100 Jahre Völkermord an den Armeniern – Vatikan veröffentlicht Archivbestände


Armenier(Rom) 2015 jährt sich zum 100. Mal der gro­ße Völ­ker­mord an den Arme­ni­ern. Die Arme­ni­er sind nicht nur ein Volk. Sie sind Chri­sten. Arme­nier­sein und Christ­sein ist untrenn­bar mit­ein­an­der verbunden.

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Ihr Sied­lungs­ge­biet erstreck­te sich Anfang des 20. Jahr­hun­derts nicht nur auf das Ter­ri­to­ri­um des heu­ti­gen Staa­tes Arme­ni­en, son­dern weit dar­über hin­aus. Ein arme­ni­scher Staat exi­stier­te einst sogar in Kili­ki­en an der Mit­tel­meer­kü­ste. Vor hun­dert Jah­ren mach­ten sie dort noch fast 30 Pro­zent der Bevöl­ke­rung aus. Die unten­ste­hen­de Kar­te bie­tet einen Über­blick über die wich­tig­sten Sied­lungs­ge­bie­te der Arme­ni­er, die wei­te Tei­le der heu­ti­gen Tür­kei umfaßten.

1913/​1914 ließ das arme­nisch-apo­sto­li­sche Patri­ar­chat eine Zäh­lung in den Gemein­den durch­füh­ren, die rund zwei Mil­lio­nen Kir­chen­an­ge­hö­ri­ge ergab. Bereits ab 1894 war es zu Mas­sa­kern an Arme­ni­ern gekom­men. Zunächst waren es mos­le­misch-osma­ni­sche Kräf­te, die sich gegen sie rich­te­ten, dann folg­ten tür­kisch-natio­na­li­sti­sche Kräf­te, die eine Homo­ge­ni­sie­rung des Staats­vol­kes erzwin­gen woll­ten. Die christ­li­chen Arme­ni­er waren kei­ne mos­le­mi­schen Tür­ken und damit ein zu besei­ti­gen­der Staatsfeind.

Die Zah­len­an­ga­ben vari­ie­ren, doch nach der am häu­fig­sten genann­ten Anga­be von 1,2–1,3 Mil­lio­nen getö­te­ten Arme­ni­ern fie­len gan­ze zwei Drit­tel der Arme­ni­er dem tür­ki­schen Völ­ker­mord zum Opfer, an dem sich ande­re mos­le­mi­sche Völ­ker­schaf­ten betei­lig­ten, und dem neben den Arme­ni­ern auch ande­re Chri­sten des Nahen Ostens zum Opfer fie­len. Dazu zäh­len etwa 750.000 syri­sche Chri­sten und rund eine hal­be Mil­li­on grie­chi­sche Chri­sten, die Opfer der Ver­fol­gun­gen von 1914–1922 wur­den. Ins­ge­samt star­ben in jenem Zeit­raum mehr als 2,5 Mil­lio­nen Chri­sten an den tür­kisch-mos­le­mi­schen Verfolgungen.

Civiltà  Cattolica veranstaltet Diskussionsabend zum Völkermord

Armenisches Siedlungsgebiet Anfang des 20. Jhdt.
Arme­ni­sches Sied­lungs­ge­biet Anfang des 20. Jhdt.

Am kom­men­den Sams­tag, den 17. Janu­ar fin­det am Sitz der Jesui­ten­zeit­schrift La Civil­tà  Cat­to­li­ca in Rom ein Dis­kus­si­ons­abend statt, der dem The­ma „1915–2015: 100 Jah­re nach dem Völ­ker­mord an den Arme­ni­ern“ gewid­met ist. Mode­ra­tor wird Pater Fran­ces­co Occhet­ta SJ sein. Zu den Dis­kus­si­ons­teil­neh­mern zählt auch Geor­ges Ruys­sens, Dozent am Päpst­li­chen Bibel­in­sti­tut. Ruys­sens gilt als einer der besten Ken­ner der „Kata­stro­phe“, wie die Arme­ni­er den Geno­zid an ihrem Volk nen­nen. In der arme­ni­schen Spra­che sagen sie „Aghet“ dazu.

Der Völ­ker­mord von 1915/​1916 ging von den Jung­tür­ken aus, doch noch heu­te wird der Geno­zid von der tür­ki­schen Staats­füh­rung nicht nur rela­ti­viert, son­dern kate­go­risch geleug­net. Geor­ges Ruys­sens ver­öf­fent­lich­te alle im Vati­kan auf­be­wahr­ten und gesam­mel­ten Doku­men­te über den Geno­zid an den Arme­ni­ern. „Es han­delt sich um ein Werk, das wir als kolos­sal bezeich­nen kön­nen. Jah­re des stil­len For­schens in den vati­ka­ni­schen Archi­ven. Die Arme­ni­er-Fra­ge atmet nun mit einem Lun­gen­flü­gel der Geschich­te, der bis­her unbe­kannt war“, so Pater Occhet­ta auf sei­nem Blog.

Dokumentenedition zum Genozid: Berichte aus Vatikanarchiven

Türkische Gendarmen mit armenischen Trophäen
Tür­ki­sche Gen­dar­men mit arme­ni­schen „Tro­phä­en“

Ruys­sens macht mit sei­ner Doku­men­ten­edi­ti­on der For­schung Quel­len zugäng­lich, die bis­her nicht erreich­bar waren. Das Wort „kolos­sal“ ist nicht unter­trie­ben, denn die Edi­ti­on umfaßt sie­ben Bän­de, die unter dem Titel „Die Arme­ni­er-Fra­ge“ erschie­nen sind. Es han­delt sich dabei vor allem um Diplo­ma­ten­be­rich­te, die im Vati­ka­ni­schen Geheim­ar­chiv (ASV), im Archiv der Kon­gre­ga­ti­on für die Ost­kir­chen (ACO) und im Histo­ri­schen Archiv des Staats­se­kre­ta­ri­ats (Ss​.Rr​.Ss.) auf­be­wahrt sind.

Die Bän­de umfas­sen die gesam­te Zeit der Ver­fol­gung von den Mas­sa­kern von 1894 bis 1925 zu den zahn­lo­sen Ver­su­chen des Völ­ker­bun­des, die Arme­ni­er-Fra­ge „zivi­li­siert“ zu lösen. Der Zeit­raum von mehr als 30 Jah­ren glie­dert sich in ver­schie­de­ne Abstän­de. Zunächst die Mas­sa­ker an den Arme­ni­ern unter dem „roten Sul­tan“ Abdul Hamid (1894–1896), dann die Mas­sa­ker am Van-See von 1908, die Mas­sa­ker von Aden 1909 bis zum gro­ßen Völ­ker­mord von 1915/​1916. Berück­sich­ti­gung fin­den zudem die tür­ki­sche Beset­zung des Süd­kau­ka­sus nach dem Rück­zug der rus­si­schen Trup­pen (1918), die Eva­ku­ie­rung Kili­ki­ens durch Frank­reich 1922, die pan­tür­ki­sche Poli­tik von Kemal Ata­türk, die ab 1920 zur Mas­sen­ver­trei­bung der Chri­sten aus der Tür­kei führt, das tür­ki­sche Mas­sa­ker an den Grie­chen von Smyr­na (Izmir) 1922 und schließ­lich die erwähn­ten, halb­her­zi­gen Ver­su­che des Völ­ker­bun­des von 1923–1925, die Fra­ge der Chri­sten im tür­ki­schen Ein­fluß­ge­biet zu klä­ren, was fak­tisch jedoch eine nach­träg­li­che Bestä­ti­gung der bereits voll­zo­ge­nen eth­ni­schen Säu­be­run­gen wur­de. In den sie­ben Bän­den neh­men alle die­se tra­gi­schen Ereig­nis­se durch die Berich­te der Diplo­ma­ten des Hei­li­gen Stuhls und ande­rer kirch­li­cher Ver­tre­ter Gestalt an.

Österreichischer Missionar 1915: „Am nächsten Tag begannen die Deportationen“

Am 30. Juni 1915 schrieb der öster­rei­chi­sche Kapu­zi­ner­mis­sio­nar Micha­el Liebl aus Sam­sun an den Apo­sto­li­schen Dele­ga­ten für Kon­stan­ti­no­pel, Erz­bi­schof Ange­lo Maria Dol­ci: „In der­sel­ben Nacht [23. Juni 1915] wur­den Mas­sen­ver­haf­tun­gen durch­ge­führt. Am fol­gen­den Tag konn­te man an allen Mau­ern den Befehl lesen, der den Arme­ni­ern fünf Tage Zeit gab, um ihre Din­ge zu regeln und sich in die Hän­de der Regie­rung zu bege­ben, Män­ner, Frau­en, Kin­der, Kran­ke, Ster­ben­de, Prie­ster und katho­li­sche Ordens­frau­en, ohne Aus­nah­me, um an unbe­kann­tem Ort inter­niert zu wer­den. Ein Mili­tär­cor­don ver­hin­der­te jede Kom­mu­ni­ka­ti­on. Am näch­sten Tag began­nen bereits die Depor­ta­tio­nen. Nur weni­ge konn­te ihren Besitz nicht regeln, muß­ten ihn aber unter desa­strö­sen Bedin­gun­gen liqui­die­ren. Man hoff­te einen Augen­blick auf man­che Erleich­te­rung für die Katho­li­ken, wie man es gerüch­te­wei­se von Tra­pezunt sag­te, doch die Hoff­nung war ver­ge­bens. Am 28. und 29. (die letz­ten gewähr­ten Tage) setz­te eine sehr star­ke mos­le­mi­sche Pro­pa­gan­da ein und änder­te damit die Grund­la­ge der Akti­on. Das Bei­spiel eini­ger Rei­cher wur­de nach­ge­ahmt und zum Zeit­punkt, da ich schrei­be, haben meh­re­re Hun­der­te Arme­ni­er und fünf katho­li­sche Fami­li­en den Antrag auf Auf­nah­me in den Islam gestellt. Gerüch­te über Mas­sa­ker, ob wahr oder nur geschickt gestreut, ver­stär­ken die­se Bewe­gung. Die Frau­en sind es, die am mei­sten stand­hal­ten. S.Ex. wird ver­ste­hen, wenn ich weder näher ins Detail gehen kann noch Wür­di­gun­gen aus­spre­che, wenn ich Eure Hil­fe anfle­he, jene des Hei­li­gen Stuhls und der mit der Tür­kei ver­bün­de­ten Mächte.“

Nuntius: „Die Frauen in Harems verkauft oder zur Befriedigung herangezogen“

Genozid an den Armeniern
Arme­ni­er geden­ken des Völ­ker­mords an ihrem Volk.

Oder das Schrei­ben des Apo­sto­li­schen Nun­ti­us für Wien, Erz­bi­schof Raf­fae­le Sca­pi­nel­li Di Legu­i­g­no an Kar­di­nal­staats­se­kre­tär Pie­tro Gaspar­ri: „Das Wort ‚Depor­ta­ti­on‘ bedeu­tet: 1) strik­te Tren­nung der Ehe­män­ner von ihren Frau­en, und der Müt­ter von ihren Kin­dern; 2) Dro­hun­gen und Ver­lockun­gen der tür­ki­schen Emis­sä­re, mit dem Ziel die einen und ande­ren zum Glau­bens­ab­fall zu zwin­gen. Die Apo­sta­ten – und es sind derer vie­le – wer­den sofort in aus­schließ­lich mos­le­mi­sche Orte umge­sie­delt, aus denen es kei­ne Rück­kehr mehr gibt. 3) Han­del mit Frau­en, die je nach ihren phy­si­schen Qua­li­tä­ten in die Harems ver­kauft oder zur Befrie­di­gung der nie­de­ren Trie­be der Nota­beln und der Wär­ter her­an­ge­zo­gen wer­den. 4) Die klei­nen Mäd­chen sind als klei­ne Dienst­mäg­de in tür­ki­schen Häu­sern bestimmt, die die Pflicht haben, sie mos­le­misch zu erzie­hen. Man­che von ihnen sind sogar bis Kon­stan­ti­no­pel gelangt. […]
Die Über­le­ben­den müs­sen all ihren Besitz auf­zu­ge­ben, Häu­ser, Grund, Geld, und wer­den gezwun­gen auf­zu­bre­chen Rich­tung Lan­des­in­ne­res, bewacht von groß­teils bru­ta­len Gen­dar­men wan­dern sie von Ort zu Ort, Ebe­ne zu Ebe­ne, ohne Pau­se, immer einer unbe­kann­ten Bestim­mung ent­ge­gen. Mora­lisch nie­der­ge­schla­gen wegen der Schmer­zen über die erlit­te­nen Tren­nun­gen, ist ihr Kör­per nicht in der Lage der Wit­te­rung und den Ent­beh­run­gen stand­zu­hal­ten, so daß vie­le von ihnen auf der Stra­ße ster­ben. Ande­re wur­den regel­recht mas­sa­kriert. So die bestä­tig­te Nach­richt von einem all­ge­mei­nen Mas­sa­ker der Arme­ni­er in Van und Bit­lis; dann jenes von Mar­din, wo der katho­li­sche Bischof zusam­men mit 700 sei­ner Gläu­bi­gen mas­sa­kriert wur­de. Von Ango­ra berich­tet der ob genann­te pro­te­stan­ti­sche Zeu­ge, daß die gesam­te männ­li­che arme­ni­sche Bevöl­ke­rung über zehn Jah­ren durch ein Mas­sa­ker aus­ge­löscht wur­de. So könn­ten noch vie­le ande­re Bei­spie­le genannt wer­den. Fol­gen­de Tat­sa­che, die von zwei tür­ki­schen Zeu­gen berich­tet wur­de, die der Bericht­erstat­ter befrag­te, soll die Bar­ba­rei auf­zu­zei­gen, der die armen Depor­tier­ten aus­ge­setzt sind. In Ango­ra wur­den 150–200 depor­tier­te Arme­ni­er in einer Kir­che ein­ge­sperrt und mit auf­ge­pflanz­ten Bajo­net­ten bewacht, dar­un­ter ein katho­li­scher Prie­ster und zwei Ordensfrauen.“

Seit die­sen Ereig­nis­sen ist ein Jahr­hun­dert ver­gan­gen. Der Völ­ker­mord an den Arme­ni­ern, den Grie­chen und den Assy­rern besie­gel­te das Ende der gro­ßen und akti­ven christ­li­chen Gemein­schaft in der Tür­kei. Vor hun­dert Jah­ren war noch fast die Hälf­te der Ein­woh­ner Istan­buls Chri­sten. Heu­te kann man die weni­gen ver­blie­be­nen Chri­sten fast an einer Hand abzählen.

Vor hun­dert Jah­ren wur­den die Chri­sten der Tür­kei ver­nich­tet. Heu­te sind wir Zeu­gen, daß wie­der­um Chri­sten, in den süd­li­chen Nach­bar­län­dern der Tür­kei und anders­wo ver­folgt und getö­tet wer­den. Teil­wei­se über­schnei­den sich die Ver­fol­gungs­ge­bie­te von damals und heu­te, so in der nord­sy­ri­schen Gegend von Alep­po. Was hat Euro­pa damals getan? Das Deut­sche Reich und Öster­reich-Ungarn schau­ten 1915/​1916 weg, weil das Osma­ni­sche Reich ihr Ver­bün­de­ter im Ersten Welt­krieg war. Und die west­li­chen Sie­ger­mäch­te schau­ten bei den Mas­sa­kern von 1920–1922 weg und bil­lig­ten nach­träg­lich die eth­nisch-reli­giö­sen Säu­be­run­gen. Ob Mit­tel­mäch­te oder Entente, die Chri­sten des Ostens, Arme­ni­er, Grie­chen, Assy­rer, Chaldä­er haben weder von den einen noch von den ande­ren eine Unter­stüt­zung erhal­ten. Damals. Und heute?

Text: Giu­sep­pe Nardi
Bild: Rora­te Caeli/​Wikicommons/​Civiltà  Cattolica

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1 Kommentar

  1. Dan­ke für die­sen wich­ti­gen und sehr über­sicht­li­chen Artikel! 

    Er möge den Lesern Ansporn sein, in ihrem jeweil­gen Umfeld die Wahr­heit über die­se tra­gi­schen bzw. dia­bo­li­schen Ereig­nis­se zu verbreiten.

    Er möge auch eine Anre­gung sein, die ande­ren tra­gi­schen Ereig­nis­se des 20. Jahr­hun­derts damit in Rela­ti­on zu setzen.

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