Konziliare Selbstanpassung der Kirche an Welt und Zeitgeist


Zweites Vatikanum Herder
Zwei­tes Vati­ka­num Herder

Für moder­ni­sti­sche Theo­lo­gen sind die schwam­mi­gen For­mu­lie­run­gen der Pasto­ral­kon­sti­tu­ti­on des Kon­zils ein idea­ler Ansatz, um Kir­che und kirch­li­che Leh­re „in der Welt von heu­te“ aufzuheben. 

Anzei­ge

Ein Gast­bei­trag von Hubert Hecker.

Der 50. Jah­res­tag der Ver­ab­schie­dung des letz­ten Kon­zils­tex­tes „Gau­di­um und spes“ am 6. Dezem­ber 1965 wirft sei­ne Schat­ten vor­aus. In Bischofs­kon­fe­ren­zen und Aka­de­mie-Vor­trä­gen ver­sucht man in immer neu­en Anläu­fen die Kir­che in die Welt ein­zu­pas­sen. Das Grund­kon­zept die­ser Anpas­sungs­stra­te­gie kann man in einer Her­der Kor­re­spon­denz spe­zi­al vom Okto­ber 2012 stu­die­ren, die den Titel trägt: „Kon­zil im Kon­flikt. 50 Jah­re Zwei­tes Vatikanum“.

Professor Höhn hat Visionen…

Im ein­lei­ten­den Auf­satz „Zwie­späl­tig und unbe­quem“ macht Theo­lo­gie-Pro­fes­sor Hans-Joa­chim Höhn (Köln) gleich im ersten Abschnitt sei­ne Kon­zils­sicht deut­lich: Das Kon­zil ste­he für „Idea­le“ und „Visio­nen“, zusam­men­ge­fasst im „Geist des Kon­zils“. Hin­ter dem Beschwö­ren sol­cher schwer fass­ba­ren Rea­li­täts­de­stil­la­te steht die Auf­fas­sung, in den Kon­zils­tex­ten sei nur der Anfang von „Reform­im­pul­sen“ gesetzt wor­den, das Eigent­li­che des Kon­zils, eben sein Geist, ver­wirk­li­che sich erst im nach­kon­zi­lia­ren Pro­zess christ­li­cher Pra­xis im Dia­log mit der Welt, in der es die Kir­che schon „frag­los weit vor­an­ge­bracht“ habe.

Beliebige Ausdeutung von verschwommenen Begriffen

Es ist nicht schwer zu erra­ten, dass für sol­che dehn­ba­ren Kon­zils­deu­tun­gen die schwam­mi­ge Pasto­ral­kon­sti­tu­ti­on „Gau­di­um et spes“ (GS) das zen­tra­le Kon­zils­do­ku­ment dar­stellt, aus dem die moder­ni­sti­schen Kon­zils­deu­ter den Geist des Kon­zils destil­lie­ren – etwa als „dia­lo­gi­sche Bestim­mung des Ver­hält­nis­ses von Kir­che und Gesell­schaft“. Im 4. Kapi­tel von GS glaubt Höhn die „Kurz­for­mel“ oder „Regier­an­wei­sung“ gefun­den zu haben, nach der die Kir­che kon­zils­ge­mäß fort­schrei­ten kön­ne: „…nach den Zei­chen der Zeit for­schen und sie im Lich­te des Evan­ge­li­ums deu­ten, so dass sie (die Kir­che) in einer der jewei­li­gen Gene­ra­ti­on ange­mes­se­nen Wei­se auf die blei­ben­den Fra­gen der Men­schen nach dem Sinn des gegen­wär­ti­gen und des zukünf­ti­gen Lebens (…) Ant­wort geben kann.“

Das Pasto­ral­do­ku­ment ist bei pro­gres­si­sti­schen Theo­lo­gen wohl auch des­halb so beliebt, weil des­sen Begrif­fe beson­ders unscharf und daher in belie­bi­ge Rich­tun­gen aus­deut­bar sind: „Zei­chen der Zeit“ gehört dazu wie auch die Phra­se „die heu­ti­ge Welt“. Im neu­en Vor­wort vom 7. Band sei­ner Wer­ke kri­ti­siert Papst Bene­dikt die man­geln­de Klä­rungs­ar­beit des Kon­zils: „Hin­ter dem ver­schwom­me­nen Begriff ‚Welt von heu­te‘ steht die Fra­ge des Ver­hält­nis­ses zur Neu­zeit. Um sie zu klä­ren, wäre es nötig gewe­sen, das Wesent­li­che und Kon­sti­tu­ti­ve für die Neu­zeit genau zu defi­nie­ren“. Eine not­wen­di­ge Dar­stel­lung der Pro­ble­ma­tik der Moder­ne – etwa als Ambi­va­lenz der Moder­ne oder Dia­lek­tik des Fort­schritts – sei „nicht gelun­gen“. Für die Pasto­ral­kon­sti­tu­ti­on gilt das glei­che Ver­dikt, dass der Papst zu der Kon­zils­er­klä­rung Nost­rae aet­a­te aus­ge­spro­chen hat, dass näm­lich nur die posi­ti­ven Sei­ten auf­ge­führt wer­den und die „kran­ken und gestör­ten For­men“ über­se­hen wur­den. Für die Zeit der Moder­ne seit der Auf­klä­rung hat der Papst schon viel­fach auf die „Patho­lo­gien der Ver­nunft“ im Den­ken der Neu­zeit hin­ge­wie­sen – mit den bekann­ten poli­ti­schen Fol­gen ver­schie­de­ner Schreckensherrschaften.

Eine rosarote Sicht von Welt und Wirklichkeit

Den fata­len blau­äu­gi­gen Fort­schritts­op­ti­mis­mus hat­te schon Papst Johan­nes XXIII. in sei­ner Kon­zils­er­öff­nungs­re­de den Kon­zils­vä­tern auf den Weg gege­ben und zugleich die Irr­tü­mer und Fehl­ent­wick­lun­gen der „Welt von heu­te“ her­un­ter­ge­spielt. In die­sem Sin­ne leg­te das Kon­zils­do­ku­ment GS selbst eine welt­op­ti­mi­sti­sche Deu­tung der Zeit­zei­chen vor: Man sah in der „heu­ti­gen gesell­schaft­li­chen Dyna­mik“ vor­wie­gend „Gutes“ her­an­wach­sen. Das Kon­zil „blickt mit gro­ßer Ach­tung auf alles Wah­re, Gute und Gerech­te, das sich die Mensch­heit in den ver­schie­de­nen Insti­tu­tio­nen geschaf­fen“ habe und immer neu schaffe.

Anschei­nend waren die Kon­zils­vä­ter nicht nur blind für die theo­lo­gi­sche Wahr­heit, dass die von der Erb­sün­de gepräg­te Mensch­heits­welt nicht zum Guten und Gerech­ten neigt, son­dern sie ver­schlos­sen auch die Augen vor der rea­len Welt­ent­wick­lung Anfang der 60er Jah­re, die sie hät­te zu skep­tisch-rea­li­sti­schen Ein­schät­zun­gen füh­ren müssen:
Es war die Welt des Kal­ten Krie­ges, die mit der Kuba­kri­se an der Schwel­le zum 3. Welt­krieg stand, Atom­bom­ben-waf­fen­star­ren­de Auf­rü­stung mit der Dro­hung vom dop­pel­ten Over­kill, blu­ti­ge Kolo­ni­al- und Bür­ger­krie­ge in der 3. Welt; die USA stie­gen in den Viet­nam­krieg ein, Chruscht­schow ver­kün­de­te das defi­ni­ti­ve Ende jeg­li­cher Reli­gi­on, die Sowjet­uni­on hielt ein Dut­zend Ost­block­staa­ten in Knecht­schaft, die DDR war kom­plett ein­ge­mau­ert. Mao Tse-tung plan­te sei­ne mör­de­ri­sche Kul­tur­re­vo­lu­ti­on – da schrieb Sart­re sein Mani­fest: „Sozia­lis­mus oder Bar­ba­rei“ – eine Agi­ta­ti­ons­schrift für die kom­men­den Studentenunruhen.

Selbstanpassung der Kirche an den Zeitgeist

Was im Pasto­ral­do­ku­ment schon ange­legt war, wur­de nach dem Kon­zil weit­ge­hend zum Pro­gramm der Kir­che in ihrem Ver­hält­nis zur Welt gemacht: for­mal ein Dia­log, fak­tisch eine „Selbst­an­pas­sung an den jeweils herr­schen­den Zeit­geist“ – wie Höhn rich­tig bemerkt, aber nicht rich­tig zur Nach­kon­zils­zeit zuord­net. Statt­des­sen gibt er wohl­fei­le Wort­spen­den ab über „kri­ti­sche Soli­da­ri­tät der Kir­che mit der Welt“. Im Zusam­men­hang mit dem all­um­fas­sen­den und damit nichts­sa­gen­den Begriff „Welt“ bekommt der inzwi­schen abge­münz­te Aus­druck „Soli­da­ri­tät“ den Cha­rak­ter eines gut­mensch­li­chen Blend­wor­tes oder lin­gu­isti­schen Sozi­al­kitsch’. Aller­dings kann man mit sol­chem sprach­li­chen Blend­werk auch falsch ori­en­tier­te Prak­ti­ken recht­fer­ti­gen – etwa als die deut­schen Bischö­fe glaub­ten, bei der staat­li­chen Abtrei­bungs­be­ra­tungs­pra­xis welt­so­li­da­risch mit ein­stei­gen zu müssen.

Gutmenschlicher Sozialkitsch und einlullender Schönsprech

Eben­so neb­lig ist eine ande­re Zeit­zei­chen­deu­tung von Höhn, wenn er aus den „dra­ma­tisch sich ver­än­dern­den Lebens­ver­hält­nis­sen“ den Auf­trag der Kir­che ablei­tet, eine „evan­ge­li­en­ge­mä­ße Reso­nanz­fä­hig­keit“ dafür aus­zu­bil­den … . Auch die­se Phra­se ist wie­der so ein ein­lul­len­des Schön­wort, das Situa­ti­on und Fol­ge­rung tref­fend zu beschrei­ben scheint, bei genau­er Hin­sicht aber teuf­li­sche Details beinhal­tet: Soll die Kir­che etwa den ver­brei­te­ten Stim­men und Stim­mun­gen nach straf­frei­er Abtrei­bung, In-Vitro-Selek­ti­on, erlaub­ter Sui­zid­hil­fe, Schei­dung und Wie­der­ver­hei­ra­tung, Lebens­ab­schnitts­part­ner­schaf­ten und seri­el­ler Mono­ga­mie wirk­lich nur „Reso­nanz“ bie­ten oder hat sie nicht viel­mehr den „evan­ge­li­en­ge­mä­ßen“ Auf­trag, gegen die­se Ten­den­zen ethi­scher Belie­big­keit „Resi­stenz“ zu zeitigen?

Noch ein Blendwort: wechselseitiger Erschließungszusammenhang von Pastoral und Lehre

Auch der Pasto­ral­theo­lo­ge Rai­ner Bucher (Graz) erhebt in dem Auf­satz „Nur ein Pasto­ral­kon­zil?“ die Pasto­ral­kon­sti­tu­ti­on „Gau­di­um et spes“ zu einem Schlüs­sel­do­ku­ment des Kon­zils, in dem alle ande­ren Kon­zils­tex­te auf­ge­ho­ben sei­en. Als Ver­hält­nis der Kir­che zur „Gesamt­heit der Wirk­lich­kei­ten“ (GS 2) sei die vom Kon­zil gemein­te Pasto­ral eine spe­zi­fi­sche Wei­se der Gegen­wär­tig­keit von Kir­che und zugleich der Ernst­fall der Leh­re. Das Kon­zil ver­ste­he Pasto­ral nicht mehr wie frü­her als (sekun­dä­re) Anwen­dungs­dis­zi­plin der vor­ab geklär­ten Leh­re, son­dern Dog­ma und Pasto­ral stän­den in einem Ver­hält­nis „wech­sel­sei­ti­ger Inte­gra­ti­on“. Dabei brin­ge die Pastoral(-Wissenschaft) den Rea­li­täts- oder Welt­be­zug in den theo­lo­gi­schen Dis­kurs ein, also die Situ­iert­heit des Men­schen sowie die Geschicht­lich­keit der Gesell­schaf­ten in ihren Dimen­sio­nen Wirt­schaft, Kul­tur und Poli­tik. Dem­nach sei­en in die­sem inte­gra­ti­ven theo­lo­gi­schen Erkennt­nis­pro­zess, der die Pasto­ral (also die Welt­zu­ge­wandt­heit) zum Ziel habe, Dog­ma und Leh­re nicht mehr vor­ab zu klä­ren­de oder gar kirch­lich fest­ste­hen­de Grö­ßen, son­dern Welt, Leben und Pasto­ral einer­seits sowie Schrift­aus­le­gung, Dog­ma­tik und Leh­re wür­den in einem „wech­sel­sei­ti­gen Erschlie­ßungs- und Lösungs­zu­sam­men­hang“ ste­hen – so Rai­ner Bucher.

Primat der pastoralen Praxis über die Lehre

Wenn in die­ser For­mu­lie­rung die am Erkennt­nis­pro­zess Betei­lig­ten, also Dog­ma­tik und Pasto­ral, noch einen gleich­wer­ti­ge Sta­tus zu haben schei­nen, so zei­gen die wei­te­ren Aus­füh­run­gen Buch­ers, dass die Pasto­ral die Rol­le der theo­lo­gi­schen Füh­rungs­wis­sen­schaft bean­sprucht. Denn nach die­sem Ansatz sind Welt, Leben, Lebens­pra­xis und Pasto­ral als das ent­schei­den­de Inter­pre­ta­ti­ons­for­mat für Glau­ben, Evan­ge­li­um, Ortho­do­xie und Dog­ma­tik anzu­se­hen. Aus die­ser Argu­men­ta­ti­on folgt eine Anpas­sung von Kir­che und Leh­re an Zeit und Zeit­geist – etwa so: „Unter spät­mo­der­nen Bedin­gun­gen der Frei­set­zung des Indi­vi­du­ums zu reli­giö­ser Selbst­be­stim­mung, wel­che die Kir­che von einer her­kunfts­be­stimm­ten, unver­lass­ba­ren Schick­sals­ge­mein­schaft zu einer Dienst­lei­stungs­or­ga­ni­sa­ti­on auf dem Markt von Sinn, Reli­gi­on und Lebens­ori­en­tie­rung trans­for­mie­ren, sind alle hier­ar­chi­sti­schen Ekkle­sio­lo­gien schlicht dysfunktional.“

Eine bedürfnisorientierte Dienstleistungskirche als Ziel der Pastoral

Es sei­en also die von der Pasto­ral fest­ge­stell­ten spät­mo­der­nen Gesell­schafts­be­din­gun­gen, die für die dog­ma­ti­sche Ekkle­sio­lo­gie fest­le­gen, wel­ches Kir­chen­bild für eine bedürf­nis­ori­en­tier­te Dienst­lei­stungs­kir­che funk­tio­nal sei. Mit die­ser Inter­pre­ta­ti­on der Pasto­ral­kon­sti­tu­ti­on hat der Theo­lo­ge Bucher voll­stän­dig das kon­zi­lia­re Selbst­ver­ständ­nis der Kir­che als „Heils­sa­kra­ment“ verlassen.

Korrelationspädagogik als Vorreiterin für die pastorale Glaubensverdunstung

Der Ansatz, der Glau­bens­leh­re von Sei­ten der zeit­gei­sti­gen Lebens­pra­xis her Maß und Form zu geben, erin­nert frap­pant an die Kor­re­la­ti­ons­di­dak­tik des Reli­gi­ons­un­ter­richts, die seit der Würz­bur­ger Syn­ode 1974 in den Schu­len prak­ti­ziert wird und seit­her mehr als zwei Gene­ra­tio­nen von Schü­lern vom katho­li­schen Glau­ben eher weg­ge­führt hat. Der Theo­rie nach sol­len sich Glau­be und Lebens­pra­xis gegen­sei­tig erschlie­ßen. Tat­säch­lich wirkt dabei die zeit­ge­nös­si­sche Lebens­welt viel­fach als Fil­ter, durch das die katho­li­sche Glau­bens­leh­re gesiebt wird: Die nicht zeit­geist­kom­pa­ti­blen Glau­bens­in­hal­te wie Erb­sün­de, Got­tes­sohn, Wun­der, Erlö­sungs­tod, Auf­er­ste­hung, Gericht, Him­mel und Höl­le wer­den ent­we­der aus­ge­siebt oder rein lebens­prak­tisch inter­pre­tiert – etwa die Auf­er­ste­hung als ein immer wie­der Auf­ste­hen nach Rückschlägen.

Text: Hubert Hecker
Bild: her​der​-kor​re​spon​denz​.de

Print Friendly, PDF & Email
Anzei­ge

Hel­fen Sie mit! Sichern Sie die Exi­stenz einer unab­hän­gi­gen, kri­ti­schen katho­li­schen Stim­me, der kei­ne Gel­der aus den Töp­fen der Kir­chen­steu­er-Mil­li­ar­den, irgend­wel­cher Orga­ni­sa­tio­nen, Stif­tun­gen oder von Mil­li­ar­dä­ren zuflie­ßen. Die ein­zi­ge Unter­stüt­zung ist Ihre Spen­de. Des­halb ist die­se Stim­me wirk­lich unabhängig.

Katho­li­sches war die erste katho­li­sche Publi­ka­ti­on, die das Pon­ti­fi­kat von Papst Fran­zis­kus kri­tisch beleuch­te­te, als ande­re noch mit Schön­re­den die Qua­dra­tur des Krei­ses versuchten.

Die­se Posi­ti­on haben wir uns weder aus­ge­sucht noch sie gewollt, son­dern im Dienst der Kir­che und des Glau­bens als not­wen­dig und fol­ge­rich­tig erkannt. Damit haben wir die Bericht­erstat­tung verändert.

Das ist müh­sam, es ver­langt eini­ges ab, aber es ist mit Ihrer Hil­fe möglich.

Unter­stüt­zen Sie uns bit­te. Hel­fen Sie uns bitte.

Vergelt’s Gott!