Die IS-Terrormiliz kann als Neuauflage der wahabitischen Terrortruppen angesehen werden. Deren Fanatismus als der einzig „wahre“ Islam richtet sich ebenso aggressiv gegen ‚Ungläubige’ wie gegen ‚Abweichler und Ketzer’ unter den Muslimen.
Ein Gastkommentar von Hubert Hecker.
Kampf gegen Ungläubige, Ketzer, Abweichler und Neuerer
Die muslimischen Terroristen des ‚Islamischen Staats’ (IS) bekämpfen, kreuzigen, töten und versklaven Nicht-Muslime, also Christen und Juden, Parsen und Jesiden. Aber auch andere islamische Konfessionen wie Aleviten und Schiiten werden als ‚Abweichler’ verdammt und damit als todeswürdige Ketzer vertrieben, gefangen oder massakriert, wenn sie sich dem Vormarsch der IS widersetzen. Die IS-Krieger machen ebenfalls kurzen Prozess mit Sunniten, die einen gemäßigten Islam vertreten oder sich nicht der strengen Scharia der IS unterwerfen wollen. Schließlich schießen IS-Anführer Giftpfeile gegen „arabische Machthaber“, die – wie in Bahrein oder Marokko etwa – „Ungläubigen“ (Christen und Juden) erlauben, Gebetshäuser zu errichten (FAZ 21. 8. 2014).
Damit sind die Feinde und Feindbilder der ISlamisten umschreiben. Aber was treibt sie an?
Die Dschihad-ISlamisten in Syrien und im Irak werden von westlichen Medien, aber auch von islamischen Politikern vielfach dämonisiert: Sie seien eine Truppe von Irren, Wahnsinnigen oder blutrünstigen Gewaltfetischisten. Das sind Fehleinschätzungen zum Charakter und den Zielen des Islamischen Staates. Denn ideologisch bewegen sich die ISlamisten in Bahnen der islamischen Tradition. Ihr Anführer und ‚Kalif’, Abu Bakr al Bagdadi, stammt schließlich aus einer irakischen Gelehrten-Familie. Er war als Professor für islamische Theologie tätig, bevor er Anführer der Dschihadisten wurde.
Sein Programm ist die puristische Wiederherstellung des Frühislam
Sein Programm ist die puristische Wiederherstellung des Frühislam, als der Islam kriegerisch und expansiv war. Al Bagdadi beruft sich auf die Epoche der „frommen Altvorderen“, der ‚al salaf al sali’. Damit gehört er zur breiten Bewegung des ‚Salafismus’. Der lässt als Grundlage des ‚wahren Islam’ nur die wortgetreue Anwendung von Koran und Hadith (Mohammeds Sprüche und Taten) zu. Alle Analogie-Schlüsse und damit Lehrentwicklungen durch die Berücksichtigung von zeitlichen und örtlichen Umständen werden als ‚ketzerische Neuerungen’ verdammt.
Ein Beispiel: Der Brief der 120 Islamgelehrten an Dr. Al Bagadei stellt fest, dass man „Sendboten, Botschafter und Diplomaten“ nach islamischer Tradition nicht töten dürfe. In einem Analogieschluss für die heutige Zeit folgern die Briefschreiber daraus: „Somit ist es auch verboten, Journalisten und Entwicklungshelfer zu töten.“ Die IS-Theologen kontern, von Journalisten sei in den islamischen Urschriften nichts erwähnt. Außerdem befinde man sich im Krieg mit den anti-islamischen Mächten und daher seien alle Mitglieder der Feind-Nationen auf dem IS-beherrschten Gebiet als Spione anzusehen und gefangen zu nehmen. Nach Koran und Hadith dürften Gefangene enthauptet werden.
Begründung und Programm des Islamischen Staates
Das Gründungs- und Rechtfertigungsdokument des „Islamischen Staates des Iraks“ (ISI) stammt schon aus dem Jahre 2007, als noch amerikanische Streitkräfte im Irak standen und eine schiitische Regierung den sunnitischen Volksteil benachteiligte. Als Ziel nannten die Gründer des ISI die Vertreibung der „Invasoren“ sowie die Bekämpfung der „abtrünnigen“ Schiiten-Regierung. Nur eine sichere Region für die buchstabengetreue Anwendung von Koran- und Scharia-Regeln sei Voraussetzung für das Heil der Muslime. Diese sind im Gegenzug dem Islamischen Staat zu absolutem Gehorsam verpflichtet und haben dem Anführer Treue zu schwören.
Begründet wird der Islamische Staat aus Koran- und Hadith-Versen sowie mittelalterlichen Rechtsregeln. Die Gründer knüpfen an Mohammeds Staatsgründung in Medina an und behaupten ihr Gemeinwesen als „geoffenbarte Ordnung“. Der „Anführer der Gläubigen“ (Emir bzw. Kalif) wurde von wenigen Repräsentanten sunnitischer Stämme und Gruppen gewählt. Daneben berufen sich die ISI-Gründer auf ein weiteres Durchsetzungsverfahren der islamischen Rechtstradition für die Etablierung eines Herrschers: In Krisenzeiten oder bei Streitfällen gilt auch die „Usurpation durch Unterwerfung mit dem Schwert“ als legitim. D. h. dem waffenstärksten Aspirant wird der Rechtsanspruch auf das Amt des obersten Imam und Anführer der Gläubigen eingeräumt. Der deutsch-schreibende Autor Sherko Fatah verallgemeinert diese alt-islamische Regel so: „Wahr ist der Islam, der siegt“ (FNP 10.10. 2014).
Die archaischen Scharia-Regeln des Früh-Mittelalters
In ihrem Rückgriff auf die Scharia-Regeln des Früh-Islam lehnen die ISlamisten Friedhöfe, Heiligengräber und Heiligenverehrung ab, wie sie etwa von den Schiiten praktiziert werden. Sie verfolgen diese ‚Abweichler’ als ‚Götzendiener’. Aber auch Rauchen, Rasieren und Musik ist verboten, weil das der Prophet nicht kannte. Nicht nur die lebenden Frauen, auch Schaufensterpuppen und Bilder von Frauen müssen verhüllt werden. Philosophie darf im neuen Hochschuljahr in Mossul unter der Kontrolle des IS nicht mehr gelehrt werden. Die Philosophie-Schulen im islamischen Mittelalter verdammen die ISlamisten ebenfalls als schändliche Neuerungen.
Selbstverständlich praktizieren die IS-Muslime die Scharia so, wie von Mohammed und im Koran vorgeschrieben: öffentliche Hinrichtungen mit dem Schwert, Handabhacken von Dieben und Auspeitschen bei Regelverstößen. Über die Einhaltung der Scharia-Gesetze wacht eine Religionspolizei, die allerdings mit modernen Kalschnikows ausgerüstet ist. Denn bei Technik und Waffen gilt das Neuerungsverbot nicht.
Der kriegerischste Islam ist der wahre Islam
Bei ihrer militärischen Strategie im syrischen Bürgerkrieg kämpfen die IS-Milizen nicht in erster Linie gegen den Assad-Staat in Damaskus, sondern versuchen die islamischen Konkurrenten auszuschalten. Anfang September bombten sie 40 hochrangige Führer der „Islamischen Front“ in die Luft. Diese Gruppe will zwar auch einen islamischen Staat, aber mit Rechten für Frauen und Minderheiten. Dadurch sind sie für die ISlamisten Ketzer.
Die IS-Gruppe zielt darauf ab, mit der Schwächung von gemäßigten muslimischen Rebellen-Gruppen ganze Brigaden zum Überlaufen zu bewegen. Sie praktizieren und propagieren den oben erwähnten Leitspruch, dass nur der siegreiche Islam der wahre Islam sei. Auch die gute Bezahlung der IS-Milizionäre soll den Krieg des Islamischen Staates attraktiv machen. Besoldet werden die IS-Krieger aus der Kriegsbeute, wie es Mohammed in Sure 8 vorschrieb: Ein Fünftel geht an Allah bzw. den Propheten / Kalifen, vier Fünftel soll an die Eroberer verteilt werden.
Mädchen und Frauen der Ungläubigen als Sex-Sklaven
Zu der Kriegsbeute gehören nach koranisch-islamischem Recht auch die Mädchen und Frauen der besiegten Städte und Völker. Das hatte schon Mohammed praktiziert, als er 627 nach der Hinrichtung der jüdischen Männer des Stammes der Quraiza deren Frauen und Kinder versklavte. Im Kampf gegen die ‚polytheistischen’ Jesiden fühlen sie die IS-Terroristen ebenfalls von Mohammed durch Sure 9 ermächtigt, jesidische Mädchen und Frauen als Sex-Sklaven zu beanspruchen. Nach Berichten geflohener Mädchen gehört es zur Praxis in allen vom IS besetzten Territorien, junge Frauen und ältere Mädchen (ab neun Jahren) als Konkubinen auf die Kämpfer zu verteilen. Auch ausländische Anhänger der Milizen werden mit Frauen versorgt. Verschiedene Menschenrechtsorganisationen gehen von 2500 bis 7000 Verschleppten aus.
Es sind drei Hauptelemente, mit denen der IS-Terrorstaat unter den Muslimen weltweit für seinen islamischen Eroberungskrieg wirbt: Erstens der strikte Bezug von Lehre und Scharia auf Mohammed, den Koran und Frühislam, zweitens der unbedingte Siegeswille sowie die Aussicht auf irdische Beute und schließlich drittens das Versprechen Mohammeds auf himmlische Beute im Paradies, wenn man im Dschihad oder durch Kampf-Selbstmord stirbt.
Diese Melange der islamischen Anreize wirkt. Monatlich melden sich bis zu tausend kampfbereite Muslime aus aller Welt bei der IS. Besonders große Sympathie haben die ISlamisten in Saudi-Arabien. Bei einer Meinungsumfrage im August 2014 meinten 92 Prozent der befragten saudi-arabischen Bürger, dass der IS mit den Werten und Gesetzen des Islam übereinstimme.
Die blutige Tradition des arabischen Wahabismus
Diese Sympathie der Saudis für den ISlamischen Gottesstaat ist nicht wirklich überraschend. Denn der wahabitische Islam in Saudi-Arabien ist ebenso puritanisch und intolerant wie der von Al Bagdadi. Der Islamische Staat ist in gewissem Sinn als eine Blaupause von dem ersten wahabitisch-saudischen Staat auf der arabischen Halbinsel anzusehen:
Der Religionsführer Muhammed Ibn Abd al Wahab predigte in der Mitte des 18. Jahrhunderts eine puritanisch-strenge Koran-Auslegung als Rückkehr zum Frühislam. Die frühen Wahabiten verdammten und verfolgten rigoros alle Muslime, die „ketzerische Innovationen“ praktizierten.
Seit 1744 paktierte die Theologen-Sippe der Wahab mit der arabischen Herrscherfamilie der Saudis. Der rigide wahabitische Islam wurde zur einzig zugelassenen Staatsreligion erklärt, die Koran-Scharia zum Staatsgesetz. Der Monarch Bin Saud ließ seine Truppen zu wahabitischen Gotteskriegern umformen, die im Namen des wahren, authentischen Islam Arabien und die angrenzenden Länder mit Krieg überzogen – wie heute der IS. 1801 eroberten die Bin Sauds Armee Kerbela im Irak, die heilige Stadt der Schiiten. Die Wahabiten richteten unter den „ketzerischen“ Schiiten ein Massaker an. 1803 zogen die Saudi-Milizen siegreich in Mekka ein, wobei sie die Stadt weitgehend zerstörten. In Medina verwüsteten sie den Friedhof der ersten schiitischen Heiligen. In allen eroberten Städten und Regionen setzte der Saud-Herrscher wahabitische Prediger ein, die den strikten Früh-Islam auch mit staatlicher Gewalt durchsetzten. Ein Jahrzehnt später macht der türkische Sultan dem ersten saudisch-wahabitischen Staat vorläufig ein Ende.
Die IS-Terrormiliz als Neuauflage der wahabitischen Terrortruppe
Zu Anfang des 20. Jahrhunderts organisierten sich erneut wahabitische Milizen, die sich Ichwan – „Büder“ – nannten. Bei ihren Raub- und Eroberungszügen zogen sie im Namen Allahs eine blutige Spur durch die arabische Halbinsel. Die Bewohner von Oasen und Städten wurden terrorisiert und einer archaischen Scharia-Ordnung unterworfen. Wiederum setzte sich der damalige Stammesherrscher Ibn Saud an die Spitze der fanatisierten Muslim-Milizen, um sein Herrschaftsgebiet zu vergrößern. Später ließ er die unkontrollierbaren Ichwan-Krieger ausschalten zugunsten einer staatlichen Armee. Bei der erneuten Staatsgründung 1932 machte Ibn Saud den Wahabismus zur Staatsreligion. Unter der doktrinellen Leitung der Theologenfamilie Wahab kontrolliert eine Scharia-Polizei das gesamte Leben der Untertanen.
Die Scharia-Herrschaft des Wahabismus ist im Ansatz ähnlich brutal wie die des IS. In Saudi-Arabien wird die Todesstrafe als öffentliche Enthauptung praktiziert – an Zahl mehr als in fast allen Ländern der Erde. Auch die Intoleranz gegenüber anderen muslimischen Konfessionen haben die sunnitischen Wahabiten mit dem IS gemein. In den letzten Jahren wurden mehrere Mitglieder der schiitischen Minderheit geköpft. Kürzlich verurteilte ein saudisches Gericht einen schiitischen Prediger zum Tode, weil er Demonstrationen für mehr Autonomie der Schiiten unterstützt hatte. Christliche Symbole und Kirche sind selbstverständlich verboten, selbst Bibelkreise in privaten Räumen werden gelegentlich verfolgt.
Der Islamische Staat ist eine Gefahr für die ganze Welt
In einem zentralen Punkt aber unterscheidet sich die wahabitische Saudi-Monarchie vom Islamischen Staat. Im Königreich Arabien herrscht eine Art Arbeitsteilung zwischen Religion und Staatsgewalt: Die Theologen konzentrieren sich auf Lehre und Scharia, die Staatsgewalt sichert mit ihren Organen das wahabitische Islam-System ab.
Der IS-Anführer al Bagdadi dagegen hat sich zum Kalifen erklärt: Er will Religionsführer, Staatslenker und Kriegsherr in einem sein – wie Mohammed und seine Nachfolger. In dieser (früh-islamischen) Gewalten-Einheit von Religion und Politik braut sich ein äußerst aggressives Potential zusammen. „Der Islamische Staat ist eine Gefahr für die ganze Welt“, sagte mit Recht der saudi-arabische Außenminister Faisal. Freilich vergaß er zu erwähnen, dass der intolerante Wahabismus im eigenen Land der Nährboden für die aggressive Islam-Ideologie des IS und anderer salafistischen Strömungen ist.
Weiterführende Lektüre: Bruderkrieg unter Syriens Islamisten, FAZ 11. 9. 2014, Der Rausch des ‚Islamischen Staats’, FAZ 29. 9. 2014 und „Rechtfertigung der Terrorherrschaft“, FAZ 26. 11. 2014
Text: Hubert Hecker
Bild: Wikicommons/Screenshots