Das Werden des Heiligen Römischen Reiches – Wie das römische Kaisertum zu den Deutschen kam


Thomas Jentzsch: Das Werden des Heiligen Römischen Reiches
Thomas Jentzsch: Das Werden des Heiligen Römischen Reiches

Buch­be­spre­chung von Wolf­ram Schrems*

Anzei­ge

Mit größ­tem Inter­es­se nimmt man den publi­zi­sti­schen Bei­trag eines Ange­hö­ri­gen der Prie­ster­bru­der­schaft St. Pius X. auf dem Gebiet der Geschichts­dar­stel­lung zur Kennt­nis. In einer Zeit prak­tisch völ­lig gleich­ge­schal­te­ter Geschichts­schrei­bung und ‑ver­mitt­lung ist eine selbst­be­wuß­te katho­li­sche Alter­na­ti­ve sehr erfri­schend. Der Sar­to-Ver­lag brach­te im ver­gan­ge­nen Jahr eine Neu­auf­la­ge des zuerst 2006 erschie­ne­nen Buches heraus.

Das Buch: Glaube und Geschichte

P. Jentzsch zeich­net in gro­ßer Mate­ri­al­fül­le den Weg der reichs­bil­den­den Fran­ken und Sach­sen vom Unter­gang des Alten Roms bis zum Tod Ottos des Gro­ßen (973) nach. Dabei fügt er theo­lo­gi­sche Über­le­gun­gen und aus­führ­li­che Ein­zel­bio­gra­phien ein.

Von beson­de­rer Wich­tig­keit ist die Dar­stel­lung der Rol­le her­aus­ra­gen­der Per­sön­lich­kei­ten, die durch ihren Ent­schluß, Gott zu die­nen, im Guten geschichts­mäch­tig und kul­tur­bil­dend gewor­den sind: Genannt sei­en die hl. Fran­ken­kö­ni­gin Clot­hil­de, der hl. Angeln­kö­nig Oswald, der hl. Klo­ster­grün­der Seve­rin und die iro-schot­ti­schen Mis­sio­na­re Kolum­ban (gestor­ben 615 in Bob­bio, Pia­cen­za), Fin­t­an (Schweiz), Kili­an, Kolo­nat und Tot­nan (Würz­burg). Für den deut­schen Raum beson­ders wich­tig ist der hl. Boni­fa­ti­us (Win­frith), der „Apo­stel der Deutschen“:

„Wie Papst Gre­gor I. den Bene­dik­ti­ner­abt Augu­sti­nus nach Eng­land ent­sand­te, so sand­te über hun­dert Jah­re spä­ter Papst Gre­gor II. den Eng­län­der und Bene­dik­ti­ner Boni­fa­ti­us nach Deutsch­land, das eine rei­fe Frucht der Mis­si­ons­ar­beit wer­den soll­te. So wie die römi­schen Kai­ser ihre Legio­nen aus­ge­sandt hat­ten den Erd­kreis zu bezwin­gen, so sand­te jetzt der Hir­te der gan­zen Kir­che die Glau­bens­bo­ten aus die Völ­ker Chri­stus und sei­ner Kir­che ein­zu­glie­dern“ (103).

Heiligkeit als Fundament der Kultur

Thomas Jentzsch: Das Werden des Heiligen Römischen Reiches
Tho­mas Jentzsch: Das Wer­den des Hei­li­gen Römi­schen Reiches

Die welt­li­che Füh­rung fühl­te sich in jener Zeit den Gebo­ten des Glau­bens ver­pflich­tet. Frei­lich ver­wirk­lich­te nicht jeder ein­zel­ne Kai­ser, Fürst und Heer­füh­rer per­sön­li­che Hei­lig­keit. Fami­li­en­feh­den, Bru­der­kämp­fe und Krie­ge aller Art illu­strie­ren die katho­li­sche Über­zeu­gung von der Erb­sün­de und ihren oft nur schwer zu über­win­den­den Nach­wir­kun­gen. Para­die­si­sche Zustän­de gab es in jener Zeit („Mit­tel­al­ter“) kla­rer­wei­se nicht – ande­rer­seits auch kei­ne für das 20. Jahr­hun­dert so typi­schen Geno­zi­de, Gulags und KZs.

Bei aller Unvoll­kom­men­heit wird man also guten Wil­len in der Len­kung der Völ­ker fest­stel­len und die pau­scha­le Ver­un­glimp­fung des christ­li­chen „Mit­tel­al­ters“ abstel­len müssen.

Über eine der zen­tra­len Gestal­ten der Epo­che, Karl den Gro­ßen, schreibt P. Jentzsch etwa:

„Es ist kein Zwei­fel, dass Karl aus ech­ter Ver­ant­wor­tung han­del­te und dass ihm die Aus­brei­tung christ­li­chen Glau­bens und christ­li­cher Gesit­tung eben­so sehr am Her­zen lag wie die Aus­wei­tung sei­ner poli­ti­schen Macht“ (127).

Auch in Bezug auf die Kir­chen­hier­ar­chie muß man sich gegen jede Ver­leum­dung stel­len: Das Papst­tum wur­de in der hier behan­del­ten Epo­che von vie­len hei­li­gen Amts­trä­gern aus­ge­übt, von denen Gre­gor der Gro­ße (590–604) der pro­mi­nen­te­ste ist.

Unbe­strit­ten ist aller­dings auch, daß es ab dem 9. Jahr­hun­dert zu einer tie­fen Kri­se des Petrus­am­tes kam (sae­cu­lum obscurum, das „dunk­le Jahr­hun­dert“, von 882 bis 1046 angesetzt).

Der Kon­kur­renz­kampf zwi­schen geist­li­cher und welt­li­cher Macht wird daher von Jentzsch als desa­strös eingestuft:

„Bei­de Gewal­ten [geist­li­che und welt­li­che], bei­de ‚Schwer­ter‘, wie das Hoch­mit­tel­al­ter es nann­te, muß­ten an Auto­ri­tät und Macht ver­lie­ren, sobald die auf­ein­an­der bezo­ge­ne Zwei­heit der unter­schied­li­chen Herr­schaf­ten (Dyar­chie) in ein Rin­gen um die prak­ti­sche Über­ord­nung einer über die ande­re sich hin­ein­stei­ger­te, anstatt sich in die von Chri­stus jeweils gesetz­ten Gren­zen hin­ein­zu­fü­gen“ (138).

Otto der Große als paradigmatische Gestalt

Otto wird als beson­ders vor­bild­li­che und rich­tungs­wei­se Gestalt dar­ge­stellt. Kir­che und Kai­ser­tum gelang­ten in ihm zu einer geschichts­mäch­ti­gen frucht­ba­ren Kooperation:

„Durch die Kai­ser­krö­nung des deut­schen Königs [Otto d. Gr.] durch den Papst wird eben dies­be­züg­lich vor aller Welt offen­sicht­lich und unwi­der­leg­bar kund­ge­macht, dass aus den bei­den legi­ti­men Nach­fol­ge­staa­ten des Frän­ki­schen Rei­ches, dem West­frän­kisch-Fran­zö­si­schen Reich und dem Ost­frän­kisch-Deut­schen Reich der deut­sche König als der geeig­net­ste und über­ra­gen­de Kan­di­dat erwählt wur­de und somit das Deut­sche Reich Trä­ger des Kai­ser­tums und des Impe­ri­ums gewor­den war (…) Kai­ser­sal­bung und Krö­nung waren für ihn als den Grün­der des deut­schen Kai­ser­tums nicht Mit­tel zum Zweck, wie er es im Pro­zess des Erwer­bes der Kro­ne auch bewie­sen hat, son­dern eine hei­li­ge Wei­he, die ihm eine gleich­sam (quasi-)sakramentale Teil­ha­be am Prie­ster­tum der Kir­che ver­lieh“ (239.248).

Kirche und Reich – Fundament der Zivilisation

Jentzsch gelangt zu einer dif­fe­ren­zier­ten Beur­tei­lung der gegen­sei­ti­gen Bezie­hun­gen von Papst und Kai­ser im Span­nungs­feld der For­de­run­gen des Glau­bens, wobei sowohl dem erneu­er­ten Mönch­tum von Clu­ny als auch ver­ant­wor­tungs­be­wuß­ten Für­sten eine wich­ti­ge Rol­le zukam:

„Wenn auch durch das klä­ren­de Reform­werk von Clu­ny im Wie­der­her­stel­len der von Chri­stus gesetz­ten Frei­heit der Kir­che die Mit­be­stim­mung der Kai­ser bei der Papst­wahl auf der Late­r­an­syn­ode 1059 durch die Ein­set­zung des Kar­di­nal­ra­tes als ein­zi­ges wahl­be­rech­tig­tes Gre­mi­um der Papst­wahl aus­ge­schal­tet wur­de, so bleibt es den­noch das histo­ri­sche Ver­dienst der deut­schen Kai­ser Otto I., Otto II., Otto III. und Hein­rich III., dass sie durch die Aus­wahl und Bestim­mung geeig­ne­ter Päp­ste gera­de dem Reform­werk ‚auf die Sprün­ge hal­fen‘, es unter­stütz­ten und instal­lier­ten, wenn sich auch tra­gi­scher­wei­se die­ses ver­ant­wor­tungs­be­wuss­te Han­deln im klä­ren­den Inve­sti­tur­streit gegen sie wand­te. Die deut­schen Kai­ser haben dies mit bestem Wis­sen und Gewis­sen gehand­habt (…). Den Ver­fall des Papst­tums konn­ten sie so betrach­tet nicht zulas­sen. Herr­schaft war nicht Selbst­zweck, son­dern nur gerecht­fer­tigt als Dienst an der von Gott ein­ge­setz­ten Ord­nung“ (242).

Schließ­lich noch ein Blick auf eine der geschichts­mäch­tig­sten Gestal­ten Euro­pas und der Welt überhaupt:

Reichskleinodien (Replikate, Aachen), die Originale befinden sich in der Schatzkammer der Wiener Hofburg
Reichs­klein­odi­en (Repli­ka­te, Aachen), die Ori­gi­na­le befin­den sich in der Schatz­kam­mer der Wie­ner Hofburg

Der hl. Benedikt und seine Schüler

Rele­vant ist die­ses Buch, wie gesagt, vor allem des­we­gen, weil die zen­tra­le Rol­le der Katho­li­schen Kir­che in der Her­aus­bil­dung unse­rer Kul­tur aus­führ­lich dar­ge­stellt wird. Es war zudem der Glau­be an Chri­stus, der unzäh­li­ge Men­schen moti­viert hat, in einem opfer­rei­chen Mönchs­le­ben in der Nach­fol­ge des hl. Bene­dikt von Nur­sia (480 – 547) die gei­sti­gen und mate­ri­el­len, kul­tu­rel­len und wirt­schaft­li­chen Grund­la­gen der euro­päi­schen Zivi­li­sa­ti­on zu legen. Jentzsch behan­delt die Geschich­te des Bene­dik­t­i­ni­schen Mönch­tums, das durch unge­heu­ren Ein­satz­wil­len und eine in der Anti­ke unbe­kann­te Hoch­schät­zung der kör­per­li­chen Arbeit gewal­ti­ge Wer­te geschaf­fen hat. Das Mot­to Ora et labo­ra ori­en­tiert sich übri­gens an einer Wei­sung des Apo­stels: „Wer nicht arbei­ten will, soll auch nicht essen“ (2 Thess 3, 10).

Gleich­zei­tig wur­den die Klö­ster zu Zen­tren des gesell­schaft­li­chen Zusam­men­hal­tes im Zei­chen des gemein­sa­men Glau­bens an den, der von sich gesagt hat, die Wahr­heit in Per­son zu sein.

Resümee: Das religiöse Fundament Europas – Grund zu katholischem Selbstbewußtsein

Das Buch ist Zeug­nis für ein gesun­des katho­li­sches Selbst­be­wußt­sein. Es zeigt, aus wel­cher Moti­va­ti­on die euro­päi­sche Zivi­li­sa­ti­on geschaf­fen wur­de. Und die­se Zivi­li­sa­ti­on ist so gut, daß sogar noch die letz­ten Reste und Trüm­mer der­ma­ßen stark aus­strah­len, daß die hal­be Welt, ohne einen eige­nen Bei­trag lei­sten zu wol­len, dar­an par­ti­zi­pie­ren will („Asyl“).

In den aus­führ­li­chen kul­tur­hi­sto­ri­schen Dar­stel­lun­gen zeigt Jentzsch auch, wie müh­sam die Umset­zung des christ­li­chen Glau­bens und sei­ner Gebo­te in das rea­le und beson­ders poli­ti­sche Leben hin­ein ist. Es brauch­te Gene­ra­tio­nen, bis die huma­ni­sie­ren­den Aus­wir­kun­gen des Evan­ge­li­ums zu grei­fen began­nen, d. h., bis eine unmä­ßi­ge Straf­ju­stiz, Duel­le, Rauf­lust, sexu­el­le Aus­schwei­fun­gen, Aus­beu­tung von Unter­ge­be­nen u. dgl. im gesell­schaft­li­chen Maß­stab zurück­ge­drängt wer­den konnten.

Mit Ent­set­zen muß man fest­stel­len, daß das alles in Zei­ten eines prä­ze­denz­lo­sen Glau­bens­ab­falls, nicht zuletzt auf­grund des pasto­ra­len Ver­sa­gens der kirch­li­chen Hier­ar­chie der letz­ten Jahr­zehn­te, in gera­de­zu mon­strö­sem Aus­maß zurückkommt. –

Das Buch ist mit 266 dicht­be­druck­ten Sei­ten sehr umfang­reich. Eini­ge gut aus­ge­wähl­te Bil­der illu­strie­ren das Gesag­te auf prä­gnan­te Wei­se. Ein geist­li­cher Epi­log des Autors, sechs Stamm­ta­feln, zwei Zeit­ta­feln und eine sechs­und­drei­ßig Titel umfas­sen­de Lite­ra­tur­li­ste mit teil­wei­se schon älte­rer (und daher nicht dem gegen­wär­ti­gen Kon­for­mi­täts­druck unter­wor­fe­ner) Lite­ra­tur run­den das Werk auf pas­sen­de Wei­se ab.

Kri­tisch anmer­ken muß man, daß der Autor an etli­chen Stel­len zu viel auf ein­mal sagen woll­te. Dann wird der anson­sten gut les­ba­re Text all­zu dicht. Lei­der gibt es auch Kri­tik­wür­di­ges im For­ma­len: Die zahl­rei­chen Ver­schrei­bun­gen, Syn­tax- und Inter­punk­ti­ons­feh­ler und Wie­der­ho­lun­gen wären für eine – wün­schens­wer­te – über­ar­bei­te­te und (etwas geraff­te) Neu­auf­la­ge zu beseitigen.

In einer Zeit, in der bezüg­lich der Ent­ste­hung unse­rer gan­zen Zivi­li­sa­ti­on das Evi­den­te­ste über­se­hen oder ver­drängt wird, näm­lich, daß unse­re Zivi­li­sa­ti­on auf dem Chri­sten­tum ruht und nur von daher Leben und Form bewah­ren kann, ist eine der­ar­ti­ge Publi­ka­ti­on aber so und anders von gro­ßem Wert.

P. Tho­mas Jentzsch, Das Wer­den des Hei­li­gen Römi­schen Rei­ches – Wie das römi­sche Kai­ser­tum zu den Deut­schen kam, Sar­to, Bobin­gen, 2. Auf­la­ge 2014, 266 S., www​.sar​to​.de

*MMag. Wolf­ram Schrems, Linz und Wien, katho­li­scher Theo­lo­ge, Phi­lo­soph, kirch­lich gesen­de­ter Kate­chist; beson­de­res Inter­es­se an geschichtsphilosophischen

Bild: Una Fides

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