Hollande: „Wir werden unsere Werte verteidigen!“ – Welche Werte denn, Herr Präsident?


Die "Werte" des "Westens"? : Gay Pride Madrid 2013
Die „Wer­te“ des „Westens“? : Gay Pri­de Paris 2013

Gedan­ken zum 13. Novem­ber von Mar­cel de Berliat

Anzei­ge

(Paris) „Wir wer­den unse­re Wer­te ver­tei­di­gen“ sag­te Frank­reichs Staats­prä­si­dent Hol­lan­de nach den Atten­ta­ten vom 13. Novem­ber in Paris. Wort­wört­lich das­sel­be sag­ten auch Oba­ma, Came­ron und die Staats- und Regie­rungs­chefs ande­rer Staa­ten. Ita­li­ens Mini­ster­prä­si­dent Ren­zi mein­te, der Sieg sei dem Westen sicher, denn sei­ne Wer­te sei­en rich­tig und gut. Die Fra­ge ist aber: Wel­che Wer­te mei­nen die Präsidenten?

Seit ich im Alter von fünf Jah­ren ein­ge­schult wur­de, sagt man mir, daß es kei­ne abso­lu­ten Wer­te gibt, daß Wer­te nur Sicht­wei­sen sind, daß es das schlimm­ste Ver­bre­chen ist, das Wort Wahr­heit groß­zu­schrei­ben, daß es kei­ne Not­wen­dig­keit gibt, Gewiß­hei­ten zu suchen oder zu ver­tre­ten, denn viel wich­ti­ger ist es, Zwei­fel zu haben, das mache leben­dig, bewei­se kri­ti­schen Geist und mache vor allem sym­pa­thisch, denn Gewiß­heit sei ein untrüg­li­ches Merk­mal von tyran­ni­schen, ja faschi­sto­iden Ideo­lo­gien, die schnur­ge­ra­de in die Dik­ta­tur führen.

Und nun erfah­ren wir aus dem Mund der­sel­ben Per­so­nen, die uns zuvor gewarnt haben, daß wir plötz­lich doch abso­lu­te Wer­te haben, mit denen und für die wir in den Krieg zie­hen sol­len? Wenn die ein­zi­ge gro­ße Wahr­heit es ist, kei­ne Wer­te zu haben, soll­ten wir dann nicht alle davon über­zeu­gen? Hät­ten wir nicht zumin­dest jene Ter­ro­ri­sten davon über­zeu­gen müs­sen, die nach der von uns erlaub­ten Ein­wan­de­rung ihrer Eltern oder Groß­el­tern schon unter uns gebo­ren und in unse­ren Repu­bli­ken auf­ge­wach­sen sind mit dem hohen Genuß unse­res Bil­dungs­sy­stems und unse­rer, von uns selbst so gerühm­ten Erzie­hung zum Zweifel?

Ich fra­ge mit vol­lem Ernst: Wel­che Wer­te mei­nen Sie, geehr­te Prä­si­den­ten? Eine Fra­ge, die ich ange­sichts der Bil­der stel­le, die ich im Kopf habe: Bil­der von Jugend­li­chen, die leben woll­ten und im Bata­clan um ihr Leben rann­ten. Eine Fra­ge, die ich auch stel­le, wegen der Ton­nen sinn­lo­ser Flos­keln, die ich aus Ihrem Poli­ti­ker­mund seit­her anhö­ren muß­te. Gehör­ten Sie nicht zu jenen, die uns die Wer­te aus­ge­prü­gelt haben, nun aber, seit dem 13. Novem­ber„ unun­ter­bro­chen das Wort „Wer­te“ im Mund führen?

Die „Werte“ der hohen Politik sind nur Werte mit Anführungszeichen

Die hohlen "Werte" der Präsidenten: Wenn Bilder lügen - inszeniertes Bild nach dem Attentat auf Charlie Hebdo in Paris
Die hoh­len „Wer­te“ der Prä­si­den­ten: Wenn Bil­der lügen – insze­nier­tes Bild nach dem Atten­tat auf Char­lie Heb­do in Paris

Liber­té, fra­ter­ni­té, éga­li­té sag­te Oba­ma. Um es ver­ständ­li­cher zu machen, schließ­lich liegt die fran­zö­si­sche Revo­lu­ti­on schon 226 Jah­re zurück, ergänz­te der fran­zö­si­sche Pre­mier­mi­ni­ster Manu­el Valls: “Frei­heit und Men­schen­rech­te“. Genau.

Das Pro­blem ist nur, daß die­se behaup­te­te „Gleich­heit“ und das Recht alles und jedes ver­tre­ten zu kön­nen, sofort in eine unauf­lös­ba­re Kri­se gerät, wenn mich jemand umbrin­gen will. Fällt das Recht zu töten, auch unter die Frei­heit? Viel­leicht die Mei­nungs­frei­heit? Ist das einer unse­rer „abso­lu­ten“ Wer­te, die es in Wirk­lich­keit ja angeb­lich gar nicht gibt? Ein Recht auf Töten?

Genau das haben wir mehr oder weni­ger in allen Staa­ten vor 40 Jah­ren tat­säch­lich erlaubt. Wir töten mehr oder weni­ger scho­nungs­los, skru­pel­los, schran­ken­los unse­re eige­nen Kin­der. Die Todes(sehn)sucht haben wir in den ver­gan­ge­nen Jah­ren ver­stärkt durch die Lega­li­sie­rung der Eutha­na­sie. Der „sanf­te Tod“, der „selbst­be­stimm­te Tod“, der „süße Tod“.

Und jetzt jam­mern wir, daß irgend­wel­che isla­mi­schen Todes­süch­ti­gen noch wei­te­re Tötungs­va­ri­an­ten hin­zu­fü­gen? Die Spi­ra­le der Per­ver­si­on paßt doch gut zusam­men und wir sich nicht ent­wir­ren las­sen, wenn wir nicht begrei­fen, ob wir im „Wert“ des Zwei­fels ersticken wol­len oder wirk­lich wah­re und daher abso­lu­te Wer­te haben.

Wir wer­den uns ernst­haft fra­gen müs­sen, ob unse­re Wer­te jene sind, die der ame­ri­ka­ni­sche Jour­na­list Gareth Whit­taker in die­sen Tagen fol­gen­der­ma­ßen beschrieb: Wer­te sind, „das irdi­sche Leben in tau­sen­der­lei Form zu genie­ßen, eine Tas­se duf­ten­den Kaf­fee zu trin­ken, ein knusp­ri­ges, but­ter­be­schmier­tes Crois­sant zu essen, schö­ne Frau­en in kur­zen Klei­dern zu bewun­dern, die unge­zwun­gen lächeln, dazu Hun­der­te Düf­te und Gerü­che, Par­fums, Wei­ne, ofen­fri­sche Bach­wa­ren, und das Recht an kei­nen Gott glau­ben zu müs­sen, flir­ten zu kön­nen, rau­chen zu dür­fen, Sex außer­halb der Ehe zu genie­ßen, Urlaub zu machen, Bücher zu lesen und gra­tis die Schu­le besu­chen zu können“.

Wenn der kleine Geist bürgerlicher „Freuden“ mit „Werten“ verwechselt wird

Hat Whit­taker recht, ist das alles? Bestehen unse­re „Wer­te“ dar­in, den neu­en Hedo­nis­mus der Klein-Mit­tel- und Groß­bür­ger zu ver­tei­di­gen, den sie – je nach Brief­ta­sche – mehr oder weni­ger üppig aus­le­ben kön­nen? Die klei­ne, mick­ri­ge, manch­mal schä­bi­ge und ver­stoh­le­ne Genuß­sucht bür­ger­li­cher Exi­sten­zen stel­len die „uni­ver­sa­len Wer­te“ dar, für die man leben und ster­ben soll­te? Für die jemand, wir, in den Krieg zie­hen soll­ten? Das ist augen­schein­lich zu wenig, wes­halb sich jede Begei­ste­rung, den Tarn­an­zug anzu­le­gen, eine Waf­fe in die Hand zu neh­men und hin­aus­zu­zie­hen mit der Aus­sicht getö­tet oder ver­stüm­melt zu wer­den, in engen Gren­zen hal­ten wird. Gab es da übri­gens nicht ein­mal einen gewis­sen Herrn Marx, Karl mit Namen, der vor der Blind­heit der Uni­ver­sa­li­sie­run­gen warn­te, die jede Klas­se von sich selbst zu betrei­ben ver­su­che? Sei­ne bevor­zug­te Klas­se hat sich in die Klein­bür­ger­lich­keit auf­ge­löst, doch die Blind­heit der Klas­sen ist geblieben.

Und noch ein­mal fra­ge ich: Sehr geehr­te Prä­si­den­ten: Müß­ten wir dann nicht unse­re mul­ti­kul­tu­rel­len Freun­de, Brü­der, jeden­falls per defi­ni­tio­nem ohne eige­nes Zutun (angeb­lich) „bes­se­re“ Men­schen, von die­sen unse­ren bür­ger­li­chen Freu­den und Genüs­sen über­zeu­gen und ihnen bei­brin­gen, daß das, ja das, wah­re und ein­zig abso­lu­te Wer­te sind? Wir soll­ten die Pari­ser Ban­lieues, die­se Schmuck­stücke und Vor­zei­ge­wer­ke unse­rer Muli­ti­kul­tu­ra­li­tät, und die „Ban­lieues“ der gan­zen Welt mit die­ser unse­rer Klein­gei­stig­keit fül­len, dann wäre die Welt ein „Para­dies“.

Die Feigheit, eigenes Scheitern einzugestehen

Doch, haben wir nicht genau das schon dau­ern getan? Und sind wir nicht genau damit gna­den­los geschei­tert? Sind die Ban­lieues nicht undurch­dring­li­che Ghet­tos gewor­den? Par­al­lel­wel­ten? Ist es nicht gera­de die Lee­re unse­res Hedo­nis­mus, der die Ban­lieues noch häß­li­cher gemacht hat, als sie ohne­hin schon waren?

Die moder­ne Poli­tik zeich­net sich jedoch durch die Feig­heit aus, das eige­ne Schei­tern ein­zu­ge­ste­hen. Poli­ti­ker wis­sen alles und kön­nen alles. Sie kön­nen jedes Mini­ste­ri­um über­neh­men, heu­te Finan­zen, mor­gen Ver­tei­di­gung, über­mor­gen das Äußere.

Es gäbe noch einen ande­ren Weg, lie­be Prä­si­den­ten unse­rer „west­li­chen“ Staa­ten (was heißt eigent­lich „west­lich“, wofür steht heu­te „west­lich“?): Wir könn­ten dar­über nach­den­ken, ob wir nicht doch Wer­te, wirk­li­che Wer­te haben, sol­che, die man nicht irgend­wie ver­schämt mit Anfüh­rungs­zei­chen schrei­ben muß. Viel­leicht soll­ten wir gei­stig den umge­kehr­ten Weg gehen, einen Weg zurück auf der Suche nach dem, was wir offen­sicht­lich irgend­wann auf dem Weg ver­lo­ren haben. Wir könn­ten uns zunächst viel­leicht fra­gen, woher unse­re Men­schen­rech­te kom­men, jene Rech­te, die wir dau­ernd im Mund füh­ren, deren Uni­ver­sa­li­tät wir aber selbst in den ver­gan­ge­nen Jahr unter­gra­ben haben, indem wir neue „Rech­te“ hin­zu­fü­gen und gel­ten­de Rech­te ein­schrän­ken woll­ten. Am „Abso­lu­ten“ kann man aber nicht Hand anle­gen. Man will Neu­es gewin­nen, ris­kiert aber, alles zu verlieren.

Das Licht kam schon vor 1789 in die Welt, und wurde aus einer Frau geboren, nicht aus Gewehrläufen

Fol­gen wir die­sem Strang wei­ter, prü­fen wir, woher wel­cher gute, soli­de Bei­trag kam, dann wer­den wir irgend­wann fest­stel­len, daß es eine Zeit vor 1789 gab, und das, was wir Gutes aus der Revo­lu­ti­on behaup­ten, nicht ex novo vom sicht­ba­ren Him­mel gefal­len ist. Und viel­leicht ent­decken wir dann, daß es auch einen unsicht­ba­ren Him­mel gibt und daß in die Fin­ster­nis der Welt, nicht die Revo­lu­tio­nä­re von 1789 das Licht gebracht haben, son­dern das Licht, das die­se Welt erhellt, vor mehr als 2000 Jah­ren gebo­ren wur­de, wort­wört­lich gebo­ren wur­de aus einer Frau, nicht aus Gewehr­läu­fen auf irgend­wel­chen Barrikaden.

Ich will mich auf die­sen Gedan­ken­an­stoß beschrän­ken. Hin­zu­fü­gen will ich nur, daß wir auf die­sem Weg unaus­weich­lich erken­nen müs­sen und auch tat­säch­lich erken­nen wer­den, daß wir die Kul­tur des Todes durch die Kul­tur des Lebens erset­zen müs­sen, wenn wir eine Zukunft haben wol­len und wenn wir Mensch­sein wol­len, das wahr­haft Huma­ne in uns erken­nen und zu Gel­tung brin­gen wollen.

Wir wer­den uns mit unse­ren Wur­zeln beschäf­ti­gen müs­sen. Jenen, von denen wir glaub­ten, uns den Luxus lei­sten zu kön­nen, uns abzu­kop­peln, weil, ja weil wir ja nun Geld haben und uns das, was wir wol­len, kau­fen kön­nen. Kau­fen? Kau­fen kann man Mate­ri­el­les, viel davon. Alles was wirk­lich zählt kön­nen wir aber nicht kaufen.

Wir wer­den also unse­re grie­chi­schen und römi­schen Wur­zeln wie­der frei­le­gen müs­sen, vor allem aber unse­re christ­li­chen Wur­zeln, die wir – die Sie, ver­ehr­te Prä­si­den­ten – so sehr bekämpft und behin­dert haben. Wir wer­den unse­ren Blick­win­kel revi­die­ren, skep­ti­sches Getue und unse­ren Hang zum schein­hei­li­gen Zwei­fel hin­ter­fra­gen müssen.

Wir wer­den wie­der Aus­schau hal­ten müs­sen nach der Wahr­heit. Wenn wir sie nicht ganz erken­nen, dann liegt das nicht an der Wahr­heit oder gar an Will­kür, son­dern an unse­rer Begrenzt­heit. Wahr­schein­lich wäre es schon eine Hil­fe, wür­den wir dem Gedan­ken des ame­ri­ka­ni­schen Phi­lo­so­phen Peirce fol­gen, der sinn­ge­mäß mein­te: Tun wir nicht so, als wür­den wir in der Phi­lo­so­phie (der Päd­ago­gik, der Kunst, der Poli­tik) über das zwei­feln, über das unser Herz nicht zweifelt“.

John Lennons Imagine-Text ist der Lug und Trug des Irrweges

Neh­men wir das Lied Ima­gi­ne von John Len­non„ das jemand nach den Atten­ta­ten in Paris mein­te, spie­len zu müs­sen. Neh­men wir die Melo­die als blo­ße Unter­hal­tung, aber hören wir nicht auf den Text. Mehr noch, kip­pen wir ihn nach den Pari­ser Atten­ta­ten end­gül­tig auf die Müll­hal­de der ver­irr­ten Wege, denn wenn Ima­gi­ne für etwas steht, dann für den töd­lich geschei­ter­ten hedo­ni­sti­schen Relativismus.

Ein­tre­ten, ver­tei­di­gen und not­falls auch kämp­fen und ster­ben kann man nur für Wer­te, die man groß­schreibt und bei denen man eine gewis­se Ehr­furcht emp­fin­det. Das, wofür man kämpft, muß sich loh­nen. Was aber lohnt sich mehr, als die Wahrheit?

Geben wir die lee­ren Phra­sen und Paro­len auf und fül­len unse­re Gedan­ken und Wor­te mit loh­nens­wer­ten Inhal­ten, wah­ren und daher ewi­gen Inhal­ten. Rich­ten wir die Kul­tur des Lebens wie­der auf, erfül­len wir unse­re Leben mit Leben, authen­ti­schem Leben, dann wer­den die jun­gen Men­schen von Bata­clan nicht umsonst gestor­ben sein. Bis­her sind sie es, solan­ge sie, geehr­te Prä­si­den­ten, sie mit nichts­sa­gen­den Wort­hül­sen jeden Tag neu erschlagen.

Die Wahr­heit ist eine Per­son, sie wur­de vor 2000 Jah­ren gebo­ren und brach­te das Licht in eine dunk­le Welt. Vie­le arbei­ten dar­an, die­ses Licht aus­zu­lö­schen, Sie haben auch schon Hand ange­legt. Schüt­zen Sie die­ses Licht, damit es wie­der hell wird in die­ser Welt, wirk­lich hell, nicht nur die bil­li­ge Hel­lig­keit, die wir in unse­rem bür­ger­li­chen Dasein uns durch das pünkt­li­che Bezah­len der Strom­rech­nung leisten.

Über­set­zung: Giu­sep­pe Nardi
Bild: Cor­ri­spon­den­za Romana/​Wikicommons

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