(Bonn) „Die letzte christlich sozialisierte und kirchlich aktive Generation scheidet bald aus dem Arbeitsleben aus und stirbt in den nächsten drei Jahrzehnten. Dann bricht auch die Fassade der Kirche zusammen. Dahinter wird eine Minderheit zum Vorschein kommen, die nicht viel größer sein wird als die Gemeinschaft der Zeugen Jehovas.“ Diese nüchterne Feststellung schrieb Markus Günther vergangenes Jahr wenige Tage nach Weihnachten in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.
„Diaspora Deutschland“
Der Hinweis auf das Ausscheiden aus der Arbeitswelt und den näherrückenden Tod hat mit dem deutschen Kirchensteuersystem zu tun. Günther verwertete eine Erhebung des Allensbach Instituts, die von der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) in Auftrag gegeben worden war. Die Ergebnisse waren jedoch so niederschmetternd, daß sie der DBK-Vorsitzende Kardinal Reinhard Marx, sofort in der Schublade verschwinden ließ.
Bekannt wurden sie dennoch teilweise durch den Journalisten Markus Günther, der sich am 29. Dezember unter dem Titel „Diaspora Deutschland“ die Frage stellte: „Ist Deutschland ein christliches Land?“. Günther berichtete „aus der Spätzeit des Christentums“.
Kirche macht noch „Staat“, „wo sie eine glänzende Feier verspricht“
Einige Zahlen. 68 Prozent der Befragten wählten auf die Frage, warum sie katholisch seien, die Antwort: „Weil man dann wichtige Ereignisse im Leben kirchlich feiern kann, zum Beispiel Hochzeit, Taufe“. Die zweithäufigste Antwort war: „Es gehört für mich einfach dazu, das hat in unserer Familie Tradition.“ Religiöse Antworten klingen anders. Es seien einfach „kulturelle, soziale Gründe“, konstatierte Günther. Ein Befund, der von katholischen Priestern und protestantischen Pastoren bestätigt werde: Die Kirche könne heute noch dort einen „Staat“ machen, „wo sie eine glänzende Feier verspricht“, so Günther.
Laut Allensbach glauben mehr Deutsche an Ufos als an das Jüngste Gericht. Zwei Drittel der Deutschen sind amtlich Christen, aber nur ein Drittel glaubt an die Auferstehung Christi. „Selbst unter den Gläubigen werden zentrale Inhalte der christlichen Botschaft massenhaft abgelehnt“, so Günther. 60 Prozent der Deutschen glauben nicht an ein ewiges Leben. Für sie ist mit dem Tod Feierabend. „Dagegen glaubt jeder vierte Deutsche, dass die Begegnung mit einer schwarzen Katze Unglück bringt“, so der FAZ-Journalist. Jeder dritte Firmkandidat und Confirmand glaubt, laut Allensbach, nicht an Gott.
„Die Menschen feiern gerne“ – Zahl der Atheisten steigt nicht
Günther zieht einen Vergleich mit der Endphase der DDR. Deren Ideologie sei zwar längst bankrott gewesen, doch die Jugendweihen waren noch immer ein Renner. Sie konnten, völlig sinnentleert, sogar den Untergang des realen Sozialismus überdauern. Die Menschen feiern eben gerne. Das gelte heute auch für viele Gottesdienste. Man feiere weiter, auch wenn man nicht an Gott glaube.
Die Kirchensteuer werde spätestens ab 2030 in schnellen Schritten versiegen, meint Günther. Allein 2013 habe die katholische Kirche in Deutschland zehn Prozent ihrer Gottesdienstbesucher verloren. Kein Benedikt- und kein Franziskus-Effekt habe etwas an der Talfahrt geändert. Bei diesen „Effekten“ handle es sich mehr um Journalisten- und Soziologendiskurse.
Erstaunlicherweise steige trotz des massiven Schwundes praktizierender Gläubiger die Zahl der Atheisten nicht. Eine Hinwendung zum Atheismus ist mit der Entchristlichung nicht verbunden, auch kein Anwachsen anderer, etwa außereuropäischer Religionen. „Ein vager, oft diffuser Glaube ist heute der Normalfall“, so Günther. Für die „große Mehrzahl“ der Menschen sei die Frage nach Gott auch weiterhin ein lebenslanges Thema. Die Suchenden und Fragenden würden von den Kirchen aber immer seltener erreicht.
Denkfehler „zeitgemäß“: Anpassung an Lebenswirklichkeit ist „Unsinn“
„Die populärste Antwort“ auf die Frage, warum dem so sei, laute, „weil die Kirche nicht mehr zeitgemäß ist“. Sie müsse sich stärker „der Lebenswirklichkeit der heutigen Menschen anpassen“. Das klinge „vorderhand plausibel, ist aber bei genauerem Hinsehen Unsinn“, so Günther. Denn „die Evangelische Kirche in Deutschland hat so ziemlich alles getan, was von der katholischen Kirche immer noch verlangt wird, um endlich zeitgemäß zu sein: Frauenpriestertum, Abschaffung des Zölibats, Liberalität bei Moralfragen, volle Akzeptanz von Homosexuellen und Geschiedenen. Wären das tatsächlich die Gründe für die Malaise des Christentums, müsste es den Protestanten viel besser gehen als den Katholiken. Doch das ist nicht so.“
Günther machte beim „populären Zauberwort ‚zeitgemäß‘“ noch einen zweiten „Denkfehler“ ausfindig: „Wo sich die Kirche nicht auf zeitlose, unverfügbare Wahrheiten beruft, entlarvt sie sich selbst als reines Menschenwerk. Politische Programme müssen zeitgemäß sein, Unterhaltungsangebote auch; eine Religion muss absolute Wahrheiten für sich in Anspruch nehmen können – oder es ist keine Religion.“
„Zentrale Glaubensinhalte längst aufgegeben“ – „beliebige Wohlfühlprosa“
In Wirklichkeit hätten die katholische und die protestantische Kirche in Deutschland „zentrale Glaubensinhalte längst aufgegeben“. Denn um „niemanden zu verprellen und den Zugang zum Glauben möglichst leicht zu machen“, sei alles „ein bisschen weichgespült“ und etliches unter den Tisch fallengelassen worden. Und so sei aus Jesus, dem Gottessohn, Jesus, ein vorbildlicher Mensch geworden, so vorbildlich wie Gandhi und Buddha. Der kleinste gemeinsame Nenner der in Deutschland betriebenen „Verkündigung“ sei die „Wohlfühlprosa“, die „beliebig wirkt“: Frieden in der Welt, mehr Gerechtigkeit für alle, da sage niemand nein. Allerdings: Das sagen alle, von der Unesco bis zu Greenpeace. „Gott braucht’s dafür nicht“, so Günther.
„Religionen müssen absolute Wahrheiten formulieren“
Der Mensch stehe sich heute auch selbst im Weg und damit auch dem Glauben: „Die totale Kontrolle, die volle Alleinherrschaft über das eigene Leben ist angesagt; ein ungünstigerer Nährboden für den Glauben ist kaum denkbar“, so Günther, der zum Schluß gelangt: „Religionen müssen absolute Wahrheiten formulieren“. Genau darin liege derzeit das große Versagen. Und darin ist wohl mindestens auch ein zusätzlicher Grund zu suchen, weshalb die Deutsche Bischofskonferenz die Allensbach Studie nicht veröffentlicht hat.
Text: Giuseppe Nardi
Bild: MiL