(Rom) Der 11. Februar 2013 ist in die Geschichte eingegangen und zahlreiche Katholiken erinnern sich bewußt oder unbewußt mit einem gewissen Unbehagen an diesen Tag. Nicht wenige befällt beim Rückblick auf das vergangene Jahr der Eindruck, daß der Tag den Beginn einer Fehlentwicklung anzeigt. Jene Teile der Kirche, die vom Rücktritt Papst Benedikts XVI. freudig überrascht waren, sprechen seither davon, und durchaus zu recht, daß sich die Kirche bis dahin im „Belagerungszustand“ durch eine immer feindseligere Welt befand. Nun aber habe die Kirche diese „Bunkerstimmung“ überwunden und sei „offen“. Damit aber erliegen sie, so der bekannte katholische Historiker Roberto de Mattei, einem gefährlichen Denkfehler. Zuvor war die Kirche „belagert“. Was aber heißt „offen“? Ist die Kirche nun „offen“ für die Einnahme durch die Feinde? Der Historiker zieht mit dramatischer Denkschärfe eine kritische Bilanz der Ereignisse des zurückliegenden Jahres, die durch die Rücktrittankündigung Benedikts XVI. eingeleitet wurden.
2013–2014: Motus in fine velocior
von Roberto de Mattei
Der 11. Februar 2013 ist ein Datum, das inzwischen in die Geschichte eingegangen ist. An diesem Tag teilte Benedikt XVI. einer Versammlung erstaunter Kardinäle seine Entscheidung mit, auf das Pontifikat zu verzichten. Die Ankündigung wurde gemäß den von Kardinaldekan Angelo Sodano an den Papst gerichteten Worten „wie ein Blitz aus heiterem Himmel“ aufgenommen und das Bild eines Blitzes, der noch am selben Tag in den Petersdom einschlug, ging um die Welt.
Die Abdankung erfolgte am 28. Februar, doch zuvor gab Benedikt XVI. bekannt, als emeritierter Papst im Vatikan bleiben zu wollen. Dergleichen hatte es noch nie gegeben und war noch überraschender als der Verzicht auf das Pontifikat. Im Monat, der zwischen der Ankündigung der Abdankung und dem Konklave lag, das am 12. März begann, wurde die Wahl des neuen Papstes vorbereitet, auch wenn diese dann der Welt als unerwartet erschien. Mehr noch als die Identität des Gewählten, des Argentiniers Jorge Mario Bergoglio, erstaunte die präzedenzlose Wahl des von ihm gewählten Namens, Franziskus, fast so als wollte er ein Unicum verkörpern, und es erstaunte seine erste Rede, in der er sich nach einem kolloquialen „Buonasera“ [Guten Abend], als „Bischof von Rom“ präsentierte, mit einem Titel, der dem Papst zusteht, aber erst nach jenen des Stellvertreters Christi und des Nachfolgers Petri, welche die Voraussetzung für den anderen bilden.
Alles, was in der Kirche geschieht, kommt vom De-facto-Lehramt der Interviews von Papst Franziskus
Die Fotografie der beiden Päpste, die am 23. März in Castel Gandolfo miteinander beteten und das Bild einer neuen päpstlichen „Diarchie“ vermittelte, erhöhte die Verwirrung jener Tage. Doch das war erst der Anfang. Es folgte das Interview auf dem Rückflug von Rio de Janeiro vom 28. Juli 2013 mit den Worten „Wer bin ich, um über ihn zu richten!“, die seither verwendet werden, um jede Übertretung zu rechtfertigen. Es folgten die Interviews von Papst Franziskus mit dem Schriftleiter der Civiltà Cattolica im September und jenes mit dem Gründer der Tageszeitung La Repubblica im Oktober, die einen größeren medialen Widerhall fanden als seine erste Enzyklika Lumen fidei. Man sagte, daß es sich dabei nicht um Akte des Lehramtes handelte, doch alles, was seither in der Kirche geschieht, kommt vor allem von diesen Interviews her, die wenn nicht ohnehin grundsätzlich, dann zumindest de facto einen lehramtlichen Charakter hatten.
Papst-Vertrauter Maradiaga: Reicht Lehre nicht mehr aus für „zeitgemäße Antworten“?
Der Konflikt zwischen Kardinal Gerhard Ludwig Mülker, Präfekt der Glaubenskongregation und dem Erzbischof von Tegucigalpa, Kardinal Oscar Rodriguez Maradiaga, Koordinator der Berater für die Reformen von Papst Franziskus brachte die Verwirrung auf den Höhepunkt. Die überlieferte Lehre reicht laut Maradiaga nicht aus, um „zeitgemäße Antworten für die Welt von heute“ zu bieten. Sie werde beibehalten, aber es gibt „pastorale Herausforderungen“, auf die man nicht „mit Autoritarismus und Moralismus“ antworten könne, weil das, „keine Neuevangelisierung ist“.
Auf die Erklärungen von Kardinal Maradiaga folgten die Ergebnisse der Umfrage zur Familienpastoral, die vom Papst für die Bischofssynode vom 5.–19. Oktober 2014 in Gang gebracht wurde. Die Nachrichtenagentur SIR der Italienischen Bischofskonferenz veröffentlichte eine Zusammenfassung der ersten Antworten, die aus Mitteleuropa eingingen. Für die Bischöfe Belgiens, der Schweiz, Luxemburgs und Deutschlands ist der katholische Glauben zu streng und entspricht nicht den Bedürfnissen der Gläubigen. Die Kirche müsse das voreheliche Zusammenleben akzeptieren, Homo-Ehen und eingetragene Partnerschaften anerkennen, die Geburtenkontrolle und die künstliche Verhütung zulassen, Zweitehen Geschiedener segnen und ihnen den Sakramentenempfang erlauben.
Umfrage zur Familienpastoral: Weg in das Schisma und die Häresie
Wenn das der Weg ist, den man gehen will, dann ist der Zeitpunkt gekommen, zu sagen, daß es sich um einen Weg in das Schisma und die Häresie handelt, weil damit der göttliche und natürliche Glauben geleugnet würde, der in seinen Geboten nicht nur die Unauflöslichkeit der Ehe offenbart, sondern auch sexuelle Handlungen außerhalb derselben verbietet, erst recht solche, die wider die Natur begangen werden.
Die Kirche nimmt alle an, die ihre Irrtümer und Sünden bereuen und bereit sind, eine Situation moralischer Unordnung, in der sie sich befinden, zu überwinden, aber sie kann nicht, auf keine Weise, den Status des Sünders legitimieren. Da nützt es auch nichts, zu behaupten, die Veränderung würde nur die pastorale Praxis betreffen und nicht die Lehre. Wenn zwischen der Lehre und der Praxis keine Übereinstimmung herrscht, bedeutet das, daß die Praxis zur Lehre wird, wie es im übrigen leider seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil bereits der Fall ist.
Sterbender moderner Welt das Evangelium verkünden, statt ihren Kadaver umarmen
Die Kirche muß neue Antworten „auf der Höhe der Zeit“ geben? Ganz anders haben sich die großen Erneuerer in der Kirchengeschichte verhalten, wie der heilige Petrus Damiani und der heilige Gregor der Große, die im 11. Jahrhundert die Simonie und das Klerikerkonkubinat der Nikolaiten legitimieren sollten, um die Kirche nicht von der Realität ihrer Zeit abzukoppeln. Sie aber klagten diese Übel mit feurigen Worten an und leiteten eine Erneuerung der Sitten und eine Restauration der wahren Lehre ein.
Es ist dieser unnachgiebige und kompromißlose Geist der Heiligen, der heute auf so dramatische Weise fehlt. Es bräuchte dringend einer acies ordinata, einer in Kampfordnung aufgestellter Armee, die mit den Waffen des Evangeliums der sterbenden modernen Welt das Wort des Lebens verkündet, statt ihren Kadaver zu umarmen.
Jesuiten waren Kämpfer: heutige Kämpfer werden niedergeknüppelt
Die Jesuiten stellten zwischen dem Konzil von Trient und der Französischen Revolution der Kirche den Kern dieser Kämpfer. Heute erleiden sie den Verfall aller religiösen Orden und wenn unter diesen einer reichen Grund zur Hoffnung bietet, wird er aus unerklärlichen Gründen unterdrückt. Der Fall der Franziskaner der Immakulata, der ab Juli zum Ausbruch kam, brachte einen offensichtlichen Widerspruch zwischen den ständigen Aufforderungen von Papst Franziskus zur Barmherzigkeit und dem Knüppel, der Kommissar Fidenzio Volpi in die Hand gedrückt wurde, um eines der wenigen heute blühenden religiösen Institute zu vernichten.
Das Paradox endet nicht hier. Nie zuvor verzichtete die Kirche mehr auf eine ihrer göttlichen Eigenschaften, die Gerechtigkeit, als im ersten Jahr des Pontifikats von Papst Franziskus, um sich der Welt barmherzig und segnend zu präsentieren, aber nie mehr als in diesem Jahr war die Kirche das Ziel harter Angriffe durch die Welt, der sie die Hand entgegenstreckt.
Unmoralische Lobbys wollen Christen die Menschenrechte entziehen
Die Homo-Ehe, die von allen großen internationalen Organisationen und fast allen westlichen Regierungen gefordert wird, widerspricht frontal nicht nur dem Glauben der Kirche, sondern auch dem natürlichen und göttlichen Gesetz, das ins Herz eines jeden Menschen eingeschrieben ist. Was anderes ist die große Massenmobilisierung, die vor allem in Frankreich mit den Manif pour tous erfolgte, wenn nicht die Reaktion des Gewissens eines Volkes gegen eine ungerechte und widernatürliche Gesetzgebung? Aber die unmoralischen Lobbys begnügen sich nicht damit. Was sie drängt, ist nicht die Durchsetzung angeblicher Homo-Rechte, sondern die Leugnung der Menschenrechte der Christen.
Christianos esse non licet: der blasphemische Ruf von Kaiser Nero und Voltaire hallt heute in der Welt wider, während gleichzeitig Jorge Mario Bergoglio von den weltlichen Medien zum Mann des Jahres gekürt wird.
Am Ende einer Epoche beschleunigt sich das Tempo
Die Ereignisse erfolgen in einem immer schnelleren Tempo. Der lateinische Ausspruch motus in fine velocior wird allgemein verwendet, um das sich beschleunigende Tempo am Ende einer historischen Periode zu benennen. Die Multiplizierung der Ereignisse verkürzt den Lauf der Zeit, der an sich nicht existiert außer in den Dingen, die fließen. Die Zeit, sagt Aristoteles, ist der Maßstab der Bewegung (Physik IV, 219b). Genauer definieren wir sie als die Dauer der veränderlichen Dinge. Gott ist ewig gerade weil er unveränderlich ist: jede Bewegung hat in Ihm ihren Grund, aber nichts verändert sich in Ihm. Je mehr man sich von Gott entfernt, desto mehr nimmt das Chaos zu, das durch die Veränderung hervorgebracht wird.
Der Untergang einer Zivilisation und Fatima
Der 11. Februar zeigt den Beginn einer Beschleunigung der Zeit an, die Folge einer Bewegung ist, die schwindelerregend wird. Wir leben in einer historischen Stunde, die nicht notwendigerweise das Ende der Zeiten ist, aber mit Sicherheit der Untergang einer Zivilisation und das Ende einer Epoche im Leben der Kirche. Wenn am Ende dieser Epoche der katholische Klerus und die katholische Laienschaft nicht bis zur letzten Konsequenz ihre Verantwortung übernehmen, wird sich unentrinnbar das Schicksal erfüllen, das die Seherin von Fatima sich vor ihren Augen enthüllen sah:
„Und wir sahen in einem großartigen Licht, das Gott ist: ‚etwas, das aussieht wie Personen in einem Spiegel, wenn sie davor vorübergehen‘ und einen weißgekleideten Bischof – ‚wir hatten die Ahnung, dass es der Heilige Vater war‘. Wir sahen verschiedene andere Bischöfe, Priester, Ordensmänner und Ordensfrauen einen steilen Berg hinaufsteigen, auf dessen Gipfel sich ein großes Kreuz befand aus rohen Stämmen wie aus Korkeiche mit Rinde. Bevor er dort ankam, ging der Heilige Vater durch eine große Stadt, die halb zerstört war und halb zitternd mit wankendem Schritt, von Schmerz und Sorge gedrückt, betete er für die Seelen der Leichen, denen er auf seinem Weg begegnete. Am Berg angekommen, kniete er zu Füßen des großen Kreuzes nieder. Da wurde er von einer Gruppe von Soldaten getötet, die mit Feuerwaffen und Pfeilen auf ihn schossen. Genauso starben nach und nach die Bischöfe, Priester, Ordensleute und verschiedene weltliche Personen, Männer und Frauen unterschiedlicher Klassen und Positionen. Unter den beiden Armen des Kreuzes waren zwei Engel, ein jeder hatte eine Gießkanne aus Kristall in der Hand. Darin sammelten sie das Blut der Märtyrer auf und tränkten damit die Seelen, die sich Gott näherten.“
Die dramatische Schauung vom 13. Mai 1917 sollte mehr als ausreichend sein, um uns zum Nachdenken, Beten und Handeln zu drängen. Die Stadt liegt bereit in Ruinen und die feindlichen Soldaten stehen vor den Toren. Wer die Kirche liebt, verteidigt sie, um den Triumph des Unbefleckten Herzens Mariens zu beschleunigen.
Einleitung und Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Corrispondenza Romana