Franz Werfels prophetisches Erbe – eine Würdigung zum 70. Todestag


Franz Werfel 1890-1945
Franz Werfel 1890-1945

von Wolf­ram Schrems*

Anzei­ge

Anläß­lich sei­nes 70. Todes­ta­ges am 26. August sei hier ein ehren­des Wort zu Franz Wer­fel gesagt. Es soll hier aber nicht all­ge­mein um Leben und Werk gehen, der Schwer­punkt ist ein ande­rer. An die­ser Stel­le sol­len Dank und Aner­ken­nung Wer­fel hier für den Musa Dagh aus­ge­spro­chen wer­den. Noch mehr für Das Lied von Ber­na­dette. Am mei­sten aber für ein Buch, das erfah­rungs­ge­mäß nur rela­tiv weni­ge ken­nen, näm­lich Höret die Stim­me, sein 1937 erschie­ne­ner Roman über den Pro­phe­ten Jere­mi­as. Es ist ein erstaun­li­ches Buch.

Der unbe­fan­ge­ne Leser wird sich bei der Lek­tü­re näm­lich immer wie­der fra­gen: Wo hat er das her? Wie kann man das Innen­le­ben eines Pro­phe­ten der­ma­ßen empa­thisch nach­zeich­nen? Wie konn­te sich der Autor in die Situa­ti­on des Vol­kes Isra­el des sieb­ten vor­christ­li­chen Jahr­hun­derts einfühlen?

Die Handlung: Ein Prophet dringt mit seiner Botschaft nicht durch

In pro­fun­der Kennt­nis der bibli­schen Vor­la­ge macht Wer­fel, bekannt­lich selbst Jude, aus dem Stoff eine zusam­men­hän­gen­de Hand­lung, die ihrer­seits in eine am Beginn des 20. Jahr­hun­derts spie­len­de Rah­men­hand­lung ein­ge­bet­tet ist.

Der jun­ge Mann Jere­mia aus Ana­thot, eini­ge Kilo­me­ter nörd­lich von Jeru­sa­lem, wird in Ein­spre­chun­gen und Visio­nen von Gott beru­fen, vor die Mäch­ti­gen in Reli­gi­on und Poli­tik zu tre­ten. Prie­ster und Köni­ge, Für­sten, Kriegs­her­ren und Beam­te – alle sol­len sich zu einer inne­ren Got­tes­be­zie­hung bekeh­ren. Sie sol­len auch die sozia­len Wei­sun­gen des mosai­schen Geset­zes umset­zen. Das betrifft vor allem den Frei­laß der Skla­ven im sieb­ten Jahr, wie er im Gesetz vor­ge­schrie­ben ist (Ex 21,2). Das wird aber im Hin­blick auf das Vor­bild der – „prag­ma­ti­sche­ren“ und „rea­li­sti­sche­ren“ – Nach­bar­völ­ker nicht gemacht.

Wenn die Ent­schei­dungs­trä­ger jedoch nicht gehor­chen, dann kommt das Straf­ge­richt. Vor etwa „drei Men­schen­le­ben“ ist es bereits dem Nord­reich so ergan­gen (Erobe­rung Sama­ri­as durch die Assy­rer im Jahr 722).

Der für die­se grim­mi­ge Ver­rich­tung aus­er­se­he­ne „Knecht Got­tes“ ist der baby­lo­ni­sche Groß­kö­nig Nebu­kad­nez­zar II.

Im Jahr 597 wird nun Jeru­sa­lem von Nebu­kad­nez­zar ein­ge­nom­men, der ver­hält sich aller­dings äußerst zurück­hal­tend: Nur rela­tiv weni­ge Israe­li­ten aus der Ober­schicht wer­den zusam­men mit dem jugend­li­chen König Jechon­jah und eini­gen Für­sten, erbit­ter­ten Fein­den des Pro­phe­ten übri­gens, ins Exil ver­schleppt, Ver­ge­wal­ti­gun­gen und Ver­wü­stun­gen blei­ben aus. Es kommt ledig­lich zu den kriegs­üb­li­chen Plün­de­run­gen. Der Pro­phet ist erleich­tert, daß es so mil­de gekom­men ist:

„Das Volk leb­te trotz­dem, wenn auch ver­rin­gert und gede­mü­tigt. Aber es kam dar­auf nicht an, daß die­ses Volk stolz und groß, son­dern daß es rein war. Der Herr hat­te ihm eine neue Frist der Ent­wir­rung gesetzt. Es war wie ein fri­scher Beginn nach einer gro­ßen Sühne.“

Der Pro­phet hofft, daß Volk und Füh­rer die Bot­schaft ver­stan­den haben. Dem ist aber nicht so.

Franz Werfel: Höret die Stimme
Franz Wer­fel: Höret die Stimme

Der neue König Zid­ki­jah setzt nicht auf eine ver­in­ner­lich­te reli­giö­se Pra­xis und die äußer­li­che Umset­zung der sozia­len Gebo­te des mosai­schen Geset­zes, son­dern bricht in sei­ner Ver­blen­dung den Loya­li­täts­eid gegen­über Nebu­kad­nez­zar und schmie­det gegen die­sen einen Bund meh­re­rer König­rei­che. Alle Mah­nun­gen des Pro­phe­ten wer­den abge­schmet­tert und brin­gen ihm Schmä­hun­gen, Fol­ter, Haft und Mord­an­schlä­ge ein, die er nur knapp überlebt.

In pre­kä­rer Situa­ti­on wird der König dann doch nach­denk­lich und hört auf den Pro­phe­ten. Er kann und will sich aber gegen sei­ne Kriegs­trei­ber nicht durch­set­zen. Er schlägt in sei­nem ver­blen­de­ten Stolz das letz­te Frie­dens­an­ge­bot Baby­lons aus und ver­traut auf sei­ne mili­tä­ri­sche Kraft – und stürzt im Jahr 586 sein Volk ins Unglück. Die Über­le­ben­den der Erobe­rung wer­den in eine Gefan­gen­schaft ver­schleppt, die etwa fünf­zig Jah­re lang dau­ern wird. Der König muß mit­an­se­hen, wie sei­ne bei­den Söh­ne erschla­gen wer­den. Er selbst wird geblen­det und ins Exil geführt.

Dem Pro­phe­ten gewährt Nebu­kad­nez­zar Freiheit.

Im letz­ten inne­ren Rin­gen des Pro­phe­ten mit Gott im zer­stör­ten Tem­pel öff­net Wer­fel schließ­lich die Per­spek­ti­ve auf die letz­te Offen­ba­rung Got­tes, auf das ewi­ge Leben und auf „Got­tes Freu­de“, die unver­gäng­lich ist. Aber dafür müs­sen noch eini­ge Jahr­hun­der­te ins Land ziehen.

Werfels Ausführungen zur Geschichtstheologie

Gemäß dem Duc­tus des gesam­ten Alten Testa­men­tes for­mu­liert Wer­fel das Offen­sicht­li­che: Das Volk Isra­el folgt nicht dem Gesetz Got­tes. Die Aus­er­wäh­lung soll­te ein vor­bild­li­ches Glau­ben und Leben nach sich zie­hen, um die Welt zum wah­ren Gott hinzuführen.

Das aber hat nicht funktioniert:

„Der Herr offen­bar­te Mose in kla­rem mensch­li­chen Wort sein Gesetz und sei­ne Ord­nung, damit es fort­an kein Strau­cheln und Irren gebe. Wur­de die­se Ord­nung ein­ge­hal­ten und erfüllt, wur­de sie immer fei­ner begrif­fen, immer rei­ner ver­wirk­licht, wur­de sie end­lich durch die ihr inne­woh­nen­de Ein­fach­heit und Gül­tig­keit zur Ord­nung der Welt, dann war es Isra­el viel­leicht gege­ben, das Zer­stör­te wie­der­her­zu­stel­len und das Reich Got­tes zu errich­ten. Dies aber war Isra­el nicht gege­ben. Der Plan Got­tes schei­ter­te am Men­schen, wie der Mensch an Got­tes Plan. Der aus­ge­son­der­te Welt­lauf Isra­els droh­te wie ein fau­ler Bach im all­ge­mei­nen Welt­lauf der Völ­ker zu ver­schwin­den. (…) In dem Vol­ke und in sei­nen Köni­gen wuchs die Sehn­sucht, abtrün­nig zu sein und sich anzu­glei­chen. (…) So kam es, wie es kom­men muß­te. Was tut der Stein­metz, wenn sein Mei­ßel an der Här­te des Steins zer­bricht? Er wirft ihn fort.“

Eben­falls im Sin­ne der hebräi­schen Bibel führt Wer­fel aus, daß das peni­ble Ein­hal­ten von Kult­ge­set­zen ohne einer Ände­rung des gesam­ten indi­vi­du­el­len und sozia­len Lebens kei­nen Wert besitzt. Die Anwe­sen­heit des Tem­pels zu Jeru­sa­lem garan­tiert noch kei­ne Wohlfahrt:

„Genüg­te es, mit fre­chem Leicht­sinn auf Tem­pel, Opfer und Lade zu ver­trau­en, als sei der Herr ein mensch­li­cher Haus­va­ter, gei­zig und klein­lich, der sei­nen Schatz, was immer auch gesche­he, aus der Feu­ers­brunst ret­ten wird? Nein (…). Er bedurf­te des Tem­pels, des Opfers, der Lade und der Leh­re nicht. (…) Ich­bin­de­rich­bin, er war nicht ange­wie­sen auf Abra­hams Samen, er konn­te neue Plä­ne fas­sen, zu ande­ren Werk­zeu­gen greifen.“

Der entschlossene Abfall vom Glauben – religiös übertüncht

Wer­fels Beschrei­bung der reli­giö­sen Situa­ti­on zur Zeit Jere­mi­as erzeugt in ihrer inne­ren Plau­si­bi­li­tät und ihrem Wie­der­erken­nungs­wert für heu­te beim Leser ein leich­tes Frösteln.

Joja­kim, Vor­vor­gän­ger von Zid­ki­jah und des­sen Halb­bru­der, ist König von Ägyp­tens Gna­den. Durch einen Hand­streich an die Macht gekom­men, erweist er sich als grau­sa­mer Gewalt­herr­scher. Die Prie­ster­ka­ste fügt sich. Sie bringt kein Wort des Wider­spru­ches über die Lip­pen, als der König den Pro­phe­ten Uri­jah ums Leben bringt.

Die Schrift­ge­lehr­ten schwa­dro­nie­ren im Tem­pel end­los über reli­giö­se Fra­gen, zie­hen aus dem Über­dach­ten aber kei­ne kon­kre­ten Konsequenzen:

„Durch die umfas­sen­den Säu­len­hal­len wan­del­ten Alt­prie­ster und Schrift­mei­ster mit ihren Schü­lern. (…) And­re Gelehr­te schrit­ten ein­sam ver­sun­ken ein­her, mit fei­nem Lächeln dem erken­nen­den Selbst­ge­spräch hin­ge­ge­ben. Alles wie immer. Kein Auge, das auf die­sem welt­ab­ge­kehrt geist­li­chen Trei­ben ruh­te, hät­te geahnt, daß der ent­schlos­sen­ste Abfall über Jeru­sa­lem herrsch­te, daß die Gro­ßen des Tem­pels und der Leh­re den Mord an einem Gehei­lig­ten Got­tes wort­los gedul­det hat­ten. Hier unter die­sen Säu­len herrsch­te nicht die gro­be Sün­de der Gewalt, son­dern die ver­fei­ner­te Sün­de des Gei­stes, die geschmei­dig im Wor­te forscht, ohne das Wort wahr­zu­ma­chen, die spie­le­risch die Leh­re zer­spal­tet, ohne die Leh­re auf sich zu nehmen“.

Gott for­dert aber etwas ande­res als end­lo­sen Dis­put: Inner­li­che Hin­ga­be und Umset­zung der Gebo­te. Der Tem­pel in Jeru­sa­lem ist weder heils­not­wen­dig noch auch unzer­stör­bar. Jere­mia schmet­tert den regie­rungs­na­hen Auf­trags- und Lügen­pro­phe­ten und der Tem­pel­ari­sto­kra­tie das Got­tes­wort entgegen:

„Wenn ihr auf mein Wort und mei­ne Leh­re nicht hört, spricht der Herr, so zer­stö­re ich die­sen mei­nen Tem­pel wie den von Silo, und euch mache ich zum Fluch der Völker“.

Der Prophet Jeremia (Michelangelo, Sixtinische Kapelle)
Der Pro­phet Jere­mia (Michel­an­ge­lo, Six­ti­ni­sche Kapelle)

Die Botschaft –

Die­se ist, daß trotz der Offen­ba­rung Got­tes rech­ter Glau­be und rech­tes Han­deln schwer­fal­len. Beson­ders im sozia­len Bereich funk­tio­niert es nicht. Das Volk der Erwäh­lung gehorcht Gott nicht, son­dern mal­trä­tiert des­sen Pro­phe­ten (und nicht nur die­sen einen).

Man kann davon aus­ge­hen, daß Wer­fel sei­nen Volks­ge­nos­sen in kri­ti­scher Zeit etwas mit­tei­len woll­te. Im nachalt­te­sta­ment­li­chen, tal­mu­di­schen Juden­tum spielt Jere­mia jeden­falls kei­ne Rol­le mehr. Man hat auf ande­re Optio­nen gesetzt.

Wer­fel arbei­tet ein­dring­lich her­aus, daß die viel­ge­schmäh­ten „Unheils­pro­phe­ten“ die ech­ten Pro­phe­ten sind. Die Heils­pro­phe­ten, die im Dienst der poli­ti­schen Macht ste­hen und gleich­zei­tig der Träg­heit, der Arro­ganz und dem Natio­nal­chau­vi­nis­mus der Mas­sen schmei­cheln, sind Lügen­pro­phe­ten. Sie haben kei­nen Auf­trag von oben (Jer 14,13–16).

Denn es gibt kein zeit­li­ches und kein ewi­ges Heil ohne rech­tes Han­deln. Wer pre­digt, daß der Ver­lauf der Geschich­te (eines Vol­kes oder eines Indi­vi­du­ums) ohne die Müh­sal der Bekeh­rung gut wird, ist ein Lügner.

Der Lügen­pro­phet Chanan­jah, der vor­gibt, im Auf­trag Got­tes zu spre­chen und unbe­grün­de­ten Opti­mis­mus pre­digt, wird zur Stra­fe von töd­li­chem Wurm­fraß geschla­gen – was dem wirk­li­chen Pro­phe­ten kei­nes­wegs Respekt, son­dern noch mehr Haß und Eifer­sucht einbringt.

– auch in der Gegenwart aktuell

Ein Katho­lik, der ja das Alte Testa­ment als Got­tes Wort bekennt und daher die War­nun­gen des Pro­phe­ten auf das Volk des Neu­en Bun­des, die Kir­che, umlegt, wird mit Erschrecken fra­gen müssen:

Wel­che Kon­se­quen­zen wird der im 20. Jahr­hun­dert ein­ge­tre­te­ne offe­ne Glau­bens­ab­fall nach sich zie­hen? Sind des­sen kata­stro­phi­sche Fol­gen in der Welt, in Poli­tik, Wirt­schaft und Gesell­schaft nicht schon längst sicht­bar? War nicht auch „im Volk (…) die Sehn­sucht, abtrün­nig zu sein“ gewach­sen? Und in der Hier­ar­chie? Wie wer­den die Ver­höh­nung Got­tes und die Schän­dung des Men­schen, der Mas­sen­mord im Mut­ter­leib und die geo­po­li­tisch ein­kal­ku­lier­ten Revo­lu­tio­nen und Krie­ge, geahn­det werden?

Kein Grund zu ver­mes­se­nem Optimismus.

Werfel – der kongeniale Interpret des Propheten 

Wie ein­gangs gesagt, kann hier kei­ne erschöp­fen­de Schau und Deu­tung des Lebens von Franz Wer­fel gelei­stet wer­den. Man­ches blieb ver­wor­ren. Man kann es nur bedau­ern, daß er sich – obwohl inner­lich schon nahe dar­an – nicht zur Annah­me der Tau­fe durch­rin­gen konn­te. Wie auch immer: In einem gewis­sen Kon­trast zu Stil und Wir­kung des Musa Dagh und der Ber­na­dette steht sein Jere­mia-Roman, der auch in sprach­li­cher Hin­sicht ein unaus­schöpf­li­ches Mei­ster­werk dar­stellt, in sei­nem Werk und in der gesam­ten deutsch­spra­chi­gen Lite­ra­tur ein­sam dar. Man kann es nicht anders sagen: Franz Wer­fel ist der kon­ge­nia­le Dol­metsch des Jeremia.

Dank und Aner­ken­nung dem Autor daher zum 70. Todes­tag für die­se Bot­schaft, die wir nur bekräf­ti­gen können:

Hört auf die Stim­me der Wahrheit!

*MMag. Wolf­ram Schrems, Linz und Wien, katho­li­scher Theo­lo­ge, Phi­lo­soph, kirch­lich gesen­de­ter Katechist

 Bild: Una Fides

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