Die Krise der Kirche in Europa? Sie denkt wie die Welt


Erzbischof Luigi Negri von Ferrara
Erz­bi­schof Lui­gi Negri von Ferrara

(Rom) Der Erz­bi­schof von Fer­ra­ra-Com­ac­chio, Msgr. Lui­gi Negri, einer der mar­kan­te­sten katho­li­schen Bischö­fe wirft der katho­li­schen Kir­che in Ita­li­en vor, „wie die Welt zu den­ken“ und sich des­halb in der Kri­se zu befin­den. Zudem sprach er über die Gesell­schaft im Wider­spruch zur Kir­che, die Chri­sten­ver­fol­gung im Nahen Osten, die Mas­sen­ein­wan­de­rung nach Euro­pa, die Kreuz­zü­ge und dar­über, daß „viel­leicht der Augen­blick gekom­men“ sei, die Idee des hei­li­gen Tho­mas von Aquin von der legi­ti­men bewaff­ne­ten Akti­on zur Ver­tei­di­gung und zum Schutz wiederaufzugreifen.

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Die kri­ti­schen Anmer­kun­gen von Erz­bi­schof Negri las­sen sich auf ande­re Orts­kir­chen über­tra­gen. Sie ent­stan­den durch ein Gespräch mit Matteo Mat­zuzzi, der dar­über in der Tages­zei­tung Il Foglio vom 10. Sep­tem­ber einen Arti­kel veröffentlichte.

Gesellschaft im Widerspruch zur Kirche

„Ich bin mir bewußt, daß das, was ich nun sagen wer­de, nicht auf der vor­herr­schen­den Opti­mis­mus-Linie liegt, doch die ita­lie­ni­sche Gesell­schaft befin­det sich in einem Gegen­satz zur Kir­che.“ Msgr. Lui­gi Negri, Erz­bi­schof von Fer­ra­ra-Com­ac­chio ist besorgt. Er blickt aus der erz­bi­schöf­li­chen Resi­denz, über­legt und, „ohne in den lei­der übli­chen Wirts­hau­s­ton zu ver­fal­len“, dia­gno­sti­ziert er den Gesund­heits­zu­stand der Kir­che und unse­rer Gesellschaft.

„Ich stel­le eine gewis­se Über­ein­stim­mung inner­halb der kirch­li­chen Welt und deren Bewe­gun­gen fest, daß die Ein­heit der Gesell­schaft nicht in Fra­ge gestellt wer­den sol­le. Sie ver­ste­hen aber nicht, daß die Ein­heit die­ser Gesell­schaft eine Ein­heit gegen die Kir­che ist. Sich einer Ein­heit nicht ent­ge­gen­zu­stel­len, die gegen die Kir­che ist, heißt, den Angriff gegen die Kir­che zu begün­sti­gen.“ Das sei „die erste intel­lek­tu­el­le und mora­li­sche Erfah­rung, die man macht, wenn man sich heu­te der man­nig­fal­ti­gen Welt der ita­lie­ni­schen Chri­sten­heit nähert“.

Die Situa­ti­on „ist para­dox: Der Angriff ist fron­tal und rich­tet sich nicht so sehr oder nur gegen die Wur­zeln des Glau­bens, son­dern der Gesell­schaft“. Die Bei­spie­le lie­ßen sich leicht fin­den, es genü­ge auf die aktu­ell dis­ku­tier­ten Fra­gen zu ach­ten. „Ich den­ke an die Gen­der-Fra­ge und die Hei­lig­keit des Lebens. Ange­sichts die­ser Angrif­fe ist es so, als wür­de die katho­li­sche Welt – ich sage nicht – weg­schau­en, son­dern noch schlim­mer: Sie läuft Gefahr das Aus­maß die­ses Angriffs nicht ein­mal zu bemer­ken, da sie nicht ein­mal die Din­ge sieht, die man mit frei­em Auge sehen kann.“

Schweigen der Kirchenvertreter ein Ärgernis

Es gebe auch eine Ver­ant­wort­lich­keit der Kir­che oder zumin­dest eini­ger ihrer Tei­le, wirft Matteo Mat­zuzzi, Vati­ka­nist von Il Foglio ein.

„Sicher. Die Tat­sa­che, daß wei­te Tei­le der ita­lie­ni­schen Kir­che zur Gen­der-Theo­rie nichts oder fast nichts gesagt haben, ist ein Ärger­nis für die Gläu­bi­gen.“ Der Papst aller­dings habe zur Gen­der-Theo­rie gespro­chen und gan­ze Mitt­wochs-Kate­che­sen dar­auf ver­wandt. „Ich fra­ge mich, ob die soge­nann­te Gen­der-Theo­rie nicht auch Aus­druck von Fru­stra­ti­on und einer Resi­gna­ti­on ist, die auf die Aus­lö­schung der sexu­el­len Dif­fe­renz zielt, weil sie nicht mehr ver­steht, sich mit ihr zu kon­fron­tie­ren. Wir ris­kie­ren hier, einen Rück­schritt zu machen. Die Ver­drän­gung der Unter­schie­de ist das Pro­blem, nicht die Lösung“, sag­te das Kir­chen­ober­haupt bei­spiels­wei­se am ver­gan­ge­nen 15. April.

„Der Hei­li­ge Vater hat mehr­fach zur Gen­der-Fra­ge Stel­lung bezo­gen und zwar nicht nur unmiß­ver­ständ­lich, son­dern auch von einer sozia­len Akti­on ange­trie­ben. Wir müs­sen aber zur Kennt­nis neh­men, daß die Auf­for­de­run­gen des Hei­li­gen Vaters, ich sage nicht, miß­ach­tet, aber jeden­falls nicht auf­ge­grif­fen und ver­brei­tet wur­den außer durch eine Grup­pe ita­lie­ni­scher Kir­chen­ver­tre­ter, die dar­über zu ihren Diö­ze­sen spra­chen, dar­un­ter auch ich, und damit eine star­ke katho­li­sche Teil­nah­me an der Mas­sen­kund­ge­bung am 20. Juni 2015 in Rom [„Hän­de weg von unse­ren Kin­dern“ mit einer Mil­li­on Teil­neh­mern gegen die Ein­füh­rung der Gen­der-Ideo­lo­gie an Schu­len und Kin­der­gär­ten] ermög­lich­ten. Es gilt also zunächst zu klä­ren, was der Grund für die­se gro­ße Schwä­che ist.“

Christenheit, die wie die Welt denkt, hat nicht die Kraft eine Alternative zu sein

Die­se Fra­ge habe sich auch Kar­di­nal Ryl­ko gestellt, laut dem die Groß­kund­ge­bung „von Rom nicht eine Kund­ge­bung gegen jemand war, son­dern ein demü­ti­ger Dienst für die gro­ße Cau­sa des Men­schen, die heu­te von ver­schie­de­nen Sei­ten bedroht wird.“ Erz­bi­schof Negri nennt als Grund für die Schwä­che der Kir­che: „Wie der hei­li­ge Jako­bus sagt: Die rei­ne Reli­gi­on besteht dar­in, den Hilfs­be­dürf­ti­gen zu hel­fen, vor allem aber, sich nicht der Men­ta­li­tät die­ser Welt anzu­pas­sen“. Das Pro­blem sei, daß „wir heu­te eine Chri­sten­heit erle­ben, die wie die Welt denkt und nicht die Kraft hat, der Welt auf der Ebe­ne der Wahr­heit des Lebens eine Alter­na­ti­ve ent­ge­gen­zu­set­zen. In die­sem Sinn erle­ben wir eine kul­tu­rel­le Kri­se der ita­lie­ni­schen Christenheit.“

Das Pro­blem sei, daß „die grund­sätz­li­chen Kri­te­ri­en zur Beur­tei­lung der Wirk­lich­keit der welt­li­chen Men­ta­li­tät ent­nom­men sind und man sich damit abfin­det, nur jene Räu­me zu beset­zen, die die­se Gesell­schaft zu beset­zen erlaubt, mit ande­ren Wor­ten, die Räu­me indi­vi­du­el­ler Spi­ri­tua­li­tät und ent­schärf­ter kari­ta­ti­ver Initia­ti­ven, wie Bene­dikt XVI. am Beginn der Enzy­kli­ka Cari­tas in Veri­ta­te sagt: ‚Ohne Wahr­heit glei­tet die Lie­be in Sen­ti­men­ta­li­tät ab‘.“

Christenheit braucht objektive Radikalität – Kreuzzüge durch unerträglichen Laizismus kriminalisiert

Das von Erz­bi­schof Negri gezeich­ne­te Bild sei alar­mie­rend, so Mat­zuzzi. Dage­gen bedür­fe es einer star­ken The­ra­pie: „Ich glau­be wirk­lich, daß es not­wen­dig ist, auf allen Ebe­nen und jeder in sei­nem Bereich, das Chri­sten­tum in sei­ner objek­ti­ven Radi­ka­li­tät zu wie­der­ho­len, um es aktu­ell wer­den zu las­sen, das heißt, zu einer Erfah­rung zu machen, die voll und ganz den wirk­li­chen Bedürf­nis­sen des Men­schen von heu­te ent­spricht“, so der Erz­bi­schof von Ferrara.

Mat­zuzzi merkt an, daß die Säku­la­ri­sie­rung inzwi­schen so tief in die Gesell­schaft ein­ge­drun­gen sei, daß die Anwen­dung, der von Erz­bi­schof Negri vor­ge­schla­ge­nen The­ra­pie schwer anwend­bar schei­ne. Vor allem sei nicht zu erken­nen, wer sie umset­zen sollte.

„Die bren­nend­ste Ent­täu­schung, nicht nur für mich, ist in die­sem Zusam­men­hang die weit­ge­hen­de Auf­lö­sung des katho­li­schen Ver­bands­we­sens. Es scheint, als wür­den die offi­zi­el­len katho­li­schen Ver­bän­de, die sich mit der Welt aus­ein­an­der­zu­set­zen hät­ten, gar nicht mehr exi­stie­ren. Die häu­fig­ste Begrün­dung dafür lau­tet, daß heu­te nicht mehr die Zeit für star­ke und akzen­tu­ier­te Vor­stö­ße sei, und wenn die­se doch statt­fin­den, zeigt man mit dem Fin­ger auf sie und bezeich­net sie als Kreuz­zü­ge. Dabei ist es für jeden, der nur ein wenig Geschichts­be­wußt­sein hat, beschä­mend, wie gro­ße Tei­le der katho­li­schen Welt über die Kreuz­zü­ge spre­chen, ein Phä­no­men, das man abso­lut nicht kennt, aber auf der Grund­la­ge eines uner­träg­li­chen Lai­zis­mus kri­mi­na­li­siert wird.“

Augenblick gekommen, Idee der bewaffneten Aktion zur legitimen Verteidigung wiederaufzugreifen

Mat­zuzzi sprach mit Erz­bi­schof Negri auch über das Dra­ma der ver­folg­ten Chri­sten im Nahen Osten. „Die schreck­li­che Gewalt macht deut­lich, daß der Isla­mi­sche Staat der Welt aus­drück­lich den Krieg erklärt hat und kei­ne Regeln kennt, jene Regeln, die aus der gro­ßen abend­län­di­schen Rechts­kul­tur ent­stan­den sind. Er bringt Frau­en, Kin­der, Alte um, ver­ge­wal­tigt, miß­braucht, zer­stört Denk­mä­ler der Kul­tur und der Kunst.“ Das Mas­sa­ker müs­se gestoppt wer­den, wes­halb gehan­delt wer­den müs­se. Erz­bi­schof Negri hat kei­ne Zwei­fel: „Unse­re Chri­sten­heit ist sich auf bestim­men kul­tu­rel­len und insti­tu­tio­nel­len Ebe­nen noch nicht klar­ge­wor­den, daß viel­leicht der Augen­blick gekom­men ist, mit der gebo­te­nen Aktua­li­sie­rung und der not­wen­di­gen Arti­ku­lie­rung, jene grund­le­gen­de Idee des hei­li­gen Tho­mas von Aquin – die sich die Tra­di­ti­on der kirch­li­chen Sozi­al­leh­re zu eigen gemacht hat – wie­der­auf­zu­grei­fen, laut der eine star­ke, auch bewaff­ne­te Akti­on der legi­ti­men Ver­tei­di­gung und des Schut­zes gedul­det wer­den kann“.

Hat der Westen Werte, für die man bereit ist, auch zu sterben?

Eine sol­che Akti­on ver­lan­ge jedoch einer gründ­li­chen Über­le­gung, denn, „um eine sol­che Erfah­rung, die in jedem Fall eine Aus­nah­me wäre, ins Auge zu fas­sen, bräuch­te es kla­re Wer­te, für die man lebt, für die man kämpft und für die man auch bereit ist, zu ster­ben. Hat die­ser Westen sol­che Werte?“

„Wir erle­ben eine epo­cha­le Migra­ti­ons­wel­le, der­glei­chen gab es schon im Lauf der abend­län­di­schen Geschich­te, jedoch in weni­ger akzen­tu­ier­ter Form, der man ohne eine ange­mes­se­ne Kul­tur nicht begeg­nen kann. Man kann das Pro­blem nicht auf ein bana­les ‚alle rein oder alle raus‘ redu­zie­ren, eine uner­träg­li­che Sim­pli­fi­zie­rung eines nicht akzep­ta­blen Ras­sis­mus, eben­so­we­nig jedoch auf ein Gut­men­schen­tum, das lang­fri­stig gewiß kei­ne Lösung ist. Es ist not­wen­dig, daß der Westen sich bewußt wird in all sei­nen Aspek­ten und allen mög­li­chen Fol­gen, was auf dem Spiel steht.“

Westen bereit, eigene Seele zu verkaufen – Akt radikaler Evangelisierung gefordert

Wel­che Kul­tur ist aber heu­te im Westen bestim­mend? „Ist es das, was von der schreck­li­chen Kri­se der moder­nen, zeit­ge­nös­si­schen Ideo­lo­gien mit ihrem athe­isti­schen Anspruch übrig­bleibt? Ist es eine Kul­tur indi­vi­dua­li­sti­scher, kon­sum­ori­en­tier­ter Prä­gung, die in den tech­ni­schen Wis­sen­schaf­ten die Lösung aller Pro­ble­me sieht? Das ist nicht Kul­tur. Man kann aber einer so mas­si­ven Ein­wan­de­rung, wie sie der­zeit statt­fin­det, nicht begeg­nen, wenn man nicht ange­mes­se­ne Grün­de dafür hat, zu leben und die Wirk­lich­keit anzugehen.“

Der Westen sei heu­te hin­ge­gen „bereit, alles zu ver­kau­fen, sogar die eige­ne See­le. Das allein schon des­halb, weil der Westen zum größ­ten Teil nicht ein­mal mehr weiß, eine See­le zu besit­zen. Das bedeu­tet für mich, als Hir­te, daß die gro­ße kirch­li­che Ver­ant­wor­tung heu­te dar­in besteht, eine neue radi­ka­le Evan­ge­li­sie­rung vor­an­zu­trei­ben, oder anders gesagt, einen erzie­he­ri­schen Weg ein­zu­schla­gen, der das christ­li­che Volk erneu­ert und der es wie­der befä­higt, sich alle aus dem christ­li­chen Glau­ben erge­ben­de kul­tu­rel­le, sozia­le, poli­ti­sche und kari­ta­ti­ve Ver­ant­wor­tung zu über­neh­men“, so Erz­bi­schof Lui­gi Negri.

Text: Giu­sep­pe Nardi
Bild: Chie­sa e postconcilio

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