Der Jurist und Soziologe Massimo Introvigne, 2011 OSZE-Repräsentant gegen die Diskriminierung und Verfolgung von Christen, befaßt sich in einem Aufsatz für La Nuova Bussola Quotidiana, deren Mitherausgeber er ist, mit den Gerüchten einer wie auch immer gearteten Durchdringung der Kirche durch Logenmitgliedschaften von Kirchenvertretern.
von Massimo Introvigne
Vor einigen Jahren sagte ein wichtiger italienischer Kardinal, den ich auf einer Tagung traf, zu mir: „Wissen Sie es Professor? Ich habe soeben einen anonymen Umschlag mit einer Liste von freimaurerischen Katholiken erhalten, auch Ihr Name war dabei.“ Ich antwortete ihm völlig wahrheitsgetreu: „Was für ein seltsamer Zufall. Auch ich habe einen anonymen Umschlag erhalten, mit einer Liste von freimaurerischen Kardinälen. Sie waren auch dabei.“
Die Anekdote fiel mir wieder ein bei der Lektüre des soeben veröffentlichten Buchs „Freimaurerischer Vatikan. Logen, Geld und okkulte Mächte: Die geheime Seite der Kirche von Papst Franziskus“. Autoren sind Giacomo Galeazzi, Vatikanist der Tageszeitung La Stampa und guter Kenner vieler, vielleicht sogar zu vieler römischer Kreise, und Ferruccio Pinotti, ein Journalist, der vor allem wegen seiner militanten Feindschaft gegen das Opus Dei und Communione e Liberazione bekannt ist. Eine Feindschaft, die pünktlich auch im Buch wieder zum Vorschein kommt.
Ganz abgesehen von den Absichten der Autoren, ist das Buch in der Lage, wegen seiner Überdosis an Informationen, Schaden anzurichten und vor allem Verwirrung zu stiften. Die Auszüge aus Zeitungen, Dokumenten, Interviews sind so ineinandergefügt, daß der Leser nicht imstande ist, die Quellen auseinanderzuhalten und damit zu erkennen, welche seriös und gewichtig sind, welche weniger und welche einfach nur haltloses Geschwätz sind.
Großen Raum geben die Autoren führenden Vertretern der Freimauerei, aber auch übertriebenen Raum für den gesprächigen Chef des Demokratischen Großorients, einer relativ kleinen, „linken“ Oppositionsgruppe innerhalb der größten Freimaurerorganisation Italiens, der zu noch so heiklen Themen den Autoren mit einem Zitatenflickwerk aus notorisch kirchenunfreundlichen Zeitungen antwortet.
Sie nehmen sogar Leo Zagami, einen ob seiner unerschöpflichen Fähigkeit sich die phantastischsten Komplotte auszudenken, auch international bekannten Freimaurer ernst. Nicht nur das, sie nehmen sogar die alten, längst widerlegten Verleumdungen für bare Münze, daß Papst Franziskus angeblich in Verbrechen der argentinischen Militärdiktatur verwickelt sei.
Auch unter den Katholiken kommen sicher qualifizierte Stimmen zu Wort, wenn auch einige etwas unvorsichtig mit den Journalisten umgehen, wie der Bischof von Mazara del Vallo, Msgr. Domenico Mogavero, der die Gelegenheit nützt, um Benedikt XVI. für die Freigabe der überlieferten Messe zu kritisieren. Allerdings auch problematische Gestalten, wie der ehemalige Franziskaner Scozzaro. Und was soll man erst zu den anonymen Quellen sagen?
Da gibt es zum Beispiel ein langes Interview mit „einem hohen Vertreter des Jesuitenordens“, einen gewissen Pater R.T., der zum Thema Freimaurerei „die Klassifizierung von Professor Introvigne, der als einer der führenden Experten zur Freimaurerei gilt“, vorträgt. Meine Thesen müssen ihm jedenfalls gefallen, weil er aus meinen Schriften wörtliche ganze Seiten kopiert hat. Dann aber zitiert er, wie viele andere, einen „luziferischen“ Satz, der dem führenden amerikanischen Freimaurer Albert Pike (1809–1891) zugeschrieben wird. Der Satz lautet: „Ja, Luzifer ist Gott und unglücklicherweise ist auch YHWH [der Gott der Christen) Gott“. Obwohl sich dieser anonyme Jesuit als ein Leser meiner Schriften ausweist, weiß er nicht, daß dieser Pikes eine Fälschung ist, die der katholische französische Journalist Abel Clarin de la Rive (1855–1914) lieferte und die erstmals vom großen Provokateur und Dokumentenfälscher Leo Taxil (1854–1907) veröffentlicht wurde.
Der mit dem Thema nicht genau vertraute Leser läuft Gefahr, alle Angaben ernst zu nehmen, ohne zwischen seriösen Zeugen und jenen, die einen Hang zu überzogenen, ungeprüften oder erfindungsreichen Geschichten haben, zu unterscheiden. Schafft man etwas Ordnung, könnte man sagen, das Buch erzählt zwei Geschichten, die allerdings ineinander vermengt werden.
Die erste betrifft die Rolle der Freimaurerei in Italien, über die es seit Jahren zwei widersprüchliche Darstellungen gibt. Die Autoren versuchen sie, was nicht leicht ist, zusammenzuhalten. Die erste Darstellung entstand in der alten Kommunistischen Partei Italiens (1921–1991), die im Umfeld von deren Nachfolgeparteien und von linken Journalisten, Staatsanwälten und Richtern bis heute vertreten wird. Sie erzählt, daß die USA nach 1945 drei Kräfte ausfindig machten und finanzierten, um eine kommunistische Machtübernahme in Italien zu verhindern: die katholische Kirche mit der christdemokratischen Partei Democrazia Cristiana, die Freimaurerei und die organisierte Kriminalität, sprich die Mafia, und damit die Zusammenarbeit auch zwischen diesen förderten.
Die zweite Darstellung, die vor allem unter Katholiken verbreitet ist, sieht in der Freimaurerei vor allem eine Institution, die den Relativismus und dessen Früchte, wie Scheidung und Abtreibung durchsetzen will und dafür vor allem mit den “fortschrittlichen“ Kräften, einschließlich den Kommunisten zusammenarbeitet.
Diese zweite Darstellung ist ohne Zweifel zutreffend. Die erste, die meist mit Übertreibungen präsentiert wird, enthält einige Teilwahrheiten und das Buch rekonstruiert manchmal, aber nicht immer glaubwürdig Formen der Zusammenarbeit zwischen freimaurerischen Obedienzen, deren Verbindung zu den „großen“ Freimaurerbünden allerdings unklar ist, mit der Mafia und der ‚Ndrangheta, in die zum Teil mit Blick auf „gute Geschäfte“ auch vereinzelt katholische Politiker und sogar Priester verwickelt waren, die mit Sicherheit allerdings nicht „die Kirche“ vertreten. Das Buch reitet auf, zudem allgemein bekannten Angelegenheiten der IOR, der sogenannten „Vatikan-Bank“ herum, die in der Vergangenheit sicher mit waghalsigen und zum Teil undurchsichtigen Finanzvertretern zusammengearbeitet hat, von denen einige auch Freimaurer waren.
Der Heilige Stuhl ist sich der Notwendigkeit bewußt, Ordnung zu schaffen. In dem Schlußinterview, das sich durch seinen gesunden Menschenverstand auszeichnet, fordert Ettore Gotti Tedeschi, von 2009–2012 IOR-Präsident und damit direkt Betroffener, berechtigerweise dazu auf, zwischen Mißbrauch und der selbstverständlichen Notwendigkeit zu unterscheiden, daß die katholische Kirche mit ihren 1,2 Milliarden Gläubigen auf der ganzen Welt die Gelder, die für das Funktionieren der Diözesen, Missionen und Kirchen bestimmt sind, durch eine eigene Organisation verwaltet, die wiederum, wie es weltweit üblich ist, mit internationalen Finanzinstitutionen zusammenarbeitet, wo sie mit Sicherheit auch auf Freimaurer stößt.
Die zweite Geschichte, die das Buch erzählt, betrifft das Verhältnis zwischen der Freimaurerei und der katholischen Kirche. Es ist ein Verdienst des Buches, daß es im Gegensatz zu zweideutigen Aussagen vieler Freimaurer, aber auch einiger Kirchenvertreter, daran erinnert, daß laut geltendem Gesetz der Kirche, die in der Declaratio de associationibus massonicis (Erklärung zu den freimaurerischen Vereinigungen) der Glaubenskongregation von 1983, einen Tag vor Inkrafttreten des neuen Kirchenrechts, Katholiken die Mitgliedschaft in jedweder freimaurerischen Vereinigung verboten ist und weiter: „Die Gläubigen, die freimaurerischen Vereinigungen angehören, befinden sich also im Stand der schweren Sünde und können nicht die heilige Kommunion empfangen.“
Angesichts dieser eindeutigen Bestimmungen beschreibt das Buch zwei „alternative“ Wege. Der erste ist der von Priestern, die auf eine Aufhebung dieser Bestimmungen hinarbeiteten, ohne sie zu erreichen: teil aus Naivität wie Kardinal Silvio Oddi (1910–2001), der bereits hochbetagt und im Ruhestand veranlaßt wurde, mit dem Großmeister des Großorients von Italien eine entsprechende Bitte an den Papst zu unterschreiben, die im Buch abgedruckt ist; teils aber auch aus ideologischer Übereinstimmung zumindest mit einigen freimaurerischen Ideen, wie im Fall des Priesters der Gesellschaft vom hl. Apostel Paulus, Pater Rosario Esposito (1921–2009).
Der zweite Weg ist der von Kirchenvertretern, die ohne öffentlich eine Änderung der kirchlichen Position zur Freimaurerei zu verlangen, unter Verletzung des Kirchenrechts, einfach geheim Logenmitglieder werden.
Darüber spricht man nicht erst seit Jahren, sondern seit Jahrhunderten und bringt diesen oder jenen Bischof und Kardinal ins Spiel.
Das Buch sammelt alle erreichbaren Hinweise auf Priester, die Freimaurer waren oder sein könnten. Das Spektrum reicht von den einigermaßen lächerlichen Hinweisen des ehemaligen Ordensbruders Scozzaro, laut dem vom aktuellen Kardinalskollegium „mehr als 80“ der 120 Kardinäle Freimaurer seien, bis zum Großmeister der Regulären Großloge Italiens, einer kleineren Obedienz, die allerdings als einzige in Italien von der englischen Großloge, der Mutterloge aller Logen anerkannt ist, laut dem die Behauptung, daß es unter den Freimaurern Kardinäle gebe, eine „Großstadtlegende“ sei.
Das alte Problem der Listen von Bischöfen und Kardinälen, die angeblich Freimaurer seien, und die immer wieder da und dort auftauchen, drohen, und das ist auch der zentrale Schwachpunkt des Buches, in dem zu viele wahre, wahrscheinliche oder falsche Anekdoten dargeboten werden, das wirklich entscheidende Problem nicht sichtbar werden zu lassen.
Heute gibt es Computerprogramme, mit denen ein talentierter Techniker problemlos Mitgliedsausweise und Listen mit echt erscheinendem Briefkopf herstellen kann, mit denen es leicht ist, theoretisch jeden zu beschuldigen, ein Freimaurer zu sein, egal ob Bischöfe, Kardinäle oder sogar Päpste, wenn es sein muß. Das beraubt solche Listen grundsätzlich der Glaubwürdigkeit.
Die eigentliche Frage ist eine andere. Der entscheidende Kern der Freimaurerideologie ist der Relativismus, mit allen damit zusammenhängenden politischen Folgen, die häufig freimaurerische Obedienzen dazu führen, Gesetze zur Legalisierung der Abtreibung, der Euthanasie und der Homo-Verbindungen zu fördern. Wenn man also über einen katholischen Kirchenvertreter oder Politiker sagen hört, er ist Freimaurer, müßte die Frage lauten: Vertritt er relativistische Ideen? Ist er ein Abtreibungsbefürworter, spricht er sich für die Euthanasie oder die gesetzliche Anerkennung von Homo-Partnerschaften aus?
Lautet die Antwort „Ja“, dann ist er – laut der im Buch vom derzeitigen Großmeister des Großorients von Italien gebrauchten Definition – ein „Freimaurer ohne Schurz“, ein Weggefährte der Freimaurerei und die Frage, ob er über einen offiziellen Mitgliedsausweis verfügt oder nicht, ist dann nur mehr nebensächlich.
Wenn die Antwort „Nein“ ist, und der Kirchenvertreter oder der katholische Politiker sich offen dem Relativismus und dessen Folgen widersetzt, dann kann man mit gutem Grund schlußfolgern, daß die Vorwürfe verleumderisch sind.
Das wirkliche Problem sind nicht die Listen und die Mitgliedsausweise. Das Problem ist, um einen Ausdruck Benedikts XVI. zu gebrauchen, den Papst Franziskus in seiner Rede an das Diplomatische Corps am 22. März prompt wiederholte, die „Diktatur des Relativismus“. Und die meint, Listen hin, Listen her, die Diktatur des freimaurerischen Denkens in unserer Zeit.
Übersetzung: Giuseppe Nardi