Protest auf ukrainischen Straßen nicht „pro-europäisch“, sondern verzweifelt


Ukraine, das nach Rußland flächenmäßig zweitgrößte Land Europas(Kiew) Die Bericht­erstat­tung west­li­cher Medi­en ver­mit­telt den Ein­druck, als gin­ge es bei den Pro­te­sten in der Ukrai­ne um einen Kampf zwi­schen Demo­kra­tie und Dik­ta­tur. In der EU besteht ein Inter­es­se, die­se Sicht­wei­se zu „rei­ten“, doch den Tat­sa­chen ent­spricht sie nicht. Wenn der ukrai­ni­sche Staats­prä­si­dent Wik­tor Janu­ko­witsch sich Ruß­lands Staats­prä­si­dent Wla­di­mir Putin annä­hert, dann nicht aus irgend­wel­chen abwe­gi­gen Grün­den, son­dern weil sein Land vor dem Bank­rott steht. Er braucht im Inter­es­se der Ukrai­ne drin­gend Geld, das Brüs­sel nicht bereit ist zu geben, Mos­kau hin­ge­gen schon.

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Die Ukrai­ne wird von Stra­ßen­pro­te­sten erschüt­tert. Dar­über berich­ten west­li­che Medi­en auf­fal­lend umfang­reich. Dahin­ter ste­hen die Inter­es­sen der EU. Auf den Plät­zen in Kiew ste­hen sich aber nicht Demo­kra­tie und Dik­ta­tur gegen­über. Es geht dar­um, das flä­chen­mä­ßig gigan­ti­sche ost­eu­ro­päi­sche Land in das Boot der EU und der NATO zu holen. Und es geht dar­um, die Ukrai­ne dem Ein­fluß Mos­kaus zu ent­zie­hen und der Ord­nung Brüs­sels und Washing­tons zu unterwerfen.

Ukraine steht vor dem Bankrott – Moskau ist bereit zu geben, was Brüssel nicht gibt

Obwohl im Westen so dar­ge­stellt, ste­hen die regie­rungs­feind­li­chen Pro­te­ste in der Ukrai­ne auch nicht dafür, daß die EU noch immer das attrak­tiv­ste poli­ti­sche Pro­jekt in Euro­pa ist. Die Pro­te­ste fin­den statt, weil die Aus­wir­kun­gen der Finanz­kri­se, die von skru­pel­lo­sen Geschäfts­ma­chern des Finanz­sek­tors aus­ge­löst wur­de, nach den süd­eu­ro­päi­schen Län­dern der euro­päi­schen Wäh­rungs­uni­on auch die ost­eu­ro­päi­schen Anrai­ner­staa­ten der EU erreicht hat.

Nur weni­ge der Kie­wer Demon­stran­ten sind über­zeug­te EU-Anhän­ger. Der Groß­teil rekru­tiert sich aus ukrai­ni­schen Natio­na­li­sten, die gegen die Ent­schei­dung von Staats­prä­si­dent Janu­ko­witsch pro­te­stie­ren, sich dem aus histo­ri­schen Grün­den feind­lich abge­lehn­ten Ruß­land, und aus Anhän­gern der ehe­ma­li­gen Mini­ster­prä­si­den­tin Julia Timo­schen­ko, die seit zwei­ein­halb Jah­ren in Haft sitzt. Das Zuge­ständ­nis Exil statt Gefäng­nis mit der Mög­lich­keit ins Aus­land zu gehen, war eine der Bedin­gun­gen der EU, um der Ukrai­ne einen Asso­zi­ie­rungs­ver­trag zu gewäh­ren. Die euro­päi­sche Gemein­schaft hat­te der Tür­kei 1963 die Asso­zi­ie­rung ohne Bedin­gun­gen gewährt, obwohl dort eine Mili­tär­dik­ta­tur herrsch­te, die sich an die Macht geputscht hat­te und die Gefäng­nis­se über­füllt waren mit Regime­geg­nern. Ein Umstand, der in der Ukrai­ne durch­aus bekannt ist und die Stim­mung zusätz­lich erhitzt hat.

EU behandelt Kiew als Bittsteller und legt Ukraine langen Forderungskatalog vor

Die EU läßt Kiew als Bitt­stel­ler nach Brüs­sel kom­men und prä­sen­tiert dem ost­eu­ro­päi­schen Land eine lan­ge Liste von Vor­lei­stun­gen, ein­schließ­lich einer wirt­schafts­po­li­ti­schen und weit­ge­hend auch gesell­schafts­po­li­ti­schen Selbst­auf­ga­be samt Abtre­tung von wich­ti­gen Sou­ve­rä­ni­täts­rech­ten. Die­sem For­de­rungs­ka­ta­log, um in den Genuß west­li­cher „Seg­nun­gen“ zu kom­men, ste­hen aber kei­ne kon­kre­ten Ange­bo­te gegen­über. Vor allem hat die EU nichts gebo­ten, um dem drän­gend­sten Pro­blem der Ukrai­ne Abhil­fe zu schaf­fen: Das Land am Dne­pr steht am Rand des Bank­rott und der Inter­na­tio­na­le Wäh­rungs­fonds (IWF) stellt für die Gewäh­rung eines drin­gend not­wen­di­gen 10 Mil­li­ar­den-Dol­lar Kre­dits dra­ko­ni­sche Bedin­gun­gen, die einer Sou­ve­rä­ni­täts­über­tra­gung an den IWF gleichkommen.

Finanzkrise setzt EU-Erweiterung ein Ende – Nicht unbedingt zum Nachteil der Nicht-EU-Staaten

Janu­ko­witsch, tra­di­tio­nell russ­land­freund­lich ein­ge­stellt, bemüh­te sich in den ver­gan­ge­nen Jah­ren ver­geb­lich dar­um, Mos­kau und Brüs­sel in Kiew an einen Tisch zu brin­gen. Schließ­lich trat er allein die Rei­se nach Mos­kau an, weil die Ukrai­ne nicht län­ger auf irgend­wel­che EU-Seg­nun­gen in fer­ner Zukunft war­ten kann, son­dern sofort einen Scheck braucht, den die EU nicht gewäh­ren will, Mos­kau aber schon und das ohne einen lan­gen und teils umstrit­te­nen For­de­rungs­ka­ta­log. Die EU kann sich die unein­ge­schränk­te Erwei­te­rung schlicht­weg nicht mehr lei­sten, die sie jah­re­lan­ge mit teils ver­ant­wor­tungs­lo­ser Leicht­fer­tig­keit betrie­ben hat. Die Finanz­kri­se zwingt die Poli­tik zur Mäßi­gung. Eine Mäßi­gung, die wirt­schafts­po­li­tisch für EU-Bewer­ber­staa­ten momen­tan nach­tei­lig sein mag, gesamt­po­li­tisch aller­dings nicht unbedingt.

Etwa drei Vier­tel der Ukrai­ner sind ortho­do­xe Chri­sten. Sie tei­len sich in einem inner­or­tho­do­xen Kon­flikt vor allem auf die Ukrai­nisch-Ortho­do­xe Kir­che des Kie­wer Patri­ar­chats, die mit Mos­kau ver­bun­de­ne Ukrai­nisch-Ortho­do­xe Kir­che des Mos­kau­er Patri­ar­chats und die Ukrai­ni­sche Auto­ke­pha­le Ortho­do­xe Kir­che auf. Etwa 12 Pro­zent der Ukrai­ner gehö­ren der seit 1593 mit Rom unier­ten Ukrai­ni­schen Grie­chisch-Katho­li­schen Kir­che an. Sie kon­zen­trie­ren sich vor allem im einst mit Polen in Per­so­nal­uni­on ste­hen­den, dann öster­rei­chi­schen Ost­ga­li­zi­en, der heu­ti­gen West-Ukraine.

Text: Giu­sep­pe Nardi
Bild: Wikicommons

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