Am 10. Oktober 2014 wurde der Erste Teil des auf drei Teile angelegten Aufsatzes des Theologen und Publizisten Wolfram Schrems „Das Unbehaben mit aktuellen Selig- und Heiligsprechungen – und deren Ausbleiben“ veröffentlicht. Aus aktuellem Anlaß zur Seligsprechung von Papst Paul VI. (1963–1978) folgt heute der Zweite Teil.
von Wolfram Schrems*
Die Zeitumstände beim Pontifikat von Papst Johannes XXIII.: Konfusion dringt in die Kirchenspitze ein
Der heuer verstorbene, im deutschen Sprachraum leider praktisch unbekannte katholische italienische Schriftsteller Eugenio Corti stellte in seinem Eintausend-Seiten-Meisterwerk Das rote Pferd (1983) die Entwicklung Italiens von der Zwischenkriegszeit bis etwa in die Konzilszeit dar. Als unbestechlicher Beobachter und unbeirrbarer Katholik faßte er den nach dem Tod von Papst Pius XII. diskret beginnenden und sich schon bald zur offenen Verwirrung steigernden Stimmungsumschwung in der Kirche in einprägsame Worte:
„Vielleicht ist die Sache, die uns am meisten beunruhigen sollte“, sagte Apollonio, „die Verwirrung, die überall einzusickern scheint. Jeder applaudiert jetzt dem heiligen Papst Johannes, und mit gutem Grund; aber die unübliche, sogar unlogische Sache ist, daß er von denjenigen Leuten gepriesen wird, die das eigentlich nicht tun sollten, die Kommunisten an erster Stelle.“
„Für sie ist nur eine Sache wirklich wichtig, nämlich daß der Papst in seiner Liebe zu ausnahmslos allen Menschen seine Wachsamkeit sinken läßt, besonders gegenüber ihnen selbst.“
„Stimmt. Aber natürlich ist in seiner Offenheit implizit der Aufruf zur Konversion zur Katholischen Kirche enthalten.“
„Ja, kein Zweifel. Aber in der Zwischenzeit läßt er die Wachsamkeit sinken und das ist alles, was sie als wichtig ansehen.“ (…)
Warum sich übertriebene Sorgen machen? Zur Zeit profitierte die katholische Welt ja offenkundig noch von den erleuchtenden Auswirkungen der Führung durch Pius XII. Die kirchliche Lehre war immer noch unzweideutig und klar und ihre Wahrheiten so tief in den Herzen der Gläubigen verwurzelt, daß die Vorstellung einer sich nähernden Krise wirklich deplaziert schien.
Und dennoch…
(Eugenio Corti, Il Cavallo rosso, Mailand 1983, nach der englischen Übersetzung The Red Horse, Ignatius Press, San Francisco, 3. Druck, 2002, 930f.)
Wir wissen, was dieses unheilsschwangere „und dennoch…“ noch alles implizieren sollte – nicht zuletzt (im Kontext des Romans) die eine Million Stimmenzuwachs für die Kommunistische Partei Italiens, nachdem Papst Johannes Chruschtschows Tochter und Schwiegersohn im Vatikan empfangen hatte.
Die vier Jahre des Pontifikates von Johannes XXIII. haben objektiv gesehen so viel zerstört, daß dessen Heiligsprechung für einen Gläubigen, der das Kriterium von den guten und schlechten Früchten anlegt, verwirrend sein muß.
Kardinal Giuseppe Siri von Genua, ein großer Kirchenmann und bedeutender Theologe (Gethsemani, 1980, die deutsche Übersetzung 1982 leider sehr schwer greifbar) wird öfter so zitiert, die Kirche werde fünfzig Jahre brauchen, um sich von den Irrwegen dieses Mannes zu erholen (hier nach einem typisch unkritischen Jubelartikel für Johannes XXIII. zitiert).
Daß Kardinal Siri recht behalten hätte, könnte man einundfünfzig Jahre nach dem Tod von Papst Roncalli leider nicht behaupten.
Die nächste geplante Seligsprechung: Paul VI. – ausgerechnet!
Wenn nicht noch ein Wunder geschieht, wird, wenn dieser Artikel erscheint, Papst Paul VI. selig gesprochen worden sein.
Wieso einer der engsten Mitarbeiter seines Vorgängers und schließlich dessen Nachfolger selig gesprochen werden soll, bleibt ein Geheimnis. Am ehesten wird wohl folgendes zutreffen:
Offensichtlich benötigt man im Vatikan eine Legitimation für die sogenannte „Liturgiereform“ von Papst Paul VI (Meßbuch 1969, dessen erste Auflage aber wegen einer offenen Häresie wieder eingestampft werden mußte).
Diese „Reform“ hat sich zwar für alle, die Augen haben, um zu sehen, mittlerweile als Desaster erwiesen. Sie ist aber eines der Hauptprojekte der innerkirchlichen Konspiration. Ohne eine solche Konspiration anzunehmen, wäre das fanatische Beharren auf der gescheiterten Reform und dem unnachsichtigen Kampf gegen die alte Messe völlig widersinnig.
Der vor nicht langer Zeit verstorbene italienische Priester Don Luigi Villa, dessen Schriften im Internet leicht zu finden sind (Chiesa Viva, auf Deutsch: „Wer ist Don Luigi Villa?; vgl.a. auf Italienisch Heft 463/2013), spielte, wie dort zu lesen ist, eine wichtige Rolle bei der Verzögerung des ersten Anlaufs zur Seligsprechung von Paul VI.
Soweit ich die Darstellung der Fakten durch Don Villa kenne, ist mir keinerlei schlüssige Widerlegung derselbigen bekannt. Der durchaus nicht a priori negativ eingestellte Autor Reinhard Raffalt hat schon in Wohin steuert der Vatikan?, Pieper, München 1973, viele Beobachtungen der Politik von Papst Paul zusammengetragen, die Grund zu größter Konfusion und Beunruhigung gaben.
Selig wegen Humanae vitae?
Wohlmeinende, aber nicht mit der nötigen Unterscheidungsgabe ausgestattete Katholiken bringen die Seligsprechung von Papst Montini in einen ursächlichen Zusammenhang mit Humanae vitae.
Diese Begründung ist jedoch völlig unschlüssig. Denn wenn es wirklich nur um Humanae vitae ginge, ist die Suppe doch zu dünn. Diese Enzyklika wiederholt nämlich im wesentlichen die traditionelle Lehre, nämlich Casti connubii von Papst Pius XI. aus dem Jahr 1930 („Aber es gibt keinen auch noch so schwerwiegenden Grund, der etwas innerlich Naturwidriges zu etwas Naturgemäßem und sittlich Gutem machen könnte. Da nun aber der eheliche Akt seiner Natur nach zur Weckung neuen Lebens bestimmt ist, so handeln jene, die ihn bei seinem Vollzug absichtlich seiner natürlichen Kraft berauben, naturwidrig und tun etwas Schimpfliches und innerlich Unsittliches.“ II, 3, a), und übrigens auch die des Konzils („Jedoch nicht überall erscheint die Würde [der Ehe] in gleicher Klarheit. Polygamie, um sich greifende Ehescheidung, sogenannte freie Liebe und andere Entartungen entstellen diese Würde. Darüber hinaus wird die eheliche Liebe öfters durch Egoismus, bloße Genußsucht und durch unerlaubte Praktiken gegen die Fruchtbarkeit der Ehe entweiht.“ Gaudium et spes 47, Hervorhebung WS).
Damit ist der Moraltheologe Eberhard Schockenhoff, der sich für seine Rechtfertigung der Kontrazeption jüngst auf „das Konzil“ berief, im Unrecht – wie auch alle anderen, die das so inflationär tun, daß man sich fragen muß, ob ihnen das nicht selber schon zu blöd ist.
Aber eben: Sollte ein Papst allen Ernstes selig gesprochen werden, nur weil er in einem Punkt die kirchliche Lehre vertrat? Sieht man hier die Mücke und übersieht man zur gleichen Zeit den Elephanten, nämlich die ganze verwirrende Qualität der vielen päpstlichen Verlautbarungen? Übersieht man die verheerende Zweideutigkeit der Konzilstexte? Für die der Papst selbstverständlich höchstpersönlich zur Verantwortung zu ziehen ist! So sieht es aus. Man übersieht vor allem, daß auch Papst Paul die Botschaft von Fatima nicht adäquat gewürdigt hat.
Völlig verunglücktes Pontifikat – Wo ist hier die Seligkeit?
Papst Montini ist offensichtlich gegen Ende seines Lebens immer mehr mit sich selbst unzufrieden gewesen. Die erschreckenden Filmaufnahmen sprechen eine beredte Sprache: Ein Mensch, der nicht mit sich im Reinen ist.
Das gesamte Pontifikat wird man leider als völlig verunglückt bezeichnen müssen.
Zu sehr war Papst Paul VI. einer der typisch optimistischen Modernisten, die die Realität des Bösen kraß unterschätzten und glaubten, im „Dialog“ alles aushandeln zu können.
Im Zuge dieses „Dialogs“, der den besorgten Katholiken übrigens verweigert wurde, hat der Papst die Märtyrerkirche des Ostens in gewisser Hinsicht geopfert. Die utopischen humanistischen Ideale (nach dem „integralen Humanismus“ von Jacques Maritain) blendeten die intrinsisch negative Natur des Kommunismus und anderer Irrlehren aus und brachten den Papst dazu, Menschen Vertrauen entgegenzubringen, die geschworene Feinde der Kirche waren.
Zu Opfern dieser – je nach näher zu betrachtenden Hintergrunderforschung – verunglückten bzw. verräterischen Politik mußten daher die Märtyrer des Sowjetblocks werden, deren Existenz der vatikanischen Ostpolitik irgendwie unangenehm war.
Man muß der Fairness halber die Erfahrungen von Pius XII. erwähnen, der sich – von den politischen Mächten alleingelassen und in Sorge um die Katholiken in Deutschland – die direkte Konfrontation mit der nationalsozialistischen Macht nicht leisten konnte. Die Absicht, durch Verhandlungen zu retten, was zu retten ist, mag teilweise im Hintergrund der späteren Ostpolitik gestanden sein.
Das rechtfertigt aber nicht die inakzeptabel freundliche Begegnung von Papst Paul VI. mit kommunistischen Diktatoren und Revolutionären, an deren Händen Blut klebte. Es rechtfertigt auch nicht die rüde Art des Papstes, mit christlichen Staatsmännern, die in heroischer Weise die kommunistische Bedrohung zurückgeworfen hatten, umzugehen, allen voran General Francisco Franco und Präsident Antonio Oliveira de Salazar – und gleichzeitig alle kommunismuskritischen Stimmen am Konzil ausschalten zu lassen, wenn es sein muß mit Intrige. Denn eine Folge dieser päpstlichen Politik war ein massives Eindringen des Marxismus in die Kirche und in die Gesellschaften des Westens.
Die Kardinäle Josyf Slipyj, Großerzbischof der Ukrainisch-Griechisch-Katholischen Kirche und Kardinal József Mindszenty, Erzbischof von Gran und ungarischer Primas, waren evidenterweise keine „Dialogpartner“ von Papst Paul und wurden schäbig ins Ausgedinge befördert, ihre Wirkmöglichkeiten stark eingeschränkt.
Rußland hatte also seine Irrtümer offensichtlich bis in den Binnenraum der Kirche verbreitet. Das zu leugnen, wäre zwecklos.
Für meine Begriffe widerstreitet eine solche Politik der Seligsprechung. Die ganze vatikanische Ostpolitik und ihre Protagonisten harren noch einer rückhaltlosen Aufarbeitung. Ohne die „Reinigung des Gedächtnisses“ (Johannes Paul II.) wird das Papsttum des 20. Jahrhundert diese Verstrickung immer mit sich herumschleppen. Die fromme Tünche einer Seligsprechung kann die Fakten nicht auslöschen. Diese werden im Untergrund weiter gären und für Verwirrung sorgen.
Ein unverdächtiger Zeuge bestätigt: Die Inspiration des Konzils und seiner Päpste stammt nicht aus dem Glauben der Kirche sondern von außen
Zuletzt sei hier noch eine für manche vielleicht überraschende Illustration obiger Gedankengänge angefügt.
Der ungarische Ex-Jesuit Töhötöm Nagy, der den Glauben aufgab, in den Laienstand zurückversetzt wurde und in Buenos Aires in die Freimaurerei aufgenommen wurde, schreibt in seiner hochinteressanten Autobiographie Jesuiten und Freimaurer unter anderem:
„Ich möchte mit allem Respekt auf das II. Vatikanische Konzil hinweisen, bei dem wir Delegierte der verschiedensten Konfessionen finden; und dies fügt der ‚Reinheit der katholischen Religion‘ nicht den mindesten Schaden zu. Papst Benedikt [XIV.] hätte wohl schwerlich seine Bulle gegen die Freimaurer ausgegeben, wenn er durch ein Wunder Johannes‘ XXIII. Enzyklika ‚Pacem in terris‘ hätte lesen können; ja wenn er bloß eines der Dokumente des II. Vatikanischen Konzils gesehen hätte, welches alle Katholiken aufruft, ‚sich besser mit den Protestanten zu verständigen und alle brauchbaren Mittel zu suchen, um die Hindernisse zu beseitigen, die den Weg zur Einheit der Christen versperren‘. Diese Dokumente unterstreichen, daß die Religionsfreiheit ein gottgegebenes Recht ist und daß allen Menschen die Freiheit eingeräumt werden muß, die Religion gemäß ihrem Wissen und Gewissen auszuüben. Es besteht ein himmelweiter Unterschied zwischen der Welt Benedikt XIV. und der Pauls VI. Der erste verdammte die Freimaurer wegen ebendessen, wozu der zweite alle Katholiken der Welt ermuntert“ (483).
Und:
„Die meisten [Brüder in der Loge] drückten ihre Hoffnung in Paul VI. aus, und alle anerkannten Johannes XXIII. als den Menschen mit den lautersten Absichten der jüngsten Vergangenheit“ (500).
Töhötöm Nagy, Jesuiten und Freimaurer, Frick Verlag, Wien 1969 (Titel der span. Ausgabe ‚JESUITAS Y MASONES‘, Buenos Aires, 1963; aus dem Spanischen von Wolfgang Teuschl, Wien)
Fazit
Wenn Ex-Pater Nagy kein Hochstapler und Täuscher ist, sondern hier die Wahrheit sagt, haben wir einen weiteren Grund, mit der Erhebung der Konzilspäpste zur Ehre der Altäre großes Unbehagen zu empfinden. Das geht alles zu schnell und zu oberflächlich. Die vox populi wurde offensichtlich nicht konsultiert.
Und dabei wird regelmäßig die Botschaft von Fatima, von der Kirche selbst anerkannt und im Volk bis weit in die 60er Jahre hinein verwurzelt, übergangen.
Im nächsten Teil soll auf mögliche Gründe für das völlige Schweigen in Sachen Seligsprechung von Sr. Lucia eingegangen werden.
*MMag. Wolfram Schrems, Linz und Wien, katholischer Theologe und Philosoph, kirchlich gesendeter Katechist
Bild: Adorazione eucaristica/Wikicommons/Papale