(Rom) Am 12. Juli erschien in der Tageszeitung „Il Foglio“, der jüngste Aufsatz des bekannten, traditionsverbundenen Historikers Roberto de Mattei. Er geht darin der Frage nach, was nach dem Amtsverzicht von Benedikt XVI. mit dessen „Hermeneutik der Kontinuität“ geschieht, mehr noch, wie geht es mit der überfälligen Diskussion über das Zweite Vatikanische Konzil in einer Zeit der offensichtlichen „Entdogmatisierung“ weiter, die ihren Ausgang im Konzil nahm und inzwischen mit Papst Franziskus die höchste Spitze erreicht zu haben scheint. Die Zwischentitel stammen wie gewohnt von der Redaktion.
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Der Konziliator
von Roberto de Mattei
War das Zweite Vatikanischen Konzil ein „verratenes“ Konzil? Und von wem? Die Frage drängt sich nach der Veröffentlichung des Instrumentum laboris auf, jenem vatikanischen Dokument, das Diskussionsgrundlage für die kommende Bischofssynode über die Familie sein wird. Die im Instrumentum laboris zitierten Texte stammen ausschließlich vom Konzil oder aus der Nachkonzilszeit, so als hätte es zu diesem, heute so entscheidenden Thema wie der Familie seit den 60er Jahren eine radikale Wende des kirchlichen Lehramtes gegeben.
Die Schule von Bologna hat keine Zweifel. Diese theologische und pastorale Wende gab es, aber Paul VI. habe deren Stoßkraft abgewürgt. Die gesamte Ausrichtung der von Giuseppe Alberigo verantworteten Geschichte des Zweiten Vatikanischen Konzils baut auf dem Gegensatz zwischen dem „Propheten“ Johannes XXIII., der ein „neues Pfingsten“ der Kirche einleitete und dem kalten Bürokraten Giovanni Battista Montini, der es versenkte, auf. Hinter dieser geschichtlichen Lesart des Zweiten Vatikanums, die heute von Alberigos Epigonen wie Alberto Melloni, Giuseppe Ruggieri und Massimo Faggioli vertreten wird, steht die neue Theologie von Dominique-Marie Chenu, Yves Congar und vor allem Karl Rahner. Seit dem Jahr 1965, auf einer Tagung mit dem Titel „Das Konzil: Anfang eines Anfangs“ während der letzten Wochen der Schlußsession, stellte der deutsche Jesuit das Zweite Vatikanum als Anfang einer neuen Epoche in der Geschichte der Kirche dar, die bestimmt sei, die Gemeinschaft der Gläubigen in der Art zu erneuern, wie es nach dem ersten Konzil von Jerusalem geschehen ist. Paul VI. habe das Konzil mit der Nota praevia von 1964 verraten, mit der er die Bedeutung der von Lumen gentium eingeführten Kollegialität einschränken wollte und vor allem natürlich mit der „repressiven“ Enzyklika Humanae Vitae von 1968.
Humanae Vitae löste ersten Bruch unter Konzilstheologen aus
Die Streitigkeiten, die auf Humanae Vitae folgten, führten zum ersten großen hermeneutischen Bruch zwischen den Akteuren des Zweiten Vatikanums. 1972 wurde von Joseph Ratzinger, Hans Urs von Balthasar und Henri de Lubac die internationale Zeitschrift „Communio“ gegründet, die sich in offenem Gegensatz der Zeitschrift „Concilium“ entgegensetzte, in der Karl Rahner, Yves Congar und Eward Schillebeeckx publizierten. De Lubac war es, der den Ausdruck „Parakonzil“ prägte, um die Atmosphäre fieberhafter Agitation zu beklagen, die in den Jahren nach dem Zweiten Vatikanum viele Theologen dazu brachte, dessen Aussagen umzubiegen. In einem langen Interview [1]Viaggio nel Concilio (Reise durch das Konzil), in: 30giorni, Sonderbeilage zur Nr. 10 (1985), S. 6–30, das er 1985 Angelo Scola [2]heute amtierender Erzbischof von Mailand und Kardinal gewährte, beschrieb de Lubac das „Parakonzil“ als eine Bewegung, die mit medialem Druck operierte und die es verstanden hatte, das Konzil und die Nachkonzilszeit zu Themen wie dem päpstlichen Primat und die Beziehung der Kirche zur Welt zu beeinflussen. Im selben Jahr stellte Hand Urs von Balthasar, der 1952 in einem seiner Bücher dazu aufgefordert hatte „die Bastionen zu schleifen“, in einem Interview ebenfalls für „30giorni“ [3]Viaggio nel postconcilio, hrsg. von Angelo Scola, Mailand 1985 fest, daß alle mit dem Konzil verbundenen Erwartungen sich „in einem amerikanischen Optimismus“ aufgelöst hatten.
„Dialog“ entpuppte sich als „Chimäre“
Die Internetseite Papalepapale veröffentlichte vor kurzem wieder das Interview, das von Balthasar Vittorio Messori gab, in dem der Schweizer Theologe den Standpunkt vertrat, daß der Dialog sich als „Chimäre“ entpuppte und die Notwendigkeit der Rückkehr zur rechten Glaubenslehre und dem „tridentinischen Modell“ der Priesterseminare vertrat. Das Interview stammt wie die vorhergenannten aus dem Jahr 1985, dem Jahr, in dem das Gesprächsbuch mit Kardinal Ratzinger zur „Lage des Glaubens“ veröffentlicht wurde, in dem der damalige Präfekt der Glaubenskongregation die Notwendigkeit proklamierte, zu den „authentischen Texten des authentischen Zweiten Vatikanums zurückzukehren“. Zum Papst Benedikt XVI. geworden, stellte er mehrfach die Hermeneutik der Texte jener des „Geistes“ entgegen. Seine Position trat deutlich von seiner denkwürdigen Ansprache an die Römische Kurie vom 22. Dezember 2005 bis zu seiner letzten, nicht weniger bedeutenden Ansprache an den römischen Klerus vom 14. Februar 2013 hervor. Benedikt XVI. wiederholte die These, laut der ein von den Kommunikationsmitteln aufgezwungenes virtuelles Konzil das wirkliche Konzil, das in den Schlußdokumenten des Zweiten Vatikanums zum Ausdruck kommt, verraten hätte. Zu diesen, von einer mißbräulichen nachkonziliaren Praxis vernachlässigten Texten müsse man zurückkehren, um die Wahrheit des Konzils wiederzufinden. Msgr. Agostino Marchetto, den Papst Franziskus als den „besten Hermeneuten“ des Zweiten Vatikanums bezeichnete, bewegt sich auf dieser Linie, deren Schwäche jeden Tag offenkundiger wird. Das Konzil der Medien war nämlich nicht weniger real als jenes der Väter, so daß man die These vertreten könnte, daß das eigentliche virtuelle Konzil vielmehr jene 16 offiziellen Konzilsdokumente waren, die in der Textsammlung des Heiligen Stuhls blieben, aber nie in die konkrete geschichtliche Wirklichkeit Eingang fanden.
Nicht Paul VI., sondern Johannes XXIII. hat Konzil verraten
Die geschichtliche und theologische Revisionsarbeit, die in den letzten Jahren des benediktinischen Pontifikats einsetzte, hat jedoch einen neuen historisch-hermeneutischen Weg geöffnet. Das Zweite Vatikanum wurde, laut dieser Sichtweise, weder von Paul VI. noch von den Medien verraten, sondern von Johannes XXIII., von dem, der es einberufen hatte und der es bis zu seinem Tod am 3. Juni 1963 zwischen der Ersten und der Zweiten Session leitete. Die Fakten scheinen dies zu bestätigen. Am 25. Januar 1959, nur drei Monate nach seiner Wahl auf den Stuhl Petri kündigte Papst Roncalli die Einberufung des Zweiten Vatikanischen Konzils an. Die Überraschung war groß, aber die Vorbereitung des Konzils dauerte gut drei Jahre mittels einer Vorbereitung der Vorbereitungsphase (ein Jahr) und der Vorbereitungsphase (zwei Jahre).
Im Frühjahr 1960 wurden die consilia et vota, das heißt die 2.150 Antworten der Bischöfe aus der ganzen Welt gesammelt, die zu den Themen der bevorstehenden Kirchenversammlung befragt wurden. Dann wurde das gesamte Material an zehn vom Papst ernannten Kommissionen weitergereicht, um die „Schemata“ zu verfassen, die dem Konzil unterbreitet werden sollten. Die Kommissionen arbeiteten unter der Aufsicht von Kardinal Ottaviani, der bis Juni 1962 Präfekt des Heiligen Offiziums war. Die beeindruckende Arbeit wurde in 16 Bänden gesammelt, die Entwürfe für 54 Dekrete und 15 dogmatische Konstitutionen enthalten. Am 13. Juli, drei Monate vor der Eröffnung der Kirchenversammlung, legte Johannes XXIII. fest, daß die ersten sieben, von ihm approbierten Entwürfe für Konstitutionen allen Konzilsvätern als Diskussionsgrundlage für die Generalkongregationen übermittelt werden. Die betrafen: die Quellen der Offenbarung; die Reinerhaltung des depositum fidei; die christliche Moralordnung; Keuschheit, Ehe, Familie und Jungfräulichkeit; die Heilige Liturgie; die Kommunikationsmittel und schließlich die Einheit der Kirche mit den Ostkirchen. Diese Dokumente, an der zehn Kommissionen drei Jahre gearbeitet hatten, enthielten das Beste, was die Theologie des 20. Jahrhunderts hervorgebracht hatte. Es handelte sich um inhaltsschwangere und artikulierte Texte, die direkt und mit einer klaren und überzeugenden Sprache in das Herz der aktuellen Probleme vorstießen. Johannes XXIII. studierte sie aufmerksam und versah sie mit handgeschriebenen Kommentaren. „Auf allen Schemata finden sich diese sich häufig wiederholenden Anmerkungen: ‘Bene‘, ‘Optime‘“ (gut, ausgezeichnet), wie sich Vincenzo Kardinal Fagiolo erinnerte. „Nur zu einem Schema, dem über die Liturgie, die im Band an fünfter Stelle auf den Seiten 157–199 aufscheint, schrieb der Papst da und dort Fragezeichen im Sinn von Erstaunen und Nicht-Zustimmung“, so der spätere Kardinal, der als Peritus am Konzil teilgenommen hatte. Als Msgr. Pericle Felici, der Sekretär des Konzils, im Juli 1962 ihm die von ihm durchgesehenen und approbierten Konzilsschemata präsentierte, kommentierte Papst Roncalli begeistert: „Das Konzil ist gemacht. Zu Weihnachten können wir abschließen!“ In Wirklichkeit waren zu Weihnachten jenes Jahres alle Schemata des Konzils bereits über Bord geworfen, ausgenommen das De Liturgia, jenes, das Johannes XXIII. am wenigsten gefallen hatte, dafür um so mehr den Progressiven. Zudem sollte das Konzil nicht drei Monate, sondern drei Jahre dauern.
Die progressive Übernahme des Konzils
Was war geschehen? Im Juni 1962 versammelte der neue Erzbischof von Mecheln-Brüssel, Kardinal Léon-Joseph Suenens im Belgischen Kolleg in Rom eine Gruppe von Kardinälen, um einen „Plan“ für das bevorstehende Konzil zu besprechen. Suenens selbst berichtet, mit ihnen ein „vertrauliches“ Dokument besprochen zu haben, in dem die von den Vorbereitungskommissionen vorbereiteten Schemata kritisiert und dem Papst nahegelegt wurde, „für seinen persönlichen Privatgebrauch“ eine engumgrenzte Kommission zu errichten, „eine Art brain trust“, um auf die großen, aktuellen pastoralen Probleme zu antworten. Im August ging beim Papst auch eine entsprechende Bitte des kanadischen Kardinals Paul-Emile Léger, Erzbischof von Montreal ein. Der Brief war von den Kardinälen Lienart, Döpfner, Alfrink, König und Suenens unterzeichnet. Das Dokument kritisierte offen die ersten sieben Schemata, die in der Vollversammlung diskutiert werden sollten. Die Unterzeichner behaupteten, daß die Schemata nicht mit der Ausrichtung vereinbar seien, die Johannes XXIII. dem Konzil geben solle.
Das Zweite Vatikanum wurde am 11. Oktober 1962 eröffnet. Am 13. Oktober fand die erste Generalkongregation statt, doch bereits am Beginn kam es zu einem unerwarteten Knalleffekt. Die Tagesordnung sah die Wahl der Vertreter der Konzilsväter in den zehn Kommissionen vor, von denen die von den Vorbereitungskommissionen redigierten Schemata überprüft werden sollten. Kardinal Lienart, unterstützt von den Kardinälen Döpfner, Frings und König protestierte gegen die nicht erfolgte Konsultation der Bischofskonferenzen und forderte deren Einberufung vor der Wahl der Kommissionen. Alles war von den Vertretern der „Nouvelle Thélogie“ in der Nacht zuvor im Französischen Seminar in Santa Chiara organisiert worden. Kardinal Tisserant, der den Vorsitz in der Konzilsversammlung führte, gewährte eine Vertagung und die Konsultation der Bischofskonferenzen, die zusammengerufen wurden, um die Listen mit den neuen Namen für die Kommissionen zu benennen. Die Rolle der Bischofskonferenzen, die in der Geschäftsordnung gar nicht vorgesehen waren, wurde damit offiziell anerkannt. Damit wurde erstmals die Existenz einer organisierten Partei sichtbar, der „europäischen Allianz“, die sich fast alle Plätze in den Kommissionen sicherte. Die Bischofskonferenzen wurden weniger von den Bischöfen als von ihren Experten gelenkt, jenen Theologen, von denen viele von Pius XII. verurteilt worden waren und die sich nun anschickten, eine entscheidende Rolle beim Konzil zu spielen. Und da unter allen Bischofskonferenzen, die deutsche die am besten organisierte war, kam den deutschen Theologen die entscheidendste Rolle zu. Unter den deutschen Theologen stach einer ganz besonders hervor, der Jesuit Karl Rahner, dessen Einfluß auf das Konzil bestimmend war.
Karl Rahner beherrschte die deutschen Bischöfe, diese die „Allianz“ und diese das Konzil
Pater Ralph Wiltgen faßt diese Situation in seinem grundlegenden Werk „The Rhine flows into the Tiber“, New York 1967 [4]deutsche Ausgabe: Der Rhein fließt in den Tiber, Lins, Feldkirch 1988 aussagekräftig zusammen: „Da die Positionen der deutschsprachigen Bischöfe regelmäßig von der europäischen Allianz übernommen wurden und da die Positionen der Allianz ihrerseits generell vom Konzil angenommen wurden, genügte es, daß es einem einzigen Theologen gelang, daß seine Ideen von den deutschsprachigen Bischöfe übernommen wurden, damit sie sich vom Konzil zu eigen gemacht wurden. Diesen Theologen gab es: Es war Pater Karl Rahner von der Gesellschaft Jesu.“ [5]Freie Übersetzung aus dem italienischen Aufsatz von Professor Roberto de Mattei. Ab diesem Augenblick wurde die Geschichte des Konzils anders geschrieben.
Neueste Konzilsliteratur
Für jene, die dieser Piste genauer nachgehen wollen, empfehle ich neben meinem Buch „Das Zweite Vatikanische Konzil. Eine bislang ungeschriebene Geschichte“ (Sarto, Bonn 2011) die Lektüre einiger jüngst erschienener Bücher, die wertvolle, bedenkenswerte Hinweise liefern: „Il Concilio parallelo. L’inizio anomalo del Vaticano II“ (Das Parallel-Konzil. Der anomale Beginn des Zweiten Vatikanums; Fede e Cultura, Verona 2014, 125 Seiten) und eine umfassendere Studie: Unam Sanctam. Studio sulle deviazioni dottrinali nella Chiesa cattolica del XXI secolo (Studie zu den doktrinellen Abweichungen in der Katholischen Kirche des 21. Jahrhunderts; Solfanelli, Chieti, 2014, 438 Seiten). Paolo Pasqualucci wirft ausdrücklich die Frage nach dem Verrat auf, der in den ersten Tagen nach der Eröffnung des Konzils stattfand. Der Autor ist ein hervorragender Ordinarius für Rechtsphilosophie, der an verschiedenen italienischen Universitäten lehrte. Als Jurist beschäftigt er sich vor allem mit den zahlreichen Rechtswidrigkeiten, die das Konzil von seinem natürlichen Kurs abbrachten, die Vorbereitungsarbeit untergehen ließen und den Weg für die Verfechter der „Nouvelle Théologie“ freimachten. „Selten wurde ein ökumenisches Konzil mit größerer Sorgfalt, Gewissenhaftigkeit und Respekt vor den Rechten und den Meinungen aller vorbereitet. Es wurde der Praxis des Ersten Vatikanums gefolgt und diese noch verbessert“ (S. 13). Die Zurückweisung der Schemata war ein wirkliches „prozedurales Brigantentum“, das Pasqualucci an folgenden Punkten festmacht: Sabotage der Wahl der sechzehn vom Konzil zu bestimmenden Mitglieder; Umkehr der Tagesordnung und Vertagung der Wahl der Kommissionsmitglieder; und nicht zuletzt das Versandenlassen der Diskussion in der Aula über das Schema über die Quellen der Offenbarung mit der folgenden Bildung einer gemischten Kommission zu deren Neuformulierung, die von Kardinal Bea beherrscht wurde. Die Schemata wurden von Kopf bis Fuß in einem völlig anderen Geist und Zuschnitt neu neuformuliert.
Konzil kann nicht anders als sich dem Maßstab der Tradition zu unterwerfen
Einen weiteren wichtigen Beitrag liefert ein junger, aber bereits anerkannter Theologe, Pater Serafino Lanzetta von den Franziskanern der Immakulata, in seiner in Buchform erschienenen Habilitationsschrift: „Il Vaticano II. Un concilio pastorale. Ermeneutica delle dottrine conciliari“ (Das Zweite Vatikanum. Ein Pastoral-Konzil. Hermeneutik der Konzilslehren; Cantagalli, Siena 2014, 490 Seiten). Pater Lanzetta untersuchte bisher unveröffentlichte Quellen, die vor allem aus dem Geheimarchiv des Vatikans stammen, indem er mit großer Aufmerksamkeit den Weg nachzeichnet, der zur Verwerfung der Vorbereitungsschemata führte. Lanzetta behandelt vor allem den Wechsel vom Schema Aeternus unigeniti zu Lumen Gentium und von De Fontibus Revelationis zu Dei verbum, jenen beiden Konstitutionen, die als tragende Säulen des konziliaren Lehramtes zu bezeichnen sind, die bedenkliche und zweideutige Elemente enthalten. Um seine Problemstellung zu klären, folgt Lanzetta der Methode, das Konzil selbst zu befragen auf der Suche nach dessen mens, das heißt, dem, was die Väter beseelte und das, was ihre Entscheidungen bedingte. Der Horizont innerhalb dem sich der Theologe bewegt, ist die klassische Unterscheidung zwischen Dogmatik, die die Glaubenslehre betrifft, und der Seelsorge, die von ihr abhängt und von dieser geführt werden muß. Pater Lanzetta bringt dabei den Nachweis, daß der pastorale Aspekt beim Zweiten Vatikanum so vorherrschend war, daß er die Agenda diktierte und die Ausrichtung der gesamten Debatte. Für den franziskanischen Theologen ist der doktrinelle Aspekt des Zweiten Vatikanums im Licht der immergültigen Tradition der Kirche zu lesen und das Konzil könne nicht anders, als sich in ununterbrochene Tradition einzufügen (Seite 37). „Alleinige Richtschnur für das Verständnis des Zweiten Vatikanums kann nur die gesamte Tradition der Kirche sein: Das Zweite Vatikanum ist weder das einzige noch das letzte Konzil der Kirche, sondern ein Augenblick in ihrer Geschichte“ (Seite 74f). „Die immergültige Traditio Ecclesiae ist daher der erste hermeneutische Maßstab des Zweiten Vatikanums“ (Seite 75).
Ehrerbietige Haltung der gläubigen Katholiken bremst Diskussion
Was die Debatte bremst, ist die ehrerbietige Haltung, die jeder Katholik richtigerweise gegenüber der höchsten kirchlichen Autorität hegt. Aber dieser Respekt und diese Ehrfurcht dürfen nicht so weit gehen, die historische und theologische Wahrheit zu deformieren. Unter diesem Aspekt erleichtert das Pontifikat von Papst Franziskus die Diskussion. Das hermeneutische Gewicht Benedikts XVI., das während seines Pontifikats auf der Debatte lag, ist mit seiner Abdankung weggenommen. Nach seinem Verzicht auf das Pontifikat ist das Konzil von Benedikt XVI. aus der Geschichte ausgetreten. In der Geschichte geblieben ist das Konzil seines Gegenspielers Kardinal Kasper: Das Konzil, das sich in der pastoralen Praxis verwirklicht und das nach 50 Jahren pastoraler Praxis die bereits erfolgte Auflösung der katholischen Moral verkündet. Die nächste Bischofssynode dürfte dem Rechnung tragen. Das tragende Thema des Instrumentum Laboris wie der Rede von Kardinal Kasper beim außerordentlichen Kardinalskonsistoriums vom 20. Februar ist das der abgrundtiefen Distanz zwischen der kirchlichen Lehre über Ehe und Familie und der zeitgenössischen katholischen Praxis. In diesem Dokument wird die Soziologie zum Maßstab der Glaubenslehre gemacht. Die Praxis stellt die Lehre auf den Kopf, die Kirche wird umgestürzt. Das ist der Titel eines soeben erschienenen Buches von Enrico Maria Radaelli: „La Chiesa ribaltata. Indagine estetica sulla teologia, sulla forma e sul linguaggio del magistero di Papa Francesco“ (Die auf den Kopf gestellte Kirche. Metaphysische Untersuchung über die Theologie, die Form und die Sprache des Lehramtes von Papst Franziskus; Gondolin, Milano 2014, 314 Seiten) mit einem Vorwort des Priesters und Philosophen Msgr. Antonio Livi.
Mit Lumen fidei Entdogmatisierung an der Spitze angelangt
Radaelli, Schüler von Romano Amerio ist ein aufmerksamer Beobachter des stattfindenen Prozesses der „Entdogmatisierung“, der seinen Ausgang vom Zweiten Vatikanum nahm und nun mit dem Lehramt von Papst Franziskus den Höhepunkt erreicht zu haben scheint. Die Veränderung der Sprache der Kirche hat sich in den vergangenen 50 Jahren entscheidend auf die Inhalte ausgewirkt und sogar das doktrinelle Depositum entstellt. Durch die Analyse von Lumen Fidei von Papst Franziskus stellt Radaelli fest, daß in einer Enzyklika, die sich auf die Tugend des Glaubens stützt, das völlige Fehlen einer klaren und präzisen Definition dessen auffällt, was die Tugend des Glaubens ist (Seite 68). Mehr noch erstaunt das totale Fehlen des Wortes „Dogma“, eine inzwischen von der Kirche bereits seit 50 Jahren geächtete Vorstellung.
„Was soll eine Enzyklika über den Glauben nützen, die nicht die heute in der Kirche grassierenden Irrtümer und Häresien aufzeigt, die weder die Irrtümer benennt noch sie verurteilt?“ fragt sich der Autor (Seite 257). Radaelli übt scharfe Kritik an der „Event-Theologie“, der „Theologie der Begegnung“ und der „Erfahrung“. „Die verbindliche und dogmatische Sprache der Kirche müßte wieder selbstverständlich als vorrangige Sprache der Kirche anerkannt werden, die jede andere Sprache der Kirche bestimmt“ (Seite 73). Im Vorwort verteidigt Msgr. Antonio Livi, obwohl er einige Positionen des Autors nicht teilt, dessen Recht, diese zu äußern, so wie er auch die Artikel von Alessandro Gnocchi und Mario Palmaro in der Tageszeitung „Il Foglio“ verteidigte, weil jeder Katholik frei ist, seine Meinung zu jenen theologischen und pastoralen Entscheidungen sagen kann, die nicht das Dogma betreffen, sondern diskutierbare Positionen.
Warum bei gleichzeitiger Entdogmatisierung das Konzil dogmatisieren?
Wir befinden uns in einer Situation, in der die Kirche weder definiert noch verurteilt, sondern Diskussionsfreiheit läßt. Aus den Buchhandlungen, den Seminaren, den katholischen Universitäten dröhnen die Thesen ultraprogressiver Autoren, die sogar die Existenz einer „Orthodoxie“ leugnen, wie dies in der jüngsten Ausgabe der Zeitschrift „Concilium“ der Fall ist. Warum aber soll in einer Zeit der Entdogmatisierung das Zweite Vatikanum dogmatisiert werden? Der Vorrang gehört heute der Praxis, der gelebten Erfahrung, aus der die Wahrheit sichtbar werden sollte. Wenn dem so ist, warum dann nicht auf jene Stimme hören, die ein gelebtes Christentum vertritt, jenes der Tradition, das nicht den Primat der Lehre leugnet, das nicht die Wahrheit neu schafft, sondern sich auf die unveränderliche Wahrheit beruft und sich ihr angleicht?
Einleitung/Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Corrispondenza Romana
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↑1 | Viaggio nel Concilio (Reise durch das Konzil), in: 30giorni, Sonderbeilage zur Nr. 10 (1985), S. 6–30 |
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↑2 | heute amtierender Erzbischof von Mailand und Kardinal |
↑3 | Viaggio nel postconcilio, hrsg. von Angelo Scola, Mailand 1985 |
↑4 | deutsche Ausgabe: Der Rhein fließt in den Tiber, Lins, Feldkirch 1988 |
↑5 | Freie Übersetzung aus dem italienischen Aufsatz von Professor Roberto de Mattei. |