiheit verteidigte, daß die Könige Tyrannen waren und daß die katholische Religion barbarisch war. Die Wirklichkeit ist das genaue Gegenteil. Die Aufklärung war eine elitäre Bewegung voll der Verachtung für das Volk. Die Revolution war eine Reihe von blutrünstigen und barbarischen Staatsstreichen. Voltaire war ein Monster. Unsere Könige waren Beschützer und die katholische Religion war die tragende Säule der schönsten Werte unserer Zivilisation. Voltaire zu kritisieren, bedeutet, die Gedankenfreiheit wiederzuentdecken.
Reguzzoni: Genau, die Eliten… Voltaire liebte weder das Volk noch die Ausgegrenzten, die er zutiefst verachtete, so wie er die Schwarzen verachtete, die er als „sprechende Tiere“ bezeichnete, und die Juden. War Voltaire, der Autor der „Abhandlung über die Toleranz“, ein toleranter Mann?
Sigaut: Voltaire war wohl vielmehr der Intoleranteste unter seinen Zeitgenossen. Sein ganzes Leben kämpfte er dafür, jene in die Bastille sperren zu lassen, die er nicht leiden konnte, und dafür, die Schriften zu verbieten, die ihn in den Schatten stellten. Sein Kampf für die Toleranz bestand ausschließlich darin, die Katholiken fälschlicherweise der Intoleranz zu beschuldigen und die Toleranz zu ihrem Schaden zu predigen. Seine „Abhandlung über die Toleranz“ ist ein Lügengewebe. Eine Schande.
Reguzzoni: In der Tat scheint es, daß die französischen Philosophen der Aufklärung gar nicht so tolerant waren und das nicht nur gegenüber der „Infamen“, wie sie die katholische Kirche nannten, sondern auch untereinander, wie Rousseau bezeugen könnte.
Sigaut: Als sich Voltaire und Rousseau kennenlernten, war letzterer noch jung und wenig bekannt, während Voltaire bereits einige bekannte Werke auf seinem Habenkonto hatte. Der Konflikt begann nach 1750 nach der Veröffentlichung von Rousseaus „Abhandlung über die Wissenschaften und Künste“. Voltaire betrachtete herablassend die Art, mit der der junge Genfer Philosoph jene aristokratische Finesse kritisierte, die ihm hingegen so gut gefiel. Voltaire frequentierte vor allem Adelige und Privilegierte und lehnte die radikale Anklage der sozialen Ungleichheit durch Rousseau ab. Es handelte sich nicht nur um einen intellektuellen Streit. Voltaire ging soweit, Rousseau anzuzeigen. Er wollte ihn im Gefängnis sehen und zögerte nicht, mit aller Härte die Privatsphäre seines Rivalen anzugreifen. Er beschuldigte Rousseau, die fünf Kinder im Stich gelassen zu haben, die er mit Thérà¨se Levasseur gezeugt hatte. Es war ein ungleicher Kampf, bei dem Rousseau ausgegrenzt und verleumdet wurde.
Reguzzoni: Sagte Voltaire aber nicht, daß er bereit sei, dafür zu sterben, daß auch wer nicht so dachte wie er, seine Meinung sagen kann?
Sigaut: Voltaire war bereit, jene hinrichten zu lassen, die ihn überschatteten. Der Satz, der ihm zugeschrieben wird: „Ich bin nicht einverstanden mit dem, was Sie sagen, aber ich werde mein Leben dafür geben, daß Sie es sagen dürfen“, ist eine bloße Erfindung. Der Satz wurde nie von Voltaire geäußert. Er ist in seiner Aussage eine gigantische Gegen-Wahrheit, die in keiner Weise auf Voltaire zutrifft.
Reguzzoni: Warum bezeichnen Sie Voltaire in Ihrem Buch als einen „historien menteur“, einen betrügerischen Historiker? Was war die Geschichte für Voltaire?
Sigaut: Die Geschichte war für Voltaire ein Propagandainstrument, um seine Ideen durchzusetzen: den Liberismus [1]italienischer Begriff Liberismo, geprägt vom Philosophen Benedetto Crose für einen Laissez faire-Kapitalismus, heute im Englischen zum Teil mit Neoliberalismus in Verbindung gebracht, die Unterwerfung der Niedrigen und den rasendste Elitarismus. Wenn man beachtet, was er über die Affäre Calas, den Fall des Chevalier de la Barre oder die Affäre Damiens schrieb, so besteht alles aus einer Verzerrung der Wirklichkeit, um seine fixen Ideen zu rechtfertigen. Die Wahrheit war nicht sein Problem, die war ihm egal … Da er aber wußte, was das Publikum hören wollte, nützte er das: „Mein ganzes Leben lang, habe ich die Wahrheit gesucht“, ist seine größte Lüge. In der Affäre Calas beispielsweise begann er seine Kampagne für die Rehabilitierung noch bevor er überhaupt Hergang und Ausgang der Sache kannte. Die Wahrheit war die letzte seiner Sorgen. Er wollte „die Infame zerschmettern“, das heißt, die Katholizität zerstören. Um den Preis aller seiner Lügen.
Reguzzoni: Ein Meister der Propaganda. Die Affäre Calas: In den Geschichtsbüchern liest man, daß durch Voltaire ein Mann rehabilitiert wurde, der verurteilt worden war, weil er seinen eigenen Sohn getötet hatte. Verschwiegen wird das Motiv der Tat, daß der Sohn zur katholischen Kirche konvertiert war. Calas gehörte der protestantischen Minderheit an. Es waren die protestantischen Kreise, deren wichtigster Vertreter der Schweizer Necker war, der später Finanzminister wurde, die eine Wiederaufnahme des Verfahrens betrieben. In Wirklichkeit wurde das Verbrechen nicht widerlegt. Der Prozeß wurde vielmehr aufgrund eines Formfehlers für ungültig erklärt. In Ihrem Buch liefern Sie auch für den Fall des Chevalier de la Barre eine neue Version, der wegen Verunglimpfung des Kreuzes und Verhöhnung einer religiösen Prozession hingerichtet wurde. An anderer Stelle haben Sie geschrieben, ich fasse zusammen: „Ich habe nie behauptet, daß La Barre nicht unter religiösem Vorwand hingerichtet wurde, aber, daß das weder das Werk der Kirche war noch auf ihren Druck hin geschehen ist. Im 18. Jahrhundert mischten sich weltliche Richter weit mehr in kirchliche Angelegenheiten ein, als umgekehrt die Kirche in den weltlichen Bereich. Das ist eine Tatsache. Dieselben Richter, völlige Laizisten, gehörten nicht der katholischen Kirche an und oft bekämpften sie sie sogar, indem sie Sakrilege zum Vorwand nahmen.“ In Ihrem Buch zeigen Sie auf, daß solche Urteile wegen Gotteslästerung und Verunglimpfung in Gefängnis- oder Geldstrafen umgewandelt wurden. In diesem Fall wollten die aufgeklärten und antiklerikalen Richter einen Fall schaffen, auf den Voltaire dann aufsprang und ihn zum Vorwand nahm, um einen Frontalangriff gegen das Christentum zu reiten, das er als Wurzel jeglicher Intoleranz behauptete. Warum ist es wichtig, diese Episode korrekt zu rekonstruieren?
Sigaut: Der Fall des Chevalier de la Barre ist von grundlegender Bedeutung für die antikatholische Argumentation. Er grenzt schon an Hexenjagd. Wann immer man die Kirche der Barbarei beschuldigen will, wenn man behaupten will, daß die Botschaft des Evangeliums ein Betrug sei und das Christentum blutrünstig ist, werden in Frankreich die Scheiterhaufen und der Fall La Barre hervorgeholt. Doch alles, was wir über den Fall La Barre wissen, wurde von Voltaire erfunden. Voltaire ist der Lügner der Republik.
Reguzzoni: Er fälscht die Geschichte auf umfassende Weise und bereitete seine Version, die noch heute, auch durch die Schule, weite Verbreitung findet, jene, daß die Religion die Mutter jeder Intoleranz sei. Kehren wir also ins Heute und Jetzt zurück. Sofort nach den Terroranschlägen von Paris vor zwei Monaten riefen in Italien zahlreiche Schuldirektoren dazu auf, der Opfer durch eine Lektüre aus Voltaires „Abhandlung über die Toleranz“ zu gedenken. Gegen den Dschihad (sofern die offizielle Version wahr ist) wurde an die Laizität und die Neutralität des Staates und der Schule appelliert. Gleichzeitig haben Schulen kurz danach Weihnachtslieder verboten… Letztlich ist das dieselbe Linie, die auch von der Regierung Hollande vertreten wird, nur noch radikaler: Die Laizität gegen die Identität. An der Mailänder Scala wurde bei der Saisoneröffnung am 7. Dezember Johanna von Orleans wie eine Dschihadistin dargestellt, fanatisch und unmoralisch. Im Klartext lautet die Botschaft: Voltaire und nicht Jeanne d’Arc. Ist Voltaire die Antwort auf den islamischen Fanatismus?
Sigaut: Voltaire ist vor allem ein Feind des Volkes. Er war antikatholisch, weil das Volk katholisch war, und er war überzeugt, daß es versklavt werden sollte. Wir können uns gar nicht mehr vorstellen, um wieviel freier unsere Vorfahren waren. Die Staatslaizität ist eine Lüge. Sie bedeutet, daß der Staat freimaurerisch ist und nicht laizistisch. Die wahre Laizität ist jene, die Jesus definiert hat: „Gebt dem Cäsar, was des Cäsars ist und Gott was Gottes ist.“ Die Eliten wollen die Religion aber nicht zerstören, sondern kontrollieren. Vor allem Voltaire wollte, daß im Volk eine Religion erhalten bleibt, um es besser kontrollieren und dienstbar machen zu können. Was sie zerstören wollten und wollen, ist die Unabhängigkeit der Kirche. Johanna von Orleans war eine Frau des Herzens und des Glaubens, die dem Unglück ein Ende bereiten wollte, das auf dem französischen Volk lastete. Mut, Würde, Verleugnung im Kampf, Liebe zum Volk und zu Gott: Wenn das Dschihad sein soll, dann habe ich eine Folge verpaßt. Zu behaupten, sie sei eine Fanatikerin gewesen, ist wirklich irreführend.
Reguzzoni: Gibt es im heutigen Frankreich noch Platz für Johanna von Orleans, einer der von Voltaire am meisten verleumdeten Gestalt der Geschichte? Ist das System Voltaire besiegbar?
Sigaut: Ja. Es gibt noch Platz für das Heldentum in Frankreich. Es wird wiederkehren. Ich weiß nicht, auf welche Art, aber es wird wiederkehren. Das Voltairesche Systems ist nicht nur besiegbar, sondern bereits besiegt. Es ist erledigt. Die Menschen glauben immer weniger daran. Das Internet hat seine Niedertracht offengelegt. Er hat verloren.
Daher treten wir heute in eine neue, sehr gefährliche Phase der Gegenwart ein: Das System weiß, daß es verloren hat und daß es nicht mehr imstande ist, uns zu überzeugen. Es bleibt ihm nur mehr die Gewalt. Heute werden Wahlen mit 15 Prozent der Wählerschaft gewonnen. Die 85 verbleibenden Prozent schauen noch fern, aber sie haben auch Internet. Erzählt uns das System eine Lüge, ist sie schon entlarvt, ehe es Abend wird.
Einleitung/Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Tempi/Marion Segaut (Screenshots)
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↑1 | italienischer Begriff Liberismo, geprägt vom Philosophen Benedetto Crose für einen Laissez faire-Kapitalismus, heute im Englischen zum Teil mit Neoliberalismus in Verbindung gebracht |
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