APOSTOLISCHES SCHREIBEN EVANGELII GAUDIUM
DES HEILIGEN VATERS
PAPST FRANZISKUS
AN DIE BISCHÖFE, AN DIE PRIESTER UND DIAKONE,
ANDIE PERSONEN GEWEIHTEN LEBENS UND AN DIE CHRISTGLÄUBIGEN LAIEN
ÜBER
DIE VERKÜNDIGUNG DES EVANGELIUMS IN DER WELT VON HEUTE
(Vatikan) Am 24. November promulgierte Papst Franziskus die Exhortatio Apostolica Evangelii Gaudium. Das Dokument ist kein Rechtsakt und ist unter einer Enzyklika als formalem Lehrschreiben. Es umfaßt 185 Seiten und eine Fülle von Themen, die sich einer schnellen Zusammenfassung entziehen. Die Annäherung an das Dokument muß daher schrittweise erfolgen. Wir wollen mit dem vernachlässigten Schrei der ungeborenen Kinder beginnen, denen in zahlreichen Ländern das Lebensrecht abgesprochen wurde. Der Kindermord der Herodianer ist ein Holocaust, der täglich fast gleich viel Opfer kostet wie weltweit alle natürlichen Todesfälle zusammen. Papst Franziskus zeigte bisher eine gewisse Renitenz, das Thema Abtreibung anzusprechen, das die vorherrschende linksliberale Meinung am liebsten tabuisieren würde. Im Interview mit der Civilità Cattolica kritisierte der Papst sogar aktive Lebensschützer und meinte, es sei schon „zu viel“ darüber geredet worden. In Evangelii Gaudium sind den „Schutzlostesten“ und „Unschuldigsten“ die Nummern 213 und 214 gewidmet.
Zunächst zur Nummer 213: Das Wort Abtreibung meidet der Papst zwar auch in diesem Dokument, erst recht ist nicht die Rede von Kindertötung oder Kindermord. Er spricht aber davon, daß man „ihnen das Leben nimmt“. Das Lebensrecht der Ungeborenen wird in den größeren Kontext gestellt und die Heiligkeit und Unantastbarkeit des Lebens verteidigt. Die deutlichste Aussage ist ein Zitat von Papst Johannes Paul II. aus dem Apostolischen Schreiben Christifideles laici von 1988, wonach die Abtreibung eine Verletzung der Menschenwürde ist, die nach Rache schreit und eine Beleidigung des Schöpfers ist. Es handelt sich damit um die bisher deutlichste Aussage von Papst Franziskus zum himmelschreienden Unrecht des Kindermordes.
In der Nummer 214 verwirft Papst Franziskus zunächst jede Forderung, die katholische Position zum Thema Lebensrecht zu ändern. Eine entscheidende Passage, nachdem ungelenke, zweideutige Aussagen, wie jene im genannten Interview Abtreibungsbefürworter bereits zum Jubel veranlaßt hatten. Der zweite Teil ist weniger glückvoll gelungen. Bei allem Verständnis für den pastoralen Aspekt gegenüber der betroffenen Frau: würde man Mördern und Totschlägern, die aufgrund einer schwierigen Situation oder großer Armut morden, mit ebensolchem „Verständnis“ begegnen? Mit gutem Grund nicht. Eine Situation mag ein Phänomen erklären, Verständnis ist dann aber doch etwas anderes.
Was fehlt ist der dramatische Aufschrei des Obersten Priesters vor Gott und die Forderung nach einem Ende der Abtreibung, nach einem gesetzlichen Abtreibungsverbot und einer gesetzlichen Verankerung des Lebensrechts für ungeborene Kinder. Die Vorstellung, daß alle abtreibenden Frauen aus purer Verzweiflung handeln würden, kommt einer romantisierenden Verklärung gleich, entspricht aber keineswegs immer der harten Realität. Die Frau als „Auftragsgeberin“ für die Kindestötung wird aus pastoralen Gründen geschont. Das mag ein angemessener Ansatz für Frauen sein, die abgetrieben haben. Die abschreckende Mahnung an Frauen, die von einem solchen fatalen Schritt noch abgehalten werden könnten, fehlt jedoch. Ebenso fehlt jedes Wort der Verurteilung an die Exekutoren der Kindestötungen, die Abtreibungsprofiteure, die Abtreibungslobbyisten, Mordpropagandisten, die mordenden Ärzte und Krankenpfleger, die sich mit Blutgeld bereichern. Wie gesagt, die stärkste Aussage dieses Kapitels stammt von Papst Johannes Paul II.
[Update] Ein Nachtrag zum Wort Schwangerschaftsabbruch: Im italienischen Originaldokument wird das Wort „Abtreibung“ gebraucht, erstmals in einer Aussage von Papst Franziskus. Die Stelle wird auch in den anderen Sprachen korrekt so wiedergegeben (italienisch aborto, englisch abortion, spanisch aborto). Nur in der deutschen Übersetzung wird das Wort Abtreibung gemieden und statt dessen „Schwangerschaftsabbruch“ gebraucht. Damit macht sich die deutsche Übersetzung eine Sprachregelung der Abtreibungsbefürworter zu eigen, denn der Ausdruck Schwangerschaftsabbruch lenkt die Aufmerksamkeit auf den Zustand der Frau, während der Begriff Abtreibung die Aufmerksamkeit auf das Kind lenkt, das getötet wird.
213. Unter diesen Schwachen, deren sich die Kirche mit Vorliebe annehmen will, sind auch die ungeborenen Kinder. Sie sind die Schutzlosesten und Unschuldigsten von allen, denen man heute die Menschenwürde absprechen will, um mit ihnen machen zu können, was man will, indem man ihnen das Leben nimmt und Gesetzgebungen fördert, die erreichen, dass niemand das verbieten kann. Um die Verteidigung des Lebens der Ungeborenen, die die Kirche unternimmt, leichthin ins Lächerliche zu ziehen, stellt man ihre Position häufig als etwas Ideologisches, Rückschrittliches, Konservatives dar. Und doch ist diese Verteidigung des ungeborenen Lebens eng mit der Verteidigung jedes beliebigen Menschenrechtes verbunden. Sie setzt die Überzeugung voraus, dass ein menschliches Wesen immer etwas Heiliges und Unantastbares ist, in jeder Situation und jeder Phase seiner Entwicklung. Es trägt seine Daseinsberechtigung in sich selbst und ist nie ein Mittel, um andere Schwierigkeiten zu lösen. Wenn diese Überzeugung hinfällig wird, bleiben keine festen und dauerhaften Grundlagen für die Verteidigung der Menschenrechte; diese wären dann immer den zufälligen Nützlichkeiten der jeweiligen Machthaber unterworfen. Dieser Grund allein genügt, um den unantastbaren Wert eines jeden Menschenlebens anzuerkennen. Wenn wir es aber auch vom Glauben her betrachten, dann „schreit jede Verletzung der Menschenwürde vor dem Angesicht Gottes nach Rache und ist Beleidigung des Schöpfers des Menschen“. (JOHANNES PAUL II., Nachsynodales Apostolisches Schreiben Christifideles laici (30. Dezember 1988), 37: AAS 81 (1989), 461.)
214. Gerade weil es eine Frage ist, die mit der inneren Kohärenz unserer Botschaft vom Wert der menschlichen Person zu tun hat, darf man nicht erwarten, dass die Kirche ihre Position zu dieser Frage ändert. Ich möchte diesbezüglich ganz ehrlich sein. Dies ist kein Argument, das mutmaßlichen Reformen oder „Modernisierungen“ unterworfen ist. Es ist nicht fortschrittlich, sich einzubilden, die Probleme zu lösen, indem man ein menschliches Leben vernichtet. Doch es trifft auch zu, dass wir wenig getan haben, um die Frauen angemessen zu begleiten, die sich in sehr schweren Situationen befinden, wo der Schwangerschaftsabbruch ihnen als eine schnelle Lösung ihrer tiefen Ängste erscheint, besonders, wenn das Leben, das in ihnen wächst, als Folge einer Gewalt oder im Kontext extremer Armut entstanden ist. Wer hätte kein Verständnis für diese so schmerzlichen Situationen?
Text: Giuseppe Nardi
Bild: evenifministries
JOHANNES PAUL II., Nachsynodales Apostolisches Schreiben Christifideles laici (30. Dezember 1988), 37: AAS 81 (1989), 461.