(Vatikan) „Der emeritierte Papst Benedikt XVI. betet, aber er erteilt auch Ratschläge“, so der Vatikanist Sandro Magister. Und er tut es immer öfter. Während der amtierende Papst Franziskus heißt und bejubelt wird, hebt der emeritierte Papst seinen Vorgänger Johannes Paul II. hervor. Ein feines aber aussagekräftiges Handeln. Benedikt XVI. geht es dabei nicht in erster Linie um die Person des polnischen Papstes, der ihn nach Rom gerufen hatte und dessen Pontifikat er aus dem Hintergrund mitprägte, sondern um Aussagen des Lehramtes, besonders der Enzyklika Veritatis splendor, und der Erklärung Dominus Iesus, zwei Dokumente, die Benedikt XVI. als Kontrastprogramm und Korrektiv aktueller Entwicklungen in Erinnerung ruft. Veritatis splendor wurde von Joseph Kardinal Ratzinger in seiner Funktion als Präfekt der Glaubenskongregation mitverfaßt. Es erhebt den Absolutheitsanspruch für grundlegende moralische Wahrheiten. Dominus Iesus ist ein Dokument der Glaubenskongregation, das jedoch, entgegen anderslautenden Behauptungen, von Johannes Paul II. vollinhaltlich gutgeheißen wurde. Der polnische Papst, so Benedikt, habe keine Angst gehabt, „wie seine Entscheidungen aufgenommen werden könnten“. Aktuelle Bezüge kann man sich dazu denken.
Kardinal Kasper warnte vor „Schattenpapst“ – Franziskus forderte öffentlich dazu auf
Kardinal Walter Kasper, der Wortführer eines grundsätzlichen Angriffs auf das Sakrament der Ehe, das Sakrament der Beichte und der kirchlichen Anthropologie, war es, der in der papstlosen Zeit, zwischen dem Amtsverzicht Benedikts und der Wahl von Franziskus scharfe Worte fand. Worte, die gegen den Zurückgetretenen gerichtet waren, den er davor warnte, sich in die Wahl seines Nachfolgers und dessen Pontifikat einzumischen. Es ist aber Papst Franziskus, der in seinem Aschermittwochs-Interview im Corriere della Sera Benedikt XVI. dazu aufforderte, eine aktive Rolle in der Kirche einzunehmen. Auch das natürlich als Teil einer nie dagewesenen Entwicklung in der Kirchengeschichte. „Der emeritierte Papst ist keine Museumsfigur. Er ist eine Institution“, sagte Papst Franziskus und noch einiges mehr, einschließlich der Aufforderung, „daß es besser wäre, wenn er Menschen sehen, hinausgehen und am Leben der Kirche teilnehmen würde“.
„Gesagt, getan“, so Magister. Wenige Tage später erschien ein Buch mit einem Text von Benedikt XVI. Nicht etwa irgendein Text, sondern eine Beurteilung über seinen Vorgänger Johannes Paul II. „Ein wirkliches öffentliches Urteil, nicht nur zur Person, sondern vor allem zu den entscheidenden Grundlinien dieses denkwürdigen Pontifikats“, so Magister. Mit Hervorhebungen, die gar nicht anders gelesen werden können, denn als ein einziger Vergleich mit der aktuellen Lage der Kirche und damit dem regierenden Papst.
Vier bedeutende Enzykliken und zwei Schlüsseldokumente
Der Text enthält eine ganze Reihe bedeutender Stellen. Eine davon ist jene zur Befreiungstheologie, die im Vatikan neue Aktualität gewonnen hat. Doch zwei andere Stellen sind bedeutsamer. Die erste Stelle bezieht sich auf die wichtigsten Enzykliken von Johannes Paul II. Von den insgesamt vierzehn Enzykliken hebt Benedikt XVI. fünf hervor.
Redemptor hominis von 1979, mit der Johannes Paul II. „seine persönliche Zusammenfassung des christlichen Glaubens bietet“, und die heute „all jenen eine große Hilfe sein kann, die auf der Suche sind“, so Benedikt.
Redemptoris missio von 1987, mit der „die permanente Bedeutung des Missionsauftrags der Kirche hervorgehoben wird“.
Evangelium vitae von 1995, die „eines der grundlegenden Themen des gesamten Pontifikats von Johannes Paul II. entfaltet: die Unantastbarkeit der Würde des menschlichen Lebens vom ersten Augenblick der Empfängnis an“, so Benedikt.
Fides et ratio von 1998, die „eine neue Sichtweise im Verhältnis zwischen christlichem Glauben und philosophischer Vernunft bietet“.
„Veritatis splendor“ gegen pragmatische Moral ohne Gut und Böse
Diesen vier Enzykliken widmete Benedikt XVI. jeweils wenige Zeilen der Anmerkungen. Dann erwähnt er noch eine fünfte Enzyklika, der er im Gegensatz zu den anderen viel Raum widmet und damit die Gewichtung noch unterstreicht.
Es handelt sich um die Enzyklika Veritatis splendor über einige grundlegende Fragen der kirchlichen Morallehre von 1993. Die vielleicht am wenigsten beachtete Enzyklika Johannes Pauls II. wird von Benedikt XVI. der Kirche in ihrer aktuellen Lage als bedeutendste Hinterlassenschaft des polnischen Pontifikats entgegengehalten. „Die Enzyklika über Moralfragen brauchte lange Jahre der Reifung und bleibt von unveränderter Aktualität“, so Benedikt XVI.:
„Das Zweite Vaticanum wollte im Gegensatz zur damals vorherrschenden naturrechtlichen Ausrichtung der Moraltheologie, daß die katholische Morallehre, über Jesus und Seine Botschaft ein biblisches Fundament habe. Das wurde aber ansatzweise nur für kurze Zeit versucht. Dann setzte sich die Meinung durch, daß die Bibel keine eigene zu verkündende Moral habe, sondern nur auf moralische Modelle verweise, deren Gültigkeit von Fall zu Fall variiere. Die Moral sei eine Frage der Vernunft und nicht des Glaubens, sagte man. So verschwand einerseits die im naturrechtlichen Sinn verstandene Moral, ohne daß irgendeine christliche Vorstellung an ihre Stelle trat. Und da man weder eine metaphysische Grundlage noch eine christologische der Moral erkennen konnte, griff man auf pragmatische Lösungen zurück: auf eine Moral, die auf dem Grundsatz einer Güterabwägung beruht, bei der es nicht mehr das wirklich Böse und das wirklich Gute gibt, sondern nur mehr, das, was vom Blickpunkt der Effizienz besser oder schlechter ist. Die große Aufgabe, die Johannes Paul II. sich mit jener Enzyklika stellte, war erneut ein metaphysisches Fundament in der Anthropologie aufzuspüren und freizulegen und damit auch eine christliche Konkretisierung im neuen Menschenbild der Heiligen Schrift.“
Wegen dieser herausragenden Bedeutung von größter Tragweite empfiehlt Benedikt XVI. den Menschen von heute, diese Enzyklika wieder zu lesen, zu studieren und zu bedenken.
„Dominus Iesus“ und die unverzichtbaren Elemente des katholischen Glaubens
Die zweite Stelle betrifft die Erklärung Dominus Iesus über die Einzigartigkeit und Heilsuniversalität Jesu Christi und der Kirche von 2000. „Dominus Iesus faßt die unverzichtbaren Elemente des katholischen Glaubens zusammen“. Dominus Iesus war das am meisten kritisierte lehramtliche Dokument des polnischen Pontifikats und zwar außerhalb und innerhalb der Kirche. Und dennoch stellt es Benedikt XVI. zusammen mit Veritatis splendor als die beiden herausragenden und bedeutendsten Dokumente des Pontifikats von Johannes Paul II. heraus. Nicht nur das: er empfiehlt beide Dokument der heutigen Kirche als Richtschnur.
Um die Bedeutung von Dominus Iesus zu untergraben, wurde das Dokument von seinen Gegnern allein dem damaligen Glaubenspräfekten zugeschrieben. Das Gegenteil war der Fall. Benedikt XVI. betont in dem nun veröffentlichten Buch, daß zwischen ihm und Johannes Paul II. völlige Übereinstimmung geherrscht habe. Sowohl was den Inhalt als auch was den Zeitpunkt und die Notwendigkeit der Veröffentlichung anbelangte. Der emeritierte Papst schildert dazu bisher unbekannte Hintergründe:
“Wegen des Wirbels, der rund um Dominus Iesus enstanden war, sagte mir Johannes Paul II., daß er beim Angelus vorhabe, das Dokument unmißverständlich zu verteidigen.
Er bat mich, einen Text für den Angelus aufzusetzen, der sozusagen wasserdicht ist und keine andere Interpretation erlaube. Es sollte auf eindeutige Weise deutlich werden, daß er das Dokument ohne wenn und aber guthieß.
Ich bereitete daher eine kurze Ansprache vor, wollte dabei aber nicht zu forsch sein und versuchte mich mit Klarheit, aber ohne Härte auszudrücken. Nachdem er sie gelesen hatte, sagte der Papst zu mir: „Ist das wirklich ausreichend klar?“ Ich bejahte.
Wer die Theologen kennt, wird sich nicht darüber wundern, daß es dennoch solche gab, die danach behaupteten, der Papst habe sich vorsichtig von diesem Dokument distanziert.“
Wie unverdaulich die Erklärung Dominus Iesus für Teile der Kirche ist, zeigte im Februar 2010 eine Aussage von Kardinal Kasper. Am Rande einer Ökumenetagung des Pästlichen Rats für die Förderung der Einheit der Christen stellte ihm Radio Vatikan folgende Frage:
Radio Vatikan: „Sie haben in Ihrer Eröffnungsrede erklärt, daß mit der Veröffentlichung des Dokument ‚Dominus Iesus‘ gegenüber den Ökumenepartnern Fehler begangen wurden. Was meinten Sie damit?“
Kardinal Kasper: „Ich will nicht sagen, daß es doktrinelle Fehler gibt, da dieses Dokument die katholische Lehre widerspiegelt, aber daß es Probleme mit einigen Formulierungen gibt, die unseren Partnern nicht leicht zugänglich sind.“
Heute scheint Kardinal Kasper mehr Gewicht in der Kirche zu haben, als je zuvor. Benedikt XVI. formuliert an verschiedenen Stellen eine Gegenposition, öffentlich und nicht öffentlich. So verfaßte er, wie Kurienerzbischof Georg Gänswein in einem ZDF-Interview bekanntgab, eine vier Seiten umfassende Kritik am Interview von Papst Franziskus in der Jesuitenzeitschrift Civiltà Cattolica.
Das Urteil Benedikts XVI. übrigens zur Person Johannes Paul II. faßt in seinem Beitrag eine Stelle zusammen, in dem er seine Bewunderung für „den Mut“ äußert, „mit dem er seine Aufgabe in einer wirklichen schwierigen Zeit erfüllt. Johannes Paul II. erwartete keinen Applaus und schaute auch nicht besorgt um sich, wie seine Entscheidungen aufgenommen werden könnten. Er handelte aus seinem Glauben und seinen Überzeugungen heraus und war bereit, dafür auch Schläge zu erdulden“.
Schon vor Jahren prägte Joseph Ratzinger den Satz über die Ausübung des Papstamtes:
„Ein Papst, der heute nicht kritisiert würde, hätte in dieser Zeit seine Aufgabe verfehlt.“
Das Buch, in dem der neue Text von Benedikt XVI. erschienen ist:
„An der Seite von Johannes Paul II. Die Freunde und Mitarbeiter erzählen“, mit einem exklusiven Beitrag des emeritierten Papstes Benedikt XVI., hrsg. Von Wlodzimierz Redzioch, Edizioni Ares, Mailand, 2014, S. 236, Euro 15,90.
Text: Settimo Cielo/Giuseppe Nardi
Bild: CR/NBQ