(Vatikan) Die positiven Aspekte und schönen Formulierungen des neuen Apostolischen Schreibens „Evangelii Gaudium“ von Papst Franziskus sollen gewürdigt werden. Das tun aber bereits unkritisch die katholischen „Normalisten“ und deren Seiten im Internet. Die kirchenfernen Medien (etwa Der Spiegel und der ORF) jubeln wie gewohnt. Mit gutem Grund, wie der folgende Aufsatz nahelegt. Wir sehen daher mehr unsere Aufgabe, das zu beleuchten, was andere, aus welchem Beweggrund auch immer, ignorieren. Wir lassen dazu den katholischen Kulturkritiker Francesco Colafemmina zu Wort kommen, der sich die Mühe gemacht hat, das 185-Seiten-Dokument zu lesen. Nach Verwirrung um Interviews, die auch inhaltlich verwirrten, legte der Papst mit „Evangelii Gaudium“ sein Regierungsprogramm offiziell und als Teil des Lehramtes auf den Tisch. Bei der Lektüre komme jedoch keineswegs „gaudium“ auf. Grund zur Freude gebe es nicht. Papst Franziskus, so Colafemmina, sei ein Chaospapst und wie es scheint, der erste Relativist auf dem Papstthron. Seine Aufgabe sei es Tohuwabohu zu erzeugen. Sein Regierungsprogramm aber sei eine „Revolution“. Sie wolle die Zerstörung der Kirche, wie sie zweitausend Jahre Bestand hatte. Franziskus sehe sich lediglich als Papst, um das Papsttum seiner von Christus gestifteten Autorität zu entkleiden und zu minimieren. Ein Monarch, der seinen Thron verschenkt. Kein Akt der Demut, sondern der Zersetzung. Damit sei aber auch klar, was die Kardinäle wollten, denn die Revolution des Franziskus sei eine Revolution der Kardinäle, die ihn gewählt haben und eben diese Revolution gefordert haben und fördern, jedenfalls einer aktiven, organisierten Gruppe unter ihnen. Die Frage bleibt angesichts eines sprunghaften Hü und Hott des Papstes, was eigentlich gilt. Der Blitzeinschlag in die Kuppel des Petersdoms beim Rücktritt von Papst Benedikt XVI. kommt neun Monate später wieder in lebhafte Erinnerung.
.
Evangelisierung „außer Kontrolle“ – Roma delenda est
von Francesco Colafemmina
Einige „Perlen“ der Exhortatio von Papst Franziskus zum „evangelischen Chaos“. Wie Kiko Argüello [1]Gründer des Neokatechumenalen Weges, dessen liturgische Sonderwege Papst Benedikt XVI. einer noch nicht abgeschlossenen Überprüfung unterziehen ließ kurz nach seiner Wahl sagte, scheint der Papst eine Kirche zu wünschen, in der man ein „Tohuwabohu“ macht und in der es keine zentrale Autorität mehr gibt, die davon „abhält“. In der man an die Bischofskonferenzen auch Entscheidungen zur Glaubenslehre delegiert mit einem Papst, der zum Garanten des Ökumenismus reduziert ist, zu einem weisen Greis, der Ratschläge gibt. Vielleicht funktioniert sein System sogar.
Doch mit dieser Aktion des Papstes ist eine große Unbekannte verbunden, sie zerstört das Erscheinungsbild des Papsttums, jene hauchdünne von Christus gestiftete Beziehung zwischen dem Papst und seiner Kirche, wie wir sie kennen. Denn eines ist sicher, daß die „Welt“ diese „neue“, ganz andere Kirche als die vorherige, zu akzeptieren wird wissen und auch, wie sie sich ihr nähern kann. Bliebe noch zu verstehen, was dann aus der vorherigen Kirche, aus unserer Kirche wird. Wenn sie verschrottet wird, wird es schwierig werden, zu verstehen, welche Autorität es gibt und wer dann die Tochter sein wird, die ihre Mutter verleugnet. [2]der Autor meint Teilkirchen (Töchter der Kirche) und deren Verhältnis zu Rom, zur unverkürzten Glaubenswahrheit und kirchlichen Ordnung
Der Papst verlegt alles auf eine völlig unvorhersehbare und geistlich undefinierte Ebene, wo die Strukturen keine Bedeutung mehr haben und die Autorität auf ein Minimum reduziert sein wird. Eine Ebene, auf der die Bewahrung der Glaubenswahrheit und die Heilige Liturgie zu götzendienerischen Karikaturen eines Narzissmus und heuchlerischen Äußerlichkeiten reduziert sind. Eine Ebene, auf der das Zuhören und die Anerkennung des anderen und die dialektische Beziehung generell zum zentralen Angelpunkt der Evangelisierung aufsteigen.
Auf dramatische Weise – das heißt mit einer gewissen Theatralik – geht der Papst soweit, seine Vorrechte aufzugeben. Indem er seine eigene Autorität relativiert, ähnelt er auf diese Weise einem Monarchen, der seine Macht mit dem Zweck ausübt, um sie zu zerstören oder an andere zu verteilen. Der seine eigene Autorität nur mit dem Ziel anerkennt, sich ihrer zu entledigen. Das klingt alles schön und demütig, wenn diese Demut darin bestünde, nicht zu ändern, was man erhalten hat, nicht die Institution des Papsttums zu schwächen mit dem Ziel, es den angeblichen Notwendigkeiten der Zeit anzupassen. Das bedeutet das Papsttum relativieren und historisieren, und es bedeutet das Papsttum der vergangenen Jahrhunderte oder Jahre zu einer Art von nicht authentischem Verrat an der göttlichen Institution umzuinterpretieren. Es heißt, behaupten zu wollen, daß alles was auch bisher war, allein auf die Welt und deren Notwendigkeit hin geformt war. Und weil sich die Welt ändert, muß sich auch das Papsttum ändern.
Es ist interessant festzustellen, daß der Papst jede potentielle Kritik mit der Feststellung abtut, daß der wahre Christ ein fröhlicher Christ ist. Und hier scheint mir, bin ich ihm mit meinem Brief an die traurigen traditionsverbundenen Katholiken zuvorgekommen. Grundsätzlich aber gibt es nichts an dieser Revolution des Papstes, worüber man in Traurigkeit verfallen sollte, einer Revolution, die letztlich von den Kardinälen kommt, die ihn gewählt haben und die aktiv diese Revolution gefordert und vorangetrieben haben. Ebenso wenig gibt es irgendetwas, weshalb man deswegen sich freuen sollte. Ich schlage einen dritten Weg vor: jenen der stoischen Unbeirrtheit.
Auf jeden Fall – und hier sollte die Stimmung vom traurigen, fröhlichen oder unbeirrten, welche es auch sei, zum Ironischen oder sogar Komischen übergehen – denn nach der Lektüre des vollständigen Apostolischen Schreibens bleibt ein hamletischer Zweifel: Welches ist die Gute Nachricht, die wir Katholiken heute verkünden sollten? Wenn es darum geht, die christliche Botschaft zu einer Art von globaler Umarmung zu banalisieren, bin ich mir sicher, daß uns das gelingen wird. Man stellt nämlich in der päpstlichen Exhortatio mit Erstaunen fest, daß Worte wie „Sünde“ und „Bekehrung“ nicht im Zusammenhang mit einer evangelisierenden Dynamik gebraucht werden, sondern um eine Umwandlung, eine Palingenese (Neuschöpfung) der Kirche zu beschreiben. Worte und damit auch die Konzepte „Himmel“ und „Hölle“, „ewiges Leben“ und „Jenseits“ fehlen völlig. Ebenso erhält die Vorstellung einer Erlösung nur mehr eine abgefärbte „soziale“ Dimension.
Kurzum, noch mehr Widersprüche, noch mehr Verwirrung als die schon herrschende, zwischen ein paar Schritten vorwärts und ein paar Schritten rückwärts, zwischen Interviews, die gegeben und mehr oder weniger wieder zurückgezogen werden, zwischen ein paar Schlägen gegen alle Seiten, zwischen einem Zweiten Vatikanum nach Marchetto und einem Zweiten Vatikanum nach dem Motto „Schluß mit den Unglückspropheten“, eben kurzum, nach einer italienischen Redewendung, noch mehr Towuhabohu als so und man stirbt.
Zum Beleg der Knappheit wegen nur einige Auszüge aus dem Apostolischen Schreiben Evangelii Gaudium, die um weitere zu ergänzen wären:
16. Ich glaube auch nicht, dass man vom päpstlichen Lehramt eine endgültige oder vollständige Aussage zu allen Fragen erwarten muss, welche die Kirche und die Welt betreffen. Es ist nicht angebracht, dass der Papst die örtlichen Bischöfe in der Bewertung aller Problemkreise ersetzt, die in ihren Gebieten auftauchen. In diesem Sinn spüre ich die Notwendigkeit, in einer heilsamen „Dezentralisierung“ voranzuschreiten.
32. Da ich berufen bin, selbst zu leben, was ich von den anderen verlange, muss ich auch an eine Neuausrichtung des Papsttums denken. Meine Aufgabe als Bischof von Rom ist es, offen zu bleiben für die Vorschläge, die darauf ausgerichtet sind, dass eine Ausübung meines Amtes der Bedeutung, die Jesus Christus ihm geben wollte, treuer ist und mehr den gegenwärtigen Notwendigkeiten der Evangelisierung entspricht. […]
40. […] Außerdem gibt es innerhalb der Kirche unzählige Fragen, über die mit großer Freiheit geforscht und nachgedacht wird. Die verschiedenen Richtungen des philosophischen, theologischen und pastoralen Denkens können, wenn sie sich vom Geist in der gegenseitigen Achtung und Liebe in Einklang bringen lassen, zur Entfaltung der Kirche beitragen, weil sie helfen, den äußerst reichen Schatz des Wortes besser deutlich zu machen. Denjenigen, die sich eine monolithische, von allen ohne Nuancierungen verteidigte Lehre erträumen, mag das als Unvollkommenheit und Zersplitterung erscheinen. Doch in Wirklichkeit hilft diese Vielfalt, die verschiedenen Aspekte des unerschöpflichen Reichtums des Evangeliums besser zu zeigen und zu entwickeln.
47. […] Diese Überzeugungen haben auch pastorale Konsequenzen, und wir sind berufen, sie mit Besonnenheit und Wagemut in Betracht zu ziehen. Häufig verhalten wir uns wie Kontrolleure der Gnade und nicht wie ihre Förderer. Doch die Kirche ist keine Zollstation, sie ist das Vaterhaus, wo Platz ist für jeden mit seinem mühevollen Leben.
94. Diese Weltlichkeit kann besonders aus zwei zutiefst miteinander verbundenen Quellen gespeist werden. Die eine ist die Faszination des Gnostizismus, eines im Subjektivismus eingeschlossenen Glaubens, bei dem einzig eine bestimmte Erfahrung oder eine Reihe von Argumentationen und Kenntnissen interessiert, von denen man meint, sie könnten Trost und Licht bringen, wo aber das Subjekt letztlich in der Immanenz seiner eigenen Vernunft oder seiner Gefühle eingeschlossen bleibt. Die andere ist der selbstbezogene und prometheische Neu-Pelagianismus derer, die sich letztlich einzig auf die eigenen Kräfte verlassen und sich den anderen überlegen fühlen, weil sie bestimmte Normen einhalten oder weil sie einem gewissen katholischen Stil der Vergangenheit unerschütterlich treu sind. Es ist eine vermeintliche doktrinelle oder disziplinarische Sicherheit, die Anlass gibt zu einem narzisstischen und autoritären Elitebewusstsein, wo man, anstatt die anderen zu evangelisieren, sie analysiert und bewertet und, anstatt den Zugang zur Gnade zu erleichtern, die Energien im Kontrollieren verbraucht. In beiden Fällen existiert weder für Jesus Christus noch für die Menschen ein wirkliches Interesse. Es sind Erscheinungen eines anthropozentrischen Immanentismus. Es ist nicht vorstellbar, dass aus diesen schmälernden Formen von Christentum eine echte Evangelisierungsdynamik hervorgehen könnte.
95. Diese bedrohliche Weltlichkeit zeigt sich in vielen Verhaltensweisen, die scheinbar einander entgegengesetzt sind, aber denselben Anspruch erheben, „den Raum der Kirche zu beherrschen“. Bei einigen ist eine ostentative Pflege der Liturgie, der Lehre und des Ansehens der Kirche festzustellen, doch ohne dass ihnen die wirkliche Einsenkung des Evangeliums in das Gottesvolk und die konkreten Erfordernisse der Geschichte Sorgen bereiten. Auf diese Weise verwandelt sich das Leben der Kirche in ein Museumsstück oder in ein Eigentum einiger weniger. […]
96. […] Stattdessen unterhalten wir uns eitel und sprechen über „das, was man tun müsste“ – die Sünde des „man müsste tun“ – wie spirituelle Lehrer und Experten der Seelsorge, die einen Weg weisen, ihn selber aber nicht gehen. Wir pflegen unsere grenzenlose Fantasie und verlieren den Kontakt zu der durchlittenen Wirklichkeit unseres gläubigen Volkes.
280. […] Es gibt aber keine größere Freiheit, als sich vom Heiligen Geist tragen zu lassen, darauf zu verzichten, alles berechnen und kontrollieren zu wollen, und zu erlauben, dass er uns erleuchtet, uns führt, uns Orientierung gibt und uns treibt, wohin er will. Er weiß gut, was zu jeder Zeit und in jedem Moment notwendig ist. Das heißt, in geheimnisvoller Weise fruchtbar sein!
Einleitung/Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Fides et Forma
-
↑1 | Gründer des Neokatechumenalen Weges, dessen liturgische Sonderwege Papst Benedikt XVI. einer noch nicht abgeschlossenen Überprüfung unterziehen ließ |
---|---|
↑2 | der Autor meint Teilkirchen (Töchter der Kirche) und deren Verhältnis zu Rom, zur unverkürzten Glaubenswahrheit und kirchlichen Ordnung |