In der Auseinandersetzung um die spanische Amerika-Kolonisation im 16. Jahrhunderts trugen Ordenstheologen Entscheidendes zum europäischen Diskurs um Menschenwürde und Völkerrecht bei.
Ein Gastbeitrag von Werner Rothenberger
An den beiden letzten Adventssonntagen des Jahres 1511 hielt der Dominikanerbruder Antonio de Montesino eine Drohbotschaftspredigt in der Hauptkirche von Santo Domingo, heute Dominikanische Republik.
Der Prediger klagte als „Stimme eines Rufers in der Wüste“ die spanischen Kolonisten an, indem er ihnen ihre „Todsünden an den Indianern“ vor Augen führte:
tyrannische Grausamkeit gegen die unschuldigen Indios, entsetzliche Sklaverei, bedrückende Unterjochung, abscheuliche Kriege. „Die Indios sterben an der übermäßigen Zwangsarbeit, nein, ihr tötet sie mit eurem habgierigen Verlangen, jeden Tag Gold zu fördern und euch anzueignen“ – so der geistliche Ankläger.
Und dann die berühmten Sätze: „Sind sie keine Menschen? Haben die Indios keine Vernunft und keine Seele?“
Gegen alle Anfeindungen und Erpressungen erreichte der Prediger durch eine Unterredung beim spanischen König Ferdinand erste gesetzliche Regelungen für humanen Umgang mit den Indios in der Neuen Welt. Die Dominikaner konnten aber keine strukturellen Änderungen an dem sklavenhalterischen System der spanischen Kolonisten erwirken.
Gleichwohl war diese Predigt der Auftakt zu einem lang andauernden Kampf der Kirchenleute für Menschenwürde und Gerechtigkeit, Nächstenliebe und respektvolle Mission bei den Indios.
Rechtfertigung des Kolonialismus durch Humanisten
Zur gleichen Zeit erwuchsen den kirchlichen Missionsorden in Europa mächtige ideologische Gegner, die die Position der spanischen Kolonisten unterstützten. Im Zuge der Renaissance-Kultur machte sich ein Überlegenheitsdenken bei den damaligen „Humanisten“ breit. Der in Paris lehrende Aristoteliker schottischer Herkunft, John Mayor (+1550) hatte 1509 das folgende Vergleichsmuster vorgegeben:
Die zivilisierten Spanier hätten über die Indios das gleiche Herrschaftsrecht wie in der Antike die gebildeten Griechen über die Barbaren, da jene Völker „Sklaven von Natur aus“ seien. In Bezug auf die Kolonisation der neuen Welt war der argumentative Rückgriff auf die antiken Sklavenhalterkulturen Kern der Renaissance als ‚Wiedergeburt der Antike’.
Der spanische Humanist und Philosoph Juan Ginés de Sepúlveda (+ 1573) vertiefte diesen angeblich ‚humanistischen’ Ansatz. Seine Argumentation sollte die Rechtfertigungsbasis für den spanischen Kolonialismus werden. Sepulveda führte vier Begründungen für die Notwendigkeit der spanischen Kolonialherrschaft an:
- Die Indios seien als rohe und inferiore Menschen an die (europäische) Zivilisation heranzuführen.
- Der Götzendienst der Indios müsse als barbarische Religion überwunden werden.
- Tausende von Unschuldige seien vor Unterdrückung und dem Menschenopferkult zu bewahren.
- Und schließlich hätten die Kolonisten das Recht und die Pflicht, mit der weltlichen Herrschaft über die Indios den Boden für die Verkündigung der christlichen Heilslehre zu bereiten.
Dieses Begründungsmuster für den spanisch-portugiesischen Kolonialismus aus der Mitte des 16. Jahrhunderts hatte prägende Auswirkungen auch für die späteren Kolonialmächte West- und Mitteleuropas. Noch zu Ende des 19. Jahrhunderts rechtfertigte man den europäischen Kolonial-Imperialismus als Recht und „Bürde des weißen Mannes“. Verschiedene Aufklärer des 18. Jahrhunderts hatten diesen Ansatz noch verschärft, indem sie die nicht-weißen Völker zu minderwertigen Sklavenrassen erklärten.
Kampf der Dominikaner für Menschenrechte der Indios
Der kirchlich-theologische Gegenspieler von Sepulveda war der Dominikanerpater Bartholomé de Las Casas (+1566). Er war wie sein Mitbruder Montesino über mehr als 50 Jahre ein unermüdlicher Ankläger gegen die Versklavung, Unterdrückung und Ausbeutung der Indios durch die spanischen Kolonisten.
In der berühmten Disputation von Valladolid 1550 entfaltete der Dominikaner seine „Apologia“, die in einem ‚Manifest der Menschheit’ gipfelt:
Die Indios seien ebenso vernunft- und glaubensfähig wie die Spanier. „Alle Menschen sind einander gleich, was ihre Schöpfung und natürliche Bedingungen betrifft“, denn sie sind mit Verstand und freiem Willen ausgestattet. In seinem Testament schrieb Las Casas, er habe dafür gekämpft, „die ursprünglichen Freiheiten der Indios wiederherzustellen, die man ihnen unrechtmäßig genommen hat“.
Diese Gedanken und Thesen eines Kirchenmanns im 16. Jahrhundert sollten wegweisend werden für die weitere Entfaltung der allgemeinen Menschenrechte im Europa des 17. und 18. Jahrhunderts.
Zu Lebzeiten jedoch hatte der Ordenspriester Las Casas keine Chance bei der politischen Durchsetzung seiner Ideen. Er konnte zwar mit seinen ständigen Briefen und Appellen an die spanische Krone maßgeblich Einfluß nehmen auf die ‚Neuen Gesetze’ von 1542, die dem Wüten der spanischen Kolonisten Grenzen setzen sollten. Aber selbst den königlichen Beamten und Gouverneuren gelang es nicht, diesen neuen Reglungen zum Schutz der Indios flächendeckend Geltung zu verschaffen.
Die naturrechtlichen Grundrechte und Freiheiten der Indios
In ähnlichen Naturrechtskategorien wie Las Casas hatte schon der Dominikanerpater Francisco de Vitoria (+1546) in seinen „Vorlesungen über die Indios“ an der Universität von Salamanca 1532 argumentiert: Nach der Schöpfungsordnung ständen alle Menschen gleichermaßen im Status natürlicher Freiheiten.
De Vitoria bekämpfte alle Versuche der spanischen Kolonisten, die naturrechtlichen Freiheiten der Indios im Namen einer überlegenen europäischen Zivilisation zu verletzen. Ebenfalls wies er die Position des Humanisten Sepulveda zurück, nach der die christliche Religion der Wahrheit ein Recht auf präventive Herrschaftsübernahme zwecks Erleichterung der Christianisierung habe.
Als Schüler des hl. Thomas von Aquin bekräftigte der spanische Dominikaner die kirchliche Lehre, dass der Glaube vom Willen abhängt und daher die Glaubensannahme nur ein freiheitlicher Akt ohne Zwangsbedingungen sein kann. Positiv ausgedrückt in den Worten von Papst Paul III. von 1537: Die Indios und die anderen Völker seien allein „durch die Verkündigung des Wortes Gottes und das Beispiel eines guten Lebens zum Glauben an Christus eingeladen“.
In diesem Sinne missionierten Tausende von glaubenseifrigen Ordensleuten der Dominikaner, Franziskaner und später Jesuiten in Süd- und Mittelamerika. Doch die christliche Missionsarbeit wurde durch die Zwangspraxis der spanischen Grundherren konterkariert. In den Schutzgebieten – den Reductionenes – der landesinneren Regionen Südamerika dagegen, wo man keine Zugriffe von ausbeuterischen Kolonisten und habgierigen Sklavenjägern fürchten musste, war die christliche Mission im Sinne des Evangeliums tiefgreifend und fruchtbar.
Die Idee der spanischen Humanisten um Sepulveda, durch politische Herrschaftsübernahme die Christianisierung der Indios vorzubereiten, hatte sich als schwerwiegendes Missionshindernis erwiesen.
Kritik am feudalen Encomienda-System
Ein ökonomisches Hindernis für alle politischen Reformen war das Encomiendas-System. Die spanische Krone hatte seit Beginn der Kolonisierung den Siedlern große Gebiete samt Einwohnern übertragen, die sie nach feudalen Prinzipien verwalten sollten:Die Grundherren übernahmen die Pflicht zur Fürsorge der Gebietsuntertanen, dafür konnten sie von den Indio-Gemeinden Arbeitsleistungen fordern und auch erzwingen. Formal waren die Indios ‚Hörige’ oder Leibeigne der Grundherren, faktisch lief das Encomienda-System auf Sklavenhaltung hinaus – und Krieg, wenn sich die Indios wehrten.
Vor Ort klagten die Dominikanerbrüder wie Montesino und Las Casas gegen die Zwangsarbeit und Ausbeutung der Indios an. An den spanischen Universitäten entwickelten die Ordenstheologen grundlegende Antworten auf die neuen kolonialethischen Fragen. Allen voran kämpfte der Dominikaner-Lehrer Francisco de Vitoria gegen die Barbaren-Theorie der damaligen Aristoteliker und Humanisten, nach denen nicht-zivilisierte Völker „Sklaven von Natur“ aus seien.
Die Dominikaner festigten die christliche Lehre von Augustinus und Thomas von Aquin, daß alle Menschen nach der Schöpfungsordnung – also „von Natur aus“ – gleich seien. Wenn aber die Indios im naturrechtlichen Status auf der gleichen Stufe standen wie die Spanier, dann waren sie auch Eigentümer ihres bewohnten Landes – so die Folgerung des Theologen.
Mit dieser Argumentation bestritt de Vitoria die Rechtsgründe für die spanische Zuteilung von Indianerland und damit das Encomienda-System. Außerdem müssten die Spanier die indianischen Häuptlinge und Fürsten als legitime Herrscher über ihre Länder und Völker anerkennen.
Völkerrechtliche Anerkennung der Indo-Stämme und Fürsten
Damit kritisierte der Dominikaner nichts weniger als zwei päpstliche Edikte von 1493/1495, in denen der Borgia-Papst Alexander VI. der spanischen Krone Besitz und Herrschaft über Südamerika zugesprochen hatte. Der Papst habe keine direkte Gewalt über heidnische Herrscher, kritisierte de Vitoria, also könne er an christliche Könige nur einen Evangelisierungsauftrag geben, aber keine Herrschaftsübertragung.
Das Neue an de Vitorias Rechtsdiskurs bestand darin, dass er den naturrechtlichen Gleichheitsstatus der Einzelmenschen auch auf die Fürstentümer und Staaten anwandte – gleich ob christlich oder heidnisch. Damit waren aber auch die Staaten an die naturrechtlichen Prinzipien gebunden – etwa die gegenseitige Rechte-Respektierung oder die restriktiven Regeln vom gerechtfertigen Krieg.
Mit diesen Grundsätzen des modernen Völkerrechts stellte sich de Vitoria in scharfen Gegensatz zu einem andern Staatstheoretiker der Renaissance, Niccolò Machiavelli (+1527). Der Politiker aus Florenz lehrte, dass der Staat an keine moralischen Prinzipien gebunden sei sowohl im Handeln gegenüber den Bürgern wie auch gegenüber den anderen Staaten. Dieser unmoralische Anspruch staatlicher Selbstherrlichkeit und autokratischer Staatsraison sollte bis ins 20. Jahrhundert viel Leid und Krieg über die Völker bringen. Der Theologe Francisco de Vitoria dagegen hat als ‚Vater des modernen Völkerrechts’ zur Verrechtlichung und Befriedung der Völkerbeziehungen beigetragen.
Päpstliches Verbot von Sklavenhaltung
Bedeutsam war de Vitorias Einfluss auch auf Theologie und Kirche. In der berühmten Bulle „Sublimis Deus“ (1537) folgte Papst Paul III. der scholastischen Argumentation des Dominikaners, die er in seinen „Vorlesungen über die Indios“ von 1532 entwickelt hatte:
Es sei eine List des Teufels und seiner Helfershelfer zu behaupten, die Völker Amerikas und anderer Nationen seien keine wirklichen Menschen und hätten deshalb nicht die Fähigkeit zur Glaubensannahme. Mit dieser Begründung würden die genannten Völker „wie Tiere zu Sklavendienste“ eingespannt. Tatsächlich aber begehrten die Kolonisten nur, mit der Sklavenhaltung ihre Habsucht zu befriedigen.
Wir dagegen – so der Papst – erklären in Übereinstimmung mit der Lehre Christi, dass die Indios „als wirkliche Menschen die Fähigkeit zum christlichen Glauben besitzen“.
„Kraft unserer apostolischen Autorität bestimmen wir“:
1. Die Indios und alle anderen Völker, ob heidnisch oder gläubig, dürfen nicht versklavt werden.
2. Die heidnischen Völker dürfen ihrer Freiheit und ihres Besitzes nicht beraubt werden.
3. „Vielmehr sollen sie ungehindert und erlaubterweise das Recht auf Besitz und Freiheit ausüben.“
Die spanische Spätscholastik inspirierte den europäischen Menschenrechtsdiskurs
Die folgende Generation der spanischen Theologen – etwa Luis de Molina („ 1600) und Francisco Suarez („ 1617) – führten den Ansatz von de Vitorias weiter. Diese Vertreter der sogenannten spanischen Barock-Scholastik hatten entscheidenden Einfluss auf die mitteleuropäischen Frühaufklärer und Völkerrechtler.
Die Philosophen Hugo Grotius aus den Niederlanden („ 1645), Thomas Hobbes aus England („ 1679) und Samuel von Pufendorf aus Deutschland („ 1694) stützten sich in den Fragen von Völkerrecht und Menschenrechten auf die Lehren der spanischen Spätscholastik.
Literatur: Thomas E. Woods jr: Sternstunden statt dunkles Mittelalter, Die katholische Kirche und der Aufbau der abendländischen Zivilisation, MM-Verlag 2006
Dokument:
Papst Paul III.
Bulle „Sublimis Deus“ vom 9. Juni 1537
über die Glaubensfähigkeit der Indianer und ihr Recht auf Freiheit und Besitz
Der erhabene Gott neigte sich unserem Geschlecht mit solcher Liebe zu und schuf den Menschen dergestalt, dass dieser nicht bloß wie die anderen Geschöpfe am Guten teilnehmen, sondern das unzugängliche und unsichtbare höchste Gut selbst verkosten und von Angesicht zu Angesicht schauen darf. Da nun, nach dem Zeugnis der Hl. Schrift, der Mensch für das ewige Leben und die Glückseligkeit bestimmt ist, dieses ewige Leben und die Seligkeit aber nur durch den Glauben an unsern Herrn Jesus Christus erlangt werden können, muss man dem Menschen eine derartige Beschaffenheit und Natur zuerkennen, dass er diesen Glauben an Christus zu empfangen imstande sei und dass, wer immer die menschliche Natur sich zu eigen nennt, auch die Fähigkeit zu glauben besitze. Denn es wird wohl niemand so beschränkt sein, um annehmen zu wollen, ein Ziel lasse sich ohne den Einsatz der dazu notwendigen Mittel verwirklichen. Wie wir wissen, sprach deshalb die Wahrheit selbst – und sie kann ja weder irren noch jemanden in Irrtum führen -, als sie die Prediger des Glaubens zum Amte der Verkündigung auserkor, die Worte: Euntes docete omnes gentes. Alle, sagte sie, ohne Ausnahme, sind doch alle fähig, im Glauben unterwiesen zu werden. Scheelen Blickes sah dies der Rivale des Menschengeschlechtes, der stets allem Guten entgegenwirkt und es zu vernichten trachtet. Daraufhin ersann er eine bislang nie gehörte List, um die Verkündigung des Wortes Gottes an die Völker und damit deren Heil zu hintertreiben: Er veranlasste nämlich einige seiner Helfershelfer, die nichts anderes begehrten, als ihre Habsucht zu befriedigen, dass sie unablässig daraufhin arbeiteten, die Bewohner West- und Südindiens und andere Nationen, von denen wir Kunde erhalten haben, wie Tiere zum Sklavendienst einzuspannen. Sie schützten dabei vor, diese Leute könnten des katholischen Glaubens nicht teilhaftig werden. Als Stellvertreter Christi, unseres Herrn, wiewohl dessen unwürdig, suchen wir mit all unseren Kräften, die Schafe seiner Herde, die uns anvertraut sind und sich außerhalb seiner Herde befinden, in seinen Schafstall hinein zu führen. Wir wissen wohl, dass die Indianer als wirkliche Menschen nicht allein die Fähigkeit zum christlichen Glauben besitzen, sondern zu ihm in allergrößter Bereitschaft herbeieilen, wie man es uns wissen ließ. Aus dem Verlangen, in diese Angelegenheit Ordnung zu bringen, bestimmen und erklären wir mit diesem Schreiben und kraft unserer apostolischen Autorität, ungeachtet all dessen, was früher in Geltung stand und etwa noch entgegensteht, dass die Indianer und alle andern Völker, die künftig mit den Christen bekannt werden, auch wenn sie den Glauben noch nicht angenommen haben, ihrer Freiheit und ihres Besitzes nicht beraubt werden dürfen; vielmehr sollen sie ungehindert und erlaubter Weise das Recht auf Besitz und Freiheit ausüben und sich dessen erfreuen können. Auch ist es nicht erlaubt, sie in den Sklavenstand zu versetzen. Alles, was diesen Bstimmungen zuwiderläuft, sei null und nichtig. Die Indios aber und die andern Nationen mögen durch die Verkündigung des Wortes Gottes und das Beispiel eines guten Lebens zum Glauben an Christus eingeladen werden.
Deutsche Übersetzung nach J. Baumgartner, Mission und Liturgie in Mexiko, Bd. 1, Schöneck-Beckenried 1971, S. 122, aus: Conquista und Evangelisation (Mainz 1992), S. 475 f.
Text: Werner Rothenberger
Bild: Wikicommons