(New York) Die Katholische Kirche erlebt in Lateinamerika einen ungeahnten Aderlaß. Es findet ein Massenexodus statt. Das Phänomen einer starken Fluktuation ist aus den USA bekannt. Jeder dritte getaufte US-Katholik kehrt der Kirche im Laufe seines Lebens den Rücken und wechselt die Konfession oder Religion. Umgekehrt findet eine Zuwanderung aus anderen Konfessionen und Religionen statt. Getaufte Katholiken und Konvertiten machen zusammen ein Drittel der US-Bevölkerung aus. Tatsächlich als Katholiken bekennen sich aber nur 24 Prozent.
In Lateinamerika ist das Phänomen neuer, weshalb auch von einer US-Amerikanisierung die Rede ist. Richtig sichtbar wurde das Phänomen seit den 80er Jahren, als evangelikale Gruppen aus den USA Lateinamerika überschwemmten. Es hieß, die USA wollten sich nach dem Ende der Militärdiktaturen neue zuverlässige Partner aufbauen und dazu grundlegende Strukturen der lateinamerikanischen Gesellschaft verändern. Inzwischen gibt es nach US-amerikanischem Vorbild eine Vielzahl eigenständiger lateinamerikanischer evangelikaler Gemeinschaften, die Katholiken anziehen. Die Entwicklung wird im Zusammenhang mit soziopolitischen Veränderungen gesehen, die mit dem wirtschaftlichen Aufstieg einiger Länder, vor allem Brasiliens einhergehe. Es sei der Wohlstandsprotestantismus, der die aufstrebende Mittelschicht anspreche und jene Teile der Unterschicht, die den Anschluß an die Mittelschicht suchen, ganz unabhängig von den realen Aussichten.
Abwanderung zu den Telepredicatores
Die Abwanderung erfolgt nur marginal in Richtung anderer Religionen oder Atheismus, sondern in voller Breite zu den evangelikalen Gemeinschaften der jüngsten Generation, angeführt von den Telepredicatores, wie die US-Teleevangelistas im Süden des Kontinents genannt werden
Laut den neuesten Zahlen des Pew Research Institut bekennen sich heute 19 Prozent der Latinos als Evangelikale. Nicht einmal die Hälfte davon (neun Prozent) stammt aus evangelikalen Familien, was das schnell wachsende Phänomen in den vergangenen 35 Jahren bestätigt.
1960: über 90 Prozent Katholiken – 2014: 69 Prozent
84 Prozent der erwachsenen Lateinamerikaner geben an, daß sie im Kindesalter katholisch getauft und aufgewachsen sind. Nur 69 Prozent bezeichnen sich als Erwachsene noch als katholisch.
Paraguay ist ein typisches Beispiel dieser Entwicklung. 68 Prozent der paraguayischen Evangelikalen sind getaufte Katholiken. Nicht anders sieht es in Peru aus, wo 66 Prozent Katholiken waren. In Brasilien, wo das evangelikale Phänomen früh einsetzte, sind es immerhin auch 54 Prozent. Sogar 74 Prozent sind es in Kolumbien. Nur 15 Prozent in Panama, wo der amerikanische Einfluß sehr früh und sehr stark einsetzte.
Zu den Gründen des Konfessionswechsels nennt PEW, daß ehemalige Katholiken auf Nachfrage angeben, bei ihrer neuen evangelikalen Gruppe mehr Gemeinschaft und vor allem eine stärkere persönliche Bindung zur Jesus Christus zu erfahren.
Ex-katholische Evangelikale vertreten stärker traditionelle Morallehre
Noch interessanter erscheint ein anderes Detail: Laut PEW-Erhebung vertreten die ehemaligen Katholiken, die nun Evangelikale sind, stärker die traditionelle Morallehre zu Ehe und Familie, gegen Abtreibung und Homosexualität, als jene, die sich weiterhin mit der Katholischen Kirche identifizieren.
Lateinamerika stellt mit 425 Millionen Katholiken rund 40 Prozent aller Katholiken weltweit. Die PEW-Studie verweist auf die präzedenzlose Tatsache, daß erstmals in der Geschichte ein Lateinamerikaner Papst ist. „Dennoch ist die Identifikation mit dem Katholizismus in der gesamten Region zurückgegangen“, so das auf religionssoziologische Untersuchungen spezialisierte Institut.
Aus der Erhebung geht hervor, daß die meisten der neuen Evangelikalen vor ihrem 25. Geburtstag die Katholische Kirche verlassen und den Übertritt vollziehen. Ein Hinweis, daß eine Abnabelung von der Elterngeneration auch auf konfessioneller Ebene geschieht.
Kein Franziskus-Effekt? „Noch zu früh, darüber zu urteilen“
Laut PEW-Erhebung sind die Lateinamerikaner grundsätzlich, besonders natürlich die Katholiken begeistert von der Wahl Jorge Mario Bergoglios zum katholischen Kirchenoberhaupt. Das gilt auch für die ehemaligen Katholiken, die heute Evangelikale sind. Nur in Argentinien und in Uruguay zeigen die ehemaligen Katholiken eine gewisse Distanz zu Papst Franziskus. Ein Franziskus-Effekt läßt sich unterdessen in Lateinamerika nicht feststellen. Häufig heißt es in diesem Zusammenhang, es sei „noch zu früh, um darüber urteilen zu können“ (Marco Tosatti).
Text: Giuseppe Nardi
Bild: Pew Research Institut