Kinderlosigkeit, Steuern, Einwanderung: Warum wir wie das Römische Reich enden werden


Thomas Cole: Die Zerstörung des Römischen Reiches, 1836
Thomas Cole: Die Zerstörung des Römischen Reiches, 1836

(Mai­land) Mit dem Unter­gang des West­rö­mi­schen Rei­ches befaßt sich ein 2014 ver­öf­fent­lich­tes, vor drei Wochen in Frank­reich auch als Taschen­buch her­aus­ge­ge­be­nes Werk von Michel De Jaeg­he­re. Eine Buch­be­spre­chung ver­faß­te der bekann­te katho­li­sche Jurist und Sozio­lo­ge Mas­si­mo Intro­vi­gne, der 2011 OSZE-Reprä­sen­tant gegen die Dis­kri­mi­nie­rung und Ver­fol­gung von Chri­sten und ande­rer Reli­gio­nen war.

Anzei­ge

Buch­be­spre­chung von Mas­si­mo Introvigne

Man mag über Frank­reich schlecht reden wie lan­ge man will, man wird aber die Fähig­keit der Fran­zo­sen aner­ken­nen müs­sen, kul­tu­rel­le Debat­ten zu begin­nen, die über die All­tags­ba­na­li­tä­ten hin­aus­ge­hen. Ein Bei­spiel dafür ist die anhal­ten­de Dis­kus­si­on über das Buch des Histo­ri­kers und Jour­na­li­sten Michel De Jaeg­he­re: „Les Der­niers Jours. La fin de l’em­pire romain d’Oc­ci­dent“ (Die letz­ten Tage. Das Ende des West­rö­mi­schen Rei­ches, Le Bel­les Lett­res, Paris 2014). Im Febru­ar 2015 wid­me­te die katho­li­sche Monats­zeit­schrift „La Nef“ dem 600-Sei­ten-Werk eine Son­der­aus­ga­be mit einer Rei­he von bemer­kens­wer­ten Arti­keln. Über das Buch wird jedoch in den unter­schied­lich­sten Krei­sen dis­ku­tiert. Zum Teil recht hitzig.

War­um beschäf­tigt im Jahr 2015 der Unter­gang des Römi­schen Rei­ches so sehr? Es han­delt sich gewiß um eines der wich­tig­sten Ereig­nis­se der Welt­ge­schich­te. Die fran­zö­si­sche Debat­te ver­la­ger­te sich jedoch schnell auf die poli­ti­sche Ebe­ne, weil die Fra­ge nach den Grün­den für das Ende des Römi­schen Rei­ches an eine ande­re ster­ben­de Zivi­li­sa­ti­on erin­nert – wor­auf bereits Bene­dikt XVI. auf­merk­sam mach­te – an unse­re eigene.

Westrom ging unter, weil Christen nur kleine Minderheit waren

De Jaeg­he­re wie­der­holt vor allem, was der Fach­welt der Histo­ri­ker bestens ver­traut ist, wenn auch manch­mal von Pro­pa­gan­di­sten des Athe­is­mus und Nost­al­gi­kern des Hei­den­tums geleug­net wird, die in Frank­reich viel­leicht ver­brei­te­ter und auf­dring­li­cher als anders­wo sind. Das Römi­sche Reich ging nicht wegen des Chri­sten­tums zugrun­de. Die The­se, laut der die Chri­sten mit ihrer Bot­schaft der Lie­be und des Frie­dens die Wehr­be­reit­schaft des Rei­ches gegen die Ger­ma­nen geschwächt hät­ten, sieht man von heid­ni­schen Pole­mi­kern der ersten Jahr­hun­der­te wie Kel­sos ab, wur­de durch die Auf­klä­rung ver­brei­tet, von Vol­taire und dem eng­li­schen Histo­ri­ker Edward Gib­bon. Wie De Jaeg­he­re erin­nert, ist die­se The­se jedoch völ­lig falsch. Am Beginn des fünf­ten Jahr­hun­derts waren nur zehn Pro­zent der Bewoh­ner des West­rö­mi­schen Rei­ches Chri­sten, wäh­rend sie im Ost­rö­mi­schen Reich die Mehr­heit stell­ten. Es ist das Ost­rö­mi­sche Reich, das den Angrif­fen wider­stand und das West­rö­mi­sche Reich um tau­send Jah­re über­leb­te. Und es sind die zehn Pro­zent Chri­sten im Westen, die Rom und sei­ne Kul­tur am Leben zu erhal­ten ver­su­chen mit ihren Bischö­fen und Intel­lek­tu­el­len wie Ambro­si­us und Augu­sti­nus, aber auch als Gene­rä­le, die bis zum äußer­sten kämp­fen wie Sti­licho, der Sohn einer Röme­rin und eines Van­da­len, der römi­sches Bür­ger­recht erwor­ben hat­te, oder Aeti­us, die mit vie­len christ­li­chen Sol­da­ten heroi­sche Waf­fen­ta­ten vollbrachten.

Nach­dem die­se Dumm­hei­ten über das Chri­sten­tum aus­ge­räumt sind, bleibt die Fra­ge, wie aber das immense Römi­sche Reich unter­ge­hen konn­te. Heu­te sind die Histo­ri­ker sehr vor­sich­tig gewor­den mit dem Umgang des Begriffs „Deka­denz“. Es stimmt, daß auf dem Gebiet des heu­ti­gen Ita­li­en in den letz­ten Jahr­hun­der­ten des Rei­ches zwei­hun­dert­tau­send Fami­li­en­ober­häup­ter das Recht auf kosten­lo­se staat­li­che Ver­kö­sti­gung hat­ten, gleich­gül­tig ob sie einer Arbeit nach­gin­gen oder nicht. Eben­so stimmt es, daß die berufs­tä­ti­gen römi­schen Bür­ger, das Mili­tär aus­ge­nom­men, 180 arbeits­freie Tage im Jahr hat­ten, an denen sie sich häu­fig an grau­sa­men und zwei­fel­haf­ten öffent­li­chen Spek­ta­keln erhei­ter­ten. Über die­se Deka­denz klag­ten Schrift­stel­ler und Phi­lo­so­phen bereits zur Zeit Jesu, vier­hun­dert Jah­re vor dem Fall des Rei­ches, als Rom sei­ne Schlach­ten noch gewann.

Auf die Bezeich­nung „Deka­denz“ kön­ne man den­noch nicht leicht ver­zich­ten, emp­fiehlt De Jaeg­he­re. Dabei ist die Anmer­kung zahl­rei­cher Histo­ri­ker zutref­fend, eine mono­kau­sa­le Erklä­rung des Unter­gangs des West­rö­mi­schen Rei­ches als ideo­lo­gi­sche Sicht­wei­se zu sehen. Das bedeu­tet aber nicht, daß das Ereig­nis nicht erklär­bar ist. Ganz im Gegen­teil. De Jaeg­he­re spricht von einem „Pro­zeß“, der die ver­schie­de­nen vor­ge­schla­ge­nen Erklä­run­gen unter­ein­an­der verbindet.

Hauptgrund Geburtenrückgang

Wie Bene­dikt XVI., ohne die­sen zu nen­nen, erkennt auch der fran­zö­si­sche Histo­ri­ker den Haupt­grund des Nie­der­gangs im Pro­zeß des Gebur­ten­rück­gangs. Zur Gebur­ten­kon­trol­le ver­füg­ten die Römer nicht über die tech­ni­schen Hilfs­mit­tel von heu­te, doch Mord an unge­bo­re­nen und gebo­re­nen Kin­dern brei­te­te sich aus. Eben­so nahm die Zahl erwach­se­ner Män­ner zu, die nur mehr homo­se­xu­el­le Bezie­hun­gen haben woll­ten. Die Fol­ge war eine demo­gra­phi­sche Kata­stro­phe. Die Stadt Rom brach von einer Mil­li­on Ein­woh­ner in der gol­de­nen Zeit des Impe­ri­ums auf 20.000 am Ende des fünf­ten Jahr­hun­derts zusam­men. Ein Ver­lust von 98 Pro­zent. Die Sta­ti­sti­ken über die Bevöl­ke­rungs­ent­wick­lung auf dem Land sind weni­ger gesi­chert, doch wur­den in den letz­ten bei­den Jahr­hun­der­ten des Rei­ches 30–50 Pro­zent aller land­wirt­schaft­li­chen Nie­der­las­sun­gen auf­ge­ge­ben. Nicht weil sie nicht mehr gewinn­brin­gend waren, son­dern weil es nie­man­den mehr gab, der die Böden bear­bei­ten hät­te können.

Zerstörerischer Steuerdruck

Was sind die Fol­gen der Kin­der­lo­sig­keit? Es sind vie­le und alle sind sie nega­tiv. Aus wirt­schaft­li­cher Sicht bedeu­tet eine gerin­ge­re Bevöl­ke­rung weni­ger Pro­du­zen­ten und weni­ger Steu­er­zah­ler. Das Römi­sche Reich gab in die­ser Situa­ti­on der Ver­su­chung nach, der vie­le Staa­ten in der glei­chen Lage erlie­gen. Es erhöh­te die Steu­ern bis zur Zer­stö­rung der eige­nen Wirt­schaft. Was wie­der­um gerin­ge­re Steu­er­ein­nah­men bedeu­te­te. Man kann sich die Kur­ve vor­stel­len: Wenn die Steu­ern zu sehr erhöht wer­den, nimmt der Staat weni­ger Steu­ern ein, weil vie­le Unter­neh­men in den Ruin getrie­ben wur­den und daher nichts mehr zah­len kön­nen. Der Unter­gang des Reichs wird in sei­nem letz­ten Jahr­hun­dert von einem rui­nö­sen Ein­bruch der Steu­er­ein­nah­men von 90 Pro­zent ange­kün­digt. Vie­le Grund­be­sit­zer, die die Steu­ern nicht mehr auf­brin­gen kön­nen, fül­len die Rei­hen einer blü­hen­den Kri­mi­na­li­tät und des Bandentums.

Sklavenhalterwirtschaft und Staatsdirigismus

Rom steht an der Spit­ze eines Systems, das die Skla­ve­rei kennt. Als Lösung für die Kin­der­lo­sig­keit der Frei­en ver­sucht man in erster Linie die Gebur­ten­zif­fer der Skla­ven zu erhö­hen, denen Abtrei­bung ver­bo­ten ist. Mit allen Mit­teln wer­den die Skla­ven ange­hal­ten, Kin­der zu zeu­gen. Im letz­ten Jahr­hun­dert des Rei­ches waren 35 Pro­zent der Bewoh­ner des heu­ti­gen Ita­li­ens Skla­ven. Skla­ven zah­len aber kei­ne Steu­ern, arbei­ten mit wenig Ein­satz und Eifer und haben nur ein gerin­ges Inter­es­se, ihre ange­grif­fe­nen Besit­zer mit Waf­fen zu ver­tei­di­gen. Die Skla­ven­hal­ter­wirt­schaft der letz­ten römi­schen Jahr­hun­der­te wird zudem immer mehr zur Staats­wirt­schaft. Wegen der sich ver­schär­fen­den Pro­ble­me aus Kin­der­man­gel und Steu­er­rück­gang beginnt der Staat selbst gro­ße land­wirt­schaft­li­che Betrie­be zu füh­ren. Man­gels frei­er Arbeits­kräf­te kom­men dort aus­schließ­lich Skla­ven zum Ein­satz. Bei allen Unter­schie­den erin­nert ihr gerin­ger Arbeits­ei­fer an die Arbei­ter und Bau­ern der Sowjetstaaten.

Unkontrollierte Massenzuwanderung

Wenn es auf­grund des Gebur­ten­rück­gangs an eige­nen Bür­gern man­gelt und die Skla­ven die Pro­ble­me nicht zufrie­den­stel­lend lösen, grei­fen die Staa­ten und Impe­ri­en übli­cher­wei­se zu einer ande­ren Maß­nah­me, um ihr Land zu bevöl­kern: die mas­si­ve Zuwan­de­rung. In meh­re­ren euro­päi­schen Spra­chen ist im Zusam­men­hang mit dem Unter­gang des Römi­schen Rei­ches viel die Rede von „Inva­sio­ni bar­ba­ri­che“, „Bar­ba­ri­an Inva­si­on“, wie die Völ­ker­wan­de­rungs­zeit genannt wird. De Jaeg­he­re erin­nert jedoch dar­an, daß die größ­te „Inva­si­on“ nicht durch Erobe­rung, son­dern durch Ein­wan­de­rung erfolg­te. Das gewalt­sa­me Ein­drin­gen Ala­richs führ­te im Jahr 401 20.000 West­go­ten nach West­rom. Die Maß­nah­men West­roms, mit denen zwi­schen 376 und 411 ger­ma­ni­sche Völ­ker­schaf­ten zur lega­len und geför­der­ten Ein­wan­de­rung ein­ge­la­den wur­den, um dem Pro­blem des Gebur­ten­man­gels im Reich zu begeg­nen, führ­ten in nur 35 Jah­ren zur Ein­wan­de­rung von einer Mil­li­on Men­schen. Natür­lich wan­dern die „Bar­ba­ren“ ins Reich ein oder erobern es, weil es ihnen zu Hau­se wegen des Drucks durch die zen­tral­asia­ti­schen Hun­nen nicht gut geht und dadurch eine gan­ze Ket­ten­re­ak­ti­on aus­ge­löst wur­de. Ein Grund für das Ende des West­rö­mi­schen Rei­ches, der nicht der römi­schen Füh­rungs­klas­se anzu­la­sten ist. Die unge­zü­gel­te Zuwan­de­rung aber war ihre Schuld.

Unterminierung der Wehrkraft

Eben­so die fata­le Ent­schei­dung, Ein­wan­de­rer für die Armee zu rekru­tie­ren. Der Gebur­ten­rück­gang wur­de als Grund bereits genannt. Hin­zu kam die sin­ken­de Bereit­schaft der Römer, für ihren Staat Mili­tär­dienst zu lei­sten. Wenn jemand dage­gen pro­te­stier­te, daß Aus­län­der Legio­nä­re wur­den, wur­de ihnen schnell die Staats­bür­ger­schaft ver­lie­hen. Die­se Pra­xis ver­än­der­te die Natur der Legio­nen grund­le­gend. Am Beginn des fünf­ten Jahr­hun­derts war das römi­sche Heer kei­nes­wegs klein. Es war dop­pelt so groß wie zur Zeit von Kai­ser Augu­stus. Von 240.000 Mann hat­te man es auf eine hal­be Mil­li­on auf­ge­stockt. Das Pro­blem war, daß mehr als die Hälf­te der Armee aus ger­ma­ni­schen Ein­wan­de­rern bestand. Die schnel­le Ein­bür­ge­rung mach­te zwar zum Schein alle zu Römern, änder­te aber nichts an den Tat­sa­chen. In Rom wuß­te man, daß die Sol­da­ten mehr­heit­lich „Bar­ba­ren“ waren. Man dach­te das Pro­blem im Griff zu haben, weil die Kom­man­dan­ten und die Kai­ser Römer waren. Die „Bar­ba­ren“ soll­ten als Fuß­volk nur für Rom kämp­fen und ster­ben. Die Ger­ma­nen ver­stan­den aber schnell, daß sie die Mehr­heit in den Ein­hei­ten stell­ten und daß sie es waren, die für Rom blu­te­ten. War­um soll­ten sie sich also von Römern kom­man­die­ren las­sen? Es wer­den ihres­glei­chen zu Kom­man­dan­ten ernannt, um die Trup­pen ruhig zu hal­ten. Ger­ma­nen mit römi­schem Bür­ger­recht stei­gen zu Heer­mei­stern auf und fra­gen sich schließ­lich, war­um sie sich eigent­lich von einem römi­schen Kai­ser Befeh­le geben las­sen sol­len. Wo es römi­sche Kom­man­dan­ten gab, wur­den sie umge­bracht und durch Ger­ma­nen ersetzt. Die von Ger­ma­nen kom­man­dier­ten, ger­ma­ni­schen Legio­nen ver­bün­de­ten sich mit ihren außer­halb der römi­schen Gren­zen leben­den Volks­an­ge­hö­ri­gen und mar­schier­ten zusam­men und setz­ten Rom ein Ende.

De Jaeg­he­re ver­weist zudem, daß Rom, abge­se­hen von den Ein­la­dun­gen zur Ein­wan­de­rung, seit Jahr­hun­der­ten auf eine „Außen­po­li­tik“ gegen­über den ger­ma­ni­schen Völ­kern ver­zich­tet hat­te. Das Land jen­seits des Limes war für die Römer eine Welt mit zu viel Unbe­re­chen­ba­rem und zu wenig Reich­tum. So zog sich Rom hin­ter eine siche­re Linie zurück und über­ließ die Welt jen­seits sich selbst. Ein schwer­wie­gen­der Feh­ler. Denn dort bil­de­ten sich lang­sam jene Kräf­te, die das Reich angrei­fen und zer­stö­ren soll­ten. Der dama­li­ge Fern­han­del infor­mier­te die Ger­ma­nen auch ohne Inter­net über den ver­locken­den Reich­tum Roms.

De Jaegheres Analyse legt Vergleich mit heute nahe

Es ist ver­ständ­lich, daß die­se von De Jaeg­he­re beschrie­be­ne Sequenz, die den Grund für den Unter­gang Roms in einem Pro­zeß sieht, der vom Gebur­ten­man­gel über den Steu­er­druck, von der Staats­wirt­schaft bis zur zügel­lo­sen Mas­sen­ein­wan­de­rung reicht, man­chen nicht gefällt. De Jaeg­he­re wur­de ent­ge­gen­ge­hal­ten, daß die Ein­wan­de­rung eine „Res­sour­ce“ sei, die von den Kai­sern bes­ser geschätzt und auf­ge­wer­tet wer­den hät­te müs­sen. Das Pro­blem sei dem­nach die Unfä­hig­keit der römi­schen Kai­ser gewe­sen, das Römi­sche Reich in einer neu­en und mul­ti­kul­tu­rel­len Dimen­si­on zu den­ken, und nicht die Zunah­me der Ein­wan­de­rer. Es ist offen­kun­dig, daß sol­che „poli­tisch kor­rek­ten“ Zwi­schen­ru­fe von der römi­schen Rea­li­tät, dem Staats­ver­ständ­nis und der Tole­ranz gegen­über Spra­chen und Kul­tu­ren kei­ne Ahnung hat­ten. Sie offen­ba­ren vor allem eine Angst vor einem nahe­lie­gen­den Ver­gleich mit dem heu­ti­gen Euro­pa. Einem Ver­gleich, dem sich De Jaeg­he­re kei­nes­wegs ent­zieht, wenn er auch zur Vor­sicht mahnt.

Geburtenrückgang durch Verlust von pietas und fides

Sein Buch bie­tet auch zu Detail­fra­gen eine Ant­wort. In Rom sank die Gebur­ten­ra­te so stark ab, daß die bestands­er­hal­ten­de Gebur­ten­ra­te unter­schrit­ten wur­de mit allen Fol­ge­wir­kun­gen für die Wirt­schaft und die Ver­tei­di­gung. War­um aber kam es dazu? Weil die Römer ab einem bestimm­ten Moment einen Weg beschrit­ten, den Papst Johan­nes Paul II. mit Blick auf das heu­ti­ge Euro­pa als „demo­gra­phi­schen Selbst­mord“ bezeich­net hät­te? De Jaeg­he­re schreibt, daß lang­sam die bei­den tra­gen­den Säu­len der römi­schen Kul­tur ver­lo­ren­gin­gen: pie­tas und fides. Die Treue zu den mora­li­schen und reli­giö­sen Wer­ten der Väter und die Treue zu den Pflich­ten als römi­sche Bür­ger gegen­über dem Vaterland.

Die Grün­de für die­se „Deka­denz“ sei­en viel­fäl­tig. Zur Zeit Jesu wan­del­te sich die römi­sche Ari­sto­kra­tie von einer Krie­ger­eli­te zu einer Lati­fun­dien­eli­te, die in Rom die Ein­künf­te aus Besit­zun­gen irgend­wo im Reich erhielt, die sie nie gese­hen hat­te. Die­se neue Eli­te ist mehr an den Ver­gnü­gun­gen als an der Ver­tei­di­gung des Rei­ches inter­es­siert. Das Reich wur­de ohne­hin für ewig und unbe­sieg­bar gehal­ten. Auf­ga­ben wer­den dele­giert, wäh­rend die Eli­ten immer weni­ger Kin­der zeu­gen. Alle Fami­lie der alten Ari­sto­kra­tie, die Rom groß­ge­macht hat, ster­ben noch vor 300 nach Chri­stus aus, außer einer, die gens Aci­lia, die sich zum Chri­sten­tum bekehrt. Das Bei­spiel der Füh­rungs­klas­se fin­det, wie zu allen Zei­ten, Nach­ah­mer. Die Mode von kei­nem oder höch­stens einem Kind erfaßt schließ­lich auch die Plebs.

Westrom war nicht zu wenig, sondern zu multikulturell

Der Ein­wand der Histo­ri­ker, vor allem Eng­län­der und Ame­ri­ka­ner, die die Deka­denz-Theo­rie ableh­nen, lau­tet, daß dies vor allem Rom betref­fe oder jeden­falls die gro­ßen Städ­te, daß aber noch im letz­ten Jahr­hun­dert des Römi­schen Rei­ches 85 Pro­zent der Bevöl­ke­rung auf dem Land leb­te. Doch auch dort, so De Jaeg­he­re, ver­fie­len pie­tas und fides, denn das Reich war nicht zu wenig mul­ti­kul­tu­rell, son­dern zu viel mul­ti­kul­tu­rell und cos­mo­po­li­tisch und wur­de als eine fer­ne Büro­kra­tie wahr­ge­nom­men, die unver­ständ­li­che Ent­schei­dun­gen trifft und pri­mär nur sicht­bar wird, um die Steu­ern zu erhö­hen. Der klei­ne Grund­be­sit­zer am Land ist im besten Fall bereit sein Dorf zu ver­tei­di­gen, aber nicht die Gren­zen eines fer­nen Rei­ches, für das er kei­nen „Patrio­tis­mus“ emp­fin­det. Im schlim­me­ren Fall begrüßt er die „Bar­ba­ren“ als Befrei­er vom römi­schen Fis­kus, der ihn in den Ruin treibt. In der Tat wur­de das „Joch“ der Ger­ma­nen von vie­len Ein­hei­mi­schen als leich­ter emp­fun­den als das Westroms.

Gewiß könn­te De Jaeg­he­re den reli­giö­sen Grün­den im enge­ren Sinn mehr Auf­merk­sam­keit wid­men, die aus dem sozio­lo­gi­schen Blick­win­kel von Rod­ney Stark unter­sucht wur­den. Der Nie­der­gang der heid­ni­schen Reli­gi­on, die für nie­man­den mehr Über­zeu­gungs­kraft hat­te, steht am Beginn für den Nie­der­gang der pie­tas. Das Chri­sten­tum, das – wie bereits eine schnel­le Lek­tü­re des hei­li­gen Augu­sti­nus zeigt – Grün­de und Kraft in sich trug, das Reich und die Res Pubbli­ca zu ver­tei­di­gen, von der es sich kei­nes­wegs des­in­ter­es­siert fern­hielt, hät­te die heid­ni­sche Reli­gi­on erset­zen kön­nen, was es dann auch tut, aller­dings erst spä­ter. Im West­rö­mi­schen Reich aber, auch wenn die Kai­ser Chri­sten waren, war das Chri­sten­tum erst noch eine Minderheit.

Der Unterschied: Germanen damals waren nicht wie Moslems heute

Die Leh­ren aus De Jaeg­he­res Buch für unse­re heu­ti­ge Welt sind nahe­lie­gend. Bei aller Vor­sicht, die jeder Ver­gleich zwi­schen unter­schied­li­chen Epo­chen ver­langt, zeigt der Unter­gang Roms, wie gro­ße Zivi­li­sa­tio­nen enden kön­nen und daß die Art ihres Endes nor­ma­ler­wei­se demo­gra­phisch ist. Die Impe­ri­en stür­zen, wenn sie kei­ne Kin­der mehr zeu­gen und die Kin­der­lo­sig­keit eine teuf­li­sche Spi­ra­le aus untrag­ba­ren Steu­ern, Staats­di­ri­gis­mus, unge­zü­gel­ter Ein­wan­de­rung und letzt­lich „wehr­lo­sen“ Armeen nach sich zieht. Um die Stich­hal­tig­keit der römi­schen Para­bel für unse­re Tage zu ver­ste­hen, bedarf es nicht vie­ler Bücher. Es genügt die Fen­ster zu öff­nen und sich umzuschauen.

Zu einem Punkt aller­dings kön­nen De Jaeg­he­res Kri­ti­ker eine gewis­se Berech­ti­gung gel­tend machen. Die Ein­wan­de­rer und Erobe­rer Roms hat­ten einen Vor­teil gegen­über den Ein­wan­de­rern und „Erobe­rern“ von heu­te. Zum größ­ten Teil Ger­ma­nen besa­ßen sie eine beacht­li­che Ethik, aber kei­ne star­ke reli­giö­se Kul­tur. Das ermög­lich­te eine gan­ze neue Syn­the­se. Sie erkann­ten die Über­le­gen­heit der römi­schen Kul­tur an, ver­such­ten sie sich anzu­eig­nen und bekehr­ten sich schnell, meist noch wäh­rend der Völ­ker­wan­de­rungs­zeit zum Chri­sten­tum. Nur neben­bei sei erwähnt, um an den Anfang anzu­knüp­fen, daß der erste Schritt dazu im aria­ni­schen Chri­sten­tum durch Ost­rom geschah. West­rom soll­te es dann zufal­len, sie zur Katho­li­zi­tät zu bekeh­ren. Durch Jahr­hun­der­te aus Blut und Trä­nen berei­tet der Unter­gang West­roms das Ent­ste­hen des christ­li­chen Mittelalters.

Heu­te sind die Ein­wan­de­rer und „Erobe­rer“ – wirt­schaft­li­che Erobe­rer mit Petro­dol­lars oder ange­hen­de bewaff­ne­te Erobe­rer im Dienst des „Kali­fen“ – Trä­ger einer sehr star­ken reli­giö­sen Kul­tur, der isla­mi­schen (aus dem fer­nen Osten dringt auch ein chi­ne­si­sches Echo). Sie den­ken nicht dar­an, sich zu inte­grie­ren und unse­re Kul­tur anzu­neh­men, son­dern wol­len uns von der Über­le­gen­heit ihrer Kul­tur über­zeu­gen. Die Kri­se, die dar­aus fol­gen könn­te, könn­te für Euro­pa töd­li­cher sein, als der Unter­gang Roms. Aus die­sem Grund ist die Dis­kus­si­on über den Nie­der­gang des West­rö­mi­schen Rei­ches kei­nes­wegs nur eine intel­lek­tu­el­le Gedankenübung.

Über­set­zung : Giu­sep­pe Nardi
Bild: NBQ

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