Auch unter Christen geht die Gefahr eines „anonymen Atheismus“ um – Hirtenbrief von Kardinal Scola


Angelo Kardinal Scola, Erzbischof von Mailand, Hirtenbrief veröffentlicht(Mai­land) In einem am Diens­tag ver­öf­fent­li­chen Hir­ten­brief unter­nimmt Mai­lands Erz­bi­schof Ange­lo Kar­di­nal Sco­la, der im ver­gan­ge­nen März als Favo­rit ins Kon­kla­ve hin­ein­ging, aus dem Kar­di­nal Berg­o­glio als Papst Fran­zis­kus her­aus­kam, den Ver­such, den Gleich­klang mit dem neu­en Pon­ti­fi­kat zu suchen. „Der Kar­di­nal rich­tet einen posi­ti­ven Blick auf die Welt und ver­zich­tet auf Ver­ur­tei­lun­gen und Kla­gen“, wie der Vati­ka­nist Andrea Tor­ni­el­li beton­te. Bemer­kens­wer­ter wäre das Gegen­teil gewe­sen. Der Hir­ten­brief ent­hält inter­es­san­te, teils beach­tens­wer­te Ansät­ze, den­noch bleibt ein Zwei­fel, ob die Ana­ly­se in ihrer Gesamt­heit geeig­net ist, die aktu­el­le Situa­ti­on zu erfas­sen. Daher blei­ben die ange­bo­te­nen Hilfs­mit­tel wage, mit denen auf die herr­schen­de Situa­ti­on Ant­wort gege­ben wer­den soll. Ob sie Abhil­fe schaf­fen kön­nen? Der Hir­ten­brief „Den nahen Gott ent­decken“ (Alla sco­per­ta del Dio vici­no) hat 64 Sei­ten und wur­de von der Erz­diö­ze­se Mai­land herausgegeben.

Realistische und daher kritische Einschätzung der Lage des Christentums in Europa

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Kar­di­nal Sco­la ver­zich­tet zwar nicht auf eine rea­li­sti­sche und daher durch­aus kri­ti­sche Ein­schät­zung der Lage des Chri­sten­tums in Euro­pa, das erlahmt und ohne zün­den­des Feu­er scheint. „Die sozia­le, poli­ti­sche und reli­giö­se Situa­ti­on Euro­pas zeigt die Fal­ten einer Mut­ter, die für Jahr­hun­der­te, zum Teil mit Arro­ganz, die Last einer zuneh­men­den Kom­ple­xi­tät der Geschich­te getra­gen hat. Die Chri­sten tra­gen selbst eine Mit­ver­ant­wor­tung dafür.“

Trotz eini­ger ermu­ti­gen­der Gegen­ten­den­zen „ist es not­wen­dig sich mit Ehr­lich­keit ein­zu­ge­ste­hen, daß es auch unter Chri­sten die Gefahr einer Art von ‚anony­mem Athe­is­mus‘ gibt, das heißt, prak­tisch so zu leben, als wür­de es Gott nicht geben“. Die­se Gefahr sei vor allem in der „mitt­le­ren Gene­ra­ti­on“ festzustellen.

Grundtenor ist ein positiver Blick auf die Welt

Der Grund­te­nor des Hir­ten­brie­fes ist jedoch ein posi­ti­ver Blick auf die Welt: die Welt als „Hand­lungs­feld Got­tes“. Grund­la­ge der Rea­li­tät sei „die gute Initia­ti­ve eines Ande­ren“. Des­halb, so Kar­di­nal Sco­la, in Anleh­nung an Papst Fran­zis­kus, müs­se man sich “von Gott über­ra­schen las­sen“. Die Welt habe eine unum­stöß­lich posi­ti­ve Dimen­si­on: „sie ist die Frucht der Gna­de“ von Got­tes Lie­be. Eine Lie­be, die „uns immer vor­aus­geht und durch kein Übel besiegt wer­den kann!“.

Hirtenbrief von Angelo Kardinal Scola: Die Entdeckung des nahen GottesAus­ge­hend vom Gleich­nis vom Wei­zen und vom Unkraut, lädt Kar­di­nal Sco­la die Chri­sten ein, anzu­er­ken­nen, daß die Ver­men­gung von Gut und Böse, des sich Öff­nens und sich Ver­schlie­ßens vor dem Plan des guten Got­tes „im Her­zen von uns allen gegen­wär­tig ist“ und daher nicht etwas sei, was nur die ande­ren ange­he. Bei der Unter­schei­dung zwi­schen Wei­zen und Unkraut „steht das Urteil über die Frei­heit der Men­schen nicht uns zu, son­dern dem Vater, der die Geschich­te der Welt lenkt“. Des­halb „steht es nicht uns zu, end­gül­ti­ge Urtei­le zu fäl­len“ und Ande­re, Fern­ste­hen­de „ohne Beru­fungs­mög­lich­keit zu ver­ur­tei­len“, denn „der Lebens­weg voll­endet sich erst am Ende und die Frei­heit kann sich immer eines Bes­se­ren besin­nen. Die Barm­her­zig­keit Got­tes ist gedul­dig und hört nie auf, die Ant­wort des Men­schen anzu­spor­nen“. Der Blick dür­fe daher nicht in erster Linie auf das Unkraut fixiert sein, auf das Böse, son­dern auf das Gute, ohne „Wege des Ver­ur­tei­lens, der Kla­ge und der Ent­rü­stung“ zu beschreiten.

Der Christ darf das Böse nicht „stillschweigend dulden“

Der Blick der Chri­sten müs­se gedul­dig sein: „Nicht naiv, nicht ire­nisch und noch weni­ger das Böse still­schwei­gend dul­dend, son­dern gedul­dig mit der glei­chen barm­her­zi­gen Geduld Got­tes. Eine Geduld, die wie bei Jesus fähig ist, zum Mit­ge­fühl zu wer­den. Es ist beein­druckend fest­zu­stel­len, wie vie­le Male im Evan­ge­li­um die Tat­sa­che fest­ge­hal­ten wird, daß der Sün­der sich nicht ent­fernt, son­dern sich Jesus annähert!“

“Der Men­schen­sohn sät den guten Samen auf dem Feld aus, das die Welt ist. Das bedeu­tet, daß der gan­ze Mensch und alle Men­schen Ansprech­part­ner Jesu sind“. Wie aber kön­ne ver­mit­telt wer­den, daß der Glau­ben ein für alle erreich­ba­res Geschenk ist? Wie kann das in vie­len vor­han­de­ne Miß­trau­en gegen den Glau­ben und die Kir­che über­wun­den werden?

Kar­di­nal Sco­la nennt drei Bereiche:

Den Bereich der Zunei­gung: „Die Men­schen wün­schen defi­ni­tiv geliebt zu wer­den, um defi­ni­tiv lie­ben zu kön­nen. Das Unglück der unzu­ver­läs­si­gen Zunei­gun­gen ver­seucht das Feld wie das Unkraut, auch wenn es ihnen nicht gelingt, den Wunsch nach der schö­nen Lie­be zu ersticken“

Den Bereich der Arbeit: Der Kar­di­nal teilt die Besorg­nis einer „dra­ma­ti­schen“ Arbeits­markt­la­ge und for­dert zu poli­ti­schen Ent­schei­dun­gen auf, die allen eine Beschäf­ti­gungs­per­spek­ti­ve geben und sich gegen unge­rech­te Aus­beu­tung und gegen viel­fach unkon­trol­lier­te Finanz­ge­schäf­te richten.

Dem der Frei­zeit: Ein Bereich, der „von Ver­su­chun­gen des Indi­vi­dua­lis­mus und der Grenz­über­schrei­tun­gen gefähr­det ist“.

Christen dürfen keine abgesonderten Gehege schaffen

Angelo Kardinal Scola, Erzbischof von Mailand, veröffentlichte am 8. September 2013 einen neuen HirtenbriefDie Chri­sten dür­fen kei­ne “abge­son­der­ten Gehe­ge“ schaf­fen, son­dern sich mit allen und über alles aus­ein­an­der­set­zen, wie Kar­di­nal Mar­ti­ni lehr­te. Die Auf­merk­sam­keit dür­fe aber „nicht auf unser ‚Tun‘ gerich­tet sein, son­dern auf den guten Samen, den der Sämann, Jesus, aus­ge­wor­fen hat. Zen­trum der Glau­bens­kri­se unse­rer Zeit ist häu­fig, daß das Bewußt­sein von der Unei­gen­nüt­zig­keit der Begeg­nung mit Chri­stus, der uns immer vor­an­geht und auf uns war­tet, ver­lo­ren­ge­gan­gen oder zumin­dest ver­blaßt ist“.

Kar­di­nal Sco­la betont im Hir­ten­brief „die Viel­falt in der Ein­heit“ des kirch­li­chen Lebens. Er ersucht die Prie­ster, ihre Amts­füh­rung „in demü­ti­ger Väter­lich­keit in der Beglei­tung der Gläu­bi­gen auf den Stra­ßen der Welt hin zu Begeg­nung mit unse­ren mensch­li­chen Geschwi­stern“ auszuüben.

Im Ein­klang mit dem, was Papst Fran­zis­kus im Vati­kan tut, ver­sucht der Kar­di­nal Über­le­gun­gen zur Reform der Mai­län­der Kurie anzu­stel­len, um die Ver­bin­dung zwi­schen den kuria­len Ämtern und „den Sub­jek­ten der kon­kre­ten pasto­ra­len Akti­on ins rich­ti­ge Gleich­ge­wicht zu bringen“.

„Dazu gehört auch die immer aktu­el­le Mah­nung, eine zu sehr um ihre Orga­ni­sa­ti­on besorg­te Kir­che zu ver­mei­den.“ Die Kuri­en­be­hör­den „sol­len ihren Appa­rat ver­klei­nern und dadurch einen effek­ti­ven, agi­len und effi­zi­en­ten Dienst für die kirch­li­che Gemein­schaft und zum Zeug­nis für die­ses Gebiet ver­wirk­li­chen“. Die ange­wand­ten Mit­tel müß­ten „immer den Zie­len unter­ge­ord­net und ver­hält­nis­mä­ßig“ sowie Ant­wort auf die Ein­la­dung zur evan­ge­li­schen Armut sein, die Papst Fran­zis­kus auf­ge­grif­fen habe.

„Wir müs­sen uns davor hüten, krea­ti­ve Min­der­hei­ten und Volks­ka­tho­li­zi­tät in Alter­na­ti­ve zuein­an­der zu set­zen. Das Ziel, auf das abzu­zie­len ist, kann nicht so sehr eine mini­ma­le, krea­ti­ve Prä­senz sein, son­dern muß es viel­mehr sein, ‚neue Krea­tu­ren‘ zu sein, indem alle Dimen­sio­nen des neu­en Men­schen ange­nom­men und ent­wickelt wer­den, ohne die Zukunft zu fürch­ten.“ In die­ser Per­spek­ti­ve sei­en „die neu­en Aus­rich­tun­gen der plu­ra­li­sti­schen Gesell­schaft nicht als Bedro­hung, son­dern mehr als Gele­gen­heit zu betrach­ten, das Evan­ge­li­um des Huma­nen zu verkünden“.

Text: Giu­sep­pe Nardi
Bild: Chies​adi​mila​no​.it

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