von Wolfram Schrems*
Im Anschluß an die Buchbesprechung vom 26. November soll nun, wie angekündigt, auch der zweite Sammelband, nämlich Kardinal Pie von Poitiers – Alles in Christus erneuern, Bischofsworte zur Wiedererrichtung einer christlichen Gesellschaft, wiederum von Michael Fiedrowicz herausgegeben, der interessierten Leserschaft zur Kenntnis gebracht werden. Dabei ist sehr zu wünschen, daß die Stimme Pies auch den Weg in die zeitgenössischen bischöflichen Kanzleien findet.
Der Band enthält eine ausführliche Einleitung zu Leben und Werk von Kardinal Pie (1815 – 1880) und 48 kurze oder längere Texte zu den Themen übernatürliche Ordnung, Kirche und Gesellschaft, wobei am Schluß einige Betrachtungen der Endzeit gewidmet sind.
Im folgenden ein kurzer Durchblick.
Die europäische Zivilisation als Frucht des Christentums – ohne Glaube keine Zivilisation
Pie weist nachdrücklich auf den Charakter unserer Kultur als Folge der kollektiven Entscheidung für den christlichen Glauben vor etwa eineinhalb Jahrtausenden hin. Auch heute zehrt man noch davon – ohne allerdings Substanz nachzulegen. Darum klingt es sehr ungewohnt, was Pie in diesem Zusammenhang sagt:
„Das christliche Europa wußte aus Erfahrung, daß es durch seinen Einsatz für den katholischen Glauben die Grundlagen seines eigenen Bestehens schuf und sicherte“ (71).
Der Blick in die Geschichte ist immer lehrreich und Pie sollte besonders für das 20. Jahrhundert und die Gegenwart recht behalten:
„Der Bankrott aller Versuche, ohne das Christentum eine politische und soziale Ordnung zu etablieren, wurde geradezu zu einem Beweis a posteriori, um das christliche Recht zu verteidigen“ (76).
Offenbarung und Philosophie
Was Pie zur Verhältnisbestimmung von Vernunft und geoffenbartem Glauben sagt, gehört zum Besten, was man überhaupt zu lesen bekommt.
Pie geht es einerseits darum, daß die rein natürliche Vernunft, somit auch die rein natürliche Ethik aus sich kein Heil schaffen kann – und das beweist wiederum die Geschichte, die „Fackel der Philosophie“:
„Wir weisen ausdrücklich der Vernunft alles zu, was die Kirche ihr zuweist; wir räumen gleichzeitig und ohne engherzige Bestreitung alles ein, was die Kirche nicht verbietet, ihr einzuräumen. Aber wir erklären, daß der bestmögliche Gebrauch der einfachen Vernunft, die vollkommenste Praxis der rein natürlichen Moral und Tugend nicht zum Heil führen können und da, abgesehen vom Fall unüberwindlicher Unwissenheit, mit dem wir uns momentan nicht beschäftigen wollen, der anständige Weltmensch, der sich von den Lehren und Praktiken der geoffenbarten Religion fernhält, nicht nur nicht zur Seligkeit des Himmels gelangen, sondern auch die Straßen zur Hölle nicht vermeiden könnte“ (103).
Gleichzeitig stellt aber Pie das Evidenteste fest, nämlich daß es genau die Katholische Kirche ist, die der Vernunft, dem gesunden Menschenverstand und der natürlich erkennbaren Ethik Heimatrecht gibt. Es ist daher kein historischer Zufall, daß die „mittelalterlichen“ Klöster die Weisheit nobler heidnischer Denker wie Platon, Aristoteles und Cicero durch die dunklen Jahrhunderte tradierten.
Die Lehre Pies ist deswegen so wertvoll, weil sie beide Straßengräben, nämlich einen übertriebenen Optimismus der „autonomen“ Vernunft als auch einen protestantischen und jansenistischen Vernunftpessimismus, vermeidet:
„Nein, tausendmal nein, Sie werden niemals lehren, daß ‚die natürlichen Tugenden falsche Tugenden sind, daß die natürliche Geistesgabe eine falsche Geistesgabe ist‘; nein, Sie werden gar keine ‚starke Argumentation gegen die Vernunft verwenden, um ihr mit entscheidenden Gründen zu beweisen, daß sie ohne den Glauben nichts vermag‘. (…) Die römischen Enzykliken haben Sie gelehrt, daß, wenn Sie die Vernunft abwerten, Sie das Subjekt zerstören würden, an das sich der Glaube richtet und ohne dessen freie Zustimmung der Glaubensakt nicht existiert“ (106).
Was aus der von Gott abgekoppelten Intelligenz folgt, sehen wir heute:
„Die Intelligenz des Mannes will nicht mehr dem Evangelium anhängen, (…) sie hängt den törichten Geheimnissen, den absurden Dogmen der Häresie oder des Unglaubens an“ (172).
Glaube und „Ethnopluralismus“
Die Gesellschaft ist natürliche Grundlage der kirchlichen Sendung. Die Kirche ist daher praktisch die einzige Institution, die den – neuerdings von patriotischen Autoren so genannten – „Ethnopluralismus“ gegen die von starken politischen Kräften betriebene Einebnung und Vermischung (fast) aller Völker verteidigt:
„Das Werk der Kirche ist ohne Zweifel ein geistliches Werk, das streng genommen das individuelle Heil einiger Menschen gewährleisten kann, die in der Isolation eines wilden Zustandes leben; aber dennoch ist die Kirche eine Gesellschaft“.
Denn:
„Als Jesus Christus den Aposteln ihre Sendung verlieh, sprach er daher nicht nur zu ihnen: Geht und lehrt die Menschen, sondern ‚Geht und lehrt die Nationen‘ (Mt 28,19). Um aber die Nationen zu lehren, muß es Nationen geben“ (212).
Gegen den „antirömischen Affekt“
Äußerst erfreulich und gegen den damaligen (und heutigen) Zeitgeist gerichtet ist die Synodalinstruktion 1856 über das „Erbe des antiken Roms“. Rom ist bekanntlich seit Jahrhunderten das Lieblingsfeindobjekt von Protestanten und getrennten östlichen Christen, seit einigen Jahrzehnten auch von irgendwie beeinträchtigten Katholiken, besonders von „progressiven“ Priestern, Theologen und Bischöfen. Neuerdings hat man den Eindruck, daß dieser Affekt auch beim „Bischof von Rom“ selbst existiert.
Bei der antirömischen Polemik wird völlig übersehen, daß die Trennung von Rom den vier östlichen Patriarchaten den politischen Untergang und die kirchliche Marginalisierung gebracht hat. Jede Aversion einer Teilkirche gegen die römische Führung vergrößerte den – illegitimen – Einfluß der jeweiligen weltlichen Macht (übrigens auch in Frankreich, was Pie sehr gut wußte).
Kardinal Pie stellt grundsätzlich fest:
„Das christliche Rom hat mit weit mehr Wahrheit als das antike Rom nur für den Frieden und das Glück der seiner Herrschaft unterstellten Völker regiert, und regiert so noch immer.“
Dann fährt er mit einer äußerst scharfsinnigen Analyse zur lateinischen Sprache fort:
„Indem [Roms] Sprache zum mächtigsten Mittel der Autorität wie der religiösen Einheit geworden ist, hat sie der Verwirrung und der Anarchie Babylons ein Ende bereitet. Und wenn diese Sprache die Sprache des Souveräns ist, so ist sie auch die Sprache der Freiheit: überall dort, wo sie nicht regiert, werden Sie Knechtschaft finden“ (250f).
Von daher muß man die faktische Abschaffung des Lateinischen in der – immer noch so genannten – Lateinischen Kirche als Monstrosität und Verbrechen begreifen.
Pie als Prophet politischer Entwicklungen
Pie kritisierte in einem Brief an den in Brasilien inhaftierten Bischof von Para 1874 den liberalen Katholizismus und verurteilte ein Schlagwort, das – in einer ähnlichen Formulierung – seit dem „Mariazeller Manifest“ 1952 in Österreich den Weg ins Desaster weisen sollte („freie Kirche in einer freien Gesellschaft“):
„Freie Kirche im freien Staat, so wie es diese Sektierer verstehen, bedeutet eine stumme Kirche gegenüber einem Staat, der frei ist, das natürliche Gesetz und das christliche Gesetz zu verletzen, ohne daß ihm irgendein Einwand gemacht werden könnte. Und wenn das Priestertum seine Stummheit aufgibt, obwohl es im Bereich der moralischen und geistlichen Ordnung handelt, ohne irgendein Mittel äußeren Zwanges, wird es selbst angeklagt und überführt, einen Anschlag auf die Gesetze und öffentlichen Freiheiten auszuüben“ (301).
Hier sind wir jetzt angekommen.
Eine überraschende und aufklärungsbedürftige Lücke
Was den geschichtsbewußten Leser frappiert, ist eine überraschende Lücke im Werk Kardinal Pies. Er geht nämlich nirgends auf die Marienerscheinungen seiner Zeit ein. Das verwundert sehr. Kein Wort zur Rue du Bac (1830), zur apokalyptischen Botschaft von La Salette (1846) und auch nicht zu Lourdes (1858), das doch beim Tod des Kardinals zum Massenphänomen geworden war!
Der Verlag teilte mir mit, daß sich „im detaillierten Register (…) keine Hinweise auf die genannten Erscheinungen (finden), so daß Kard. Pie sie offenkundig in den Predigten nicht angesprochen hat, obwohl er ein großer Marienverehrer war“.
Das ist mir völlig unerklärlich. Vielleicht kann hier Prof. Fiedrowicz einmal Aufklärung schaffen.
Äußerst bemerkenswert: Lobrede von Jesuitenkardinal Billot
Der Herausgeber gab als Appendix eine Laudatio auf Kardinal Pie anläßlich dessen hundertsten Geburtstags 1915 bei. Louis Billot S. J. (1846 – 1931), der 1911 vom hl. Papst Pius X. zum Kardinal kreiert wurde, dieses Amt aber im Streit mit Pius XI. über die Action Française 1927 zurücklegte, bot seinerseits eine präzise Kritik der Apostasie seiner Zeit. Er sprach ausdrücklich von einer „Verschwörung von Männern der Kirche“, die „das Vorhaben der äußeren Antichristen“ weiterführten. Sein Glaubenssinn ließ ihn die bewußt orchestrierte Krise in Bibelwissenschaft, Dogmatik, Gesellschaft, Philosophie u. a. scharfsinnig analysieren.
Es ist von einer kaum zu überbietenden Tragik, daß es ausgerechnet die Mitbrüder Kardinal Billots aus dem Jesuitenorden waren, die die von ihm beklagte Vernichtung in Theologie, Kirche und Gesellschaft am effektivsten weiterbetrieben. Insofern war der 2012 verstorbene modernistische Jesuitenkardinal Martini ein radikales Gegenbild zu Billot wie auch zu Pie.
Keiner der beiden hätte sich träumen lassen, welche Positionen einmal sogar Papst aus dem Jesuitenorden vertreten würde. Sie hätten ihn wohl als Gegenpapst eingestuft.
Resümee
Die Texte öffnen die Augen für das Ausmaß des erschreckenden Glaubensabfalls, in dem wir jetzt, einhundertfünfunddreißig Jahre nach dem seligen Heimgang von Kardinal Pie, stehen. Wir sehen auch, wie sehr wir seit dem letzten Konzil zum Narren gehalten werden.
Insofern wären die Texte Pies in ihrem tiefen Glaubenssinn, ihrer scharfen Intellektualität und ihrer pastoralen Sorge ein Heilmittel für unsere Zeit.
Mögen die Bischöfe es hören! –
Die Einleitung in das Werk ist wie schon beim Auswahlband aus dem vergangenen Jahr tiefgreifend und aussagekräftig. Über 600 Fußnoten, Literaturverzeichnis und Register zeigen, daß sich der Herausgeber in der Materie auskennt.
Die äußere Gestaltung ist ebenfalls hervorragend gelungen: Umschlaggestaltung, Satz, Typen und Papier sind schön (was das Buch zu einem erlesenen Geschenk macht).
Erfreulicherweise wird keine „neue Rechtschreibung“ verwendet.
Es ist auf den ersten Blick erkennbar, daß ein gewaltiges Ausmaß an Arbeit in dem Band steckt. Da er trotz seiner Qualität und seines Umfanges verhältnismäßig wohlfeil ist, kann er für Herausgeber und Verleger kaum ein großes Geschäft sein. Insofern wird man für die Bereitstellung dieses wichtigen Materials in deutscher Sprache umso dankbarer sein müssen.
Deo gratias.
Kardinal Pie von Poitiers – Alles in Christus erneuern, Bischofsworte zur Wiedererrichtung einer christlichen Gesellschaft, Ausgewählte Texte, herausgegeben und eingeleitet von Michael Fiedrowicz, Carthusianus-Verlag, Fohren-Linden 2015, 352 S.; 28,90 [D], www.carthusianus.de
*MMag. Wolfram Schrems, Linz und Wien, katholischer Theologe, Philosoph, Katechist, langjähriger Dialog mit der kirchlichen Hierarchie
Bild: Wikicommons/Carthusianus-Verlag/Lectures francaises