(Rom) Das Phänomen der Sekten wird seit längerem vom Vatikan genau beobachtet. Während in manchen Teilen der Erde wegen Priestermangels, der Ausdruck eines Mangels an praktizierenden Katholiken ist, Pfarreien zusammengelegt und Kirchen geschlossen werden, wachsen gleichzeitig neue religiöse Bewegungen, die gemeinhin als christliche Sekten bezeichnet werden, aber auch solche, die mit dem Christentum nichts mehr zu tun haben.
Das Phänomen kann in Asien registriert werden, vor allem auf den Philippinen, in Afrika, ebenso in Amerika und Europa. Wie es im Vatikan heißt, ist das Phänomen auf den Mangel an Hirten zurückzuführen. Wo Tausende von Gläubigen ohne Priester sind, drängen andere „Heilsbringer“ in das Vakuum vor. Das geschehe umso leichter, wenn diese sich christlich geben. Die lateinamerikanischen Bischöfe sehen sich seit einigen Jahrzehnten einer solchen „Abwerbung“ von Gläubigen gegenüber. Ihre Antwort ist eine Art „permanenter Mission“.
Am Donnerstag fand zum Thema Neue religiöse Bewegungen eine Tagung im Domus Sanctae Martae, der Residenz von Papst Franziskus statt. Die Initiative ging vom Päpstlichen Rat für den Interreligiösen Dialog aus. Der Leiter des Dikasteriums, Jean-Louis Kardinal Tauran, dem es zufiel, der Welt im März die Wahl des neuen Papstes zu verkünden, eröffnete die Tagung. Der Sekretär des Päpstlichen Rats, der spanische Comboni-Missionar Pater Miguel Angel Ayuso Guixot hatte als Moderator die Tagungsleitung inne. Zweck der Veranstaltung, so Vatikansprecher Pater Federico Lombardi, sei es gewesen, einen „vertieften Gedankenaustausch“ zu einem Thema zu ermöglichen, „das Aufmerksamkeit verdient“.
Die Kirche befaßt sich schon länger mit dem Thema, wie ein 1986 vom 1964 von Papst Paul VI. errichteten Sekretariat für die Nichtchristen veröffentlichter Bericht belegt. Aus dem Sekretariat machte Papst Johannes Paul II. 1988 unter dem heutigen Namen einen Päpstlichen Rat und damit ein eigenes Dikasterium an der Römischen Kurie. Papst Benedikt XVI. löste ihn faktisch wieder auf, als er ihn 2006 in den Päpstlichen Kulturrat integrierte. Nach der Kritik an seiner historischen Regensburger Rede folgte am 1. September 2007 die Wiedererrichtung als eigenständiges „Ministerium“ unter der Leitung von Kardinal Tauran.
Der sogenannte „Zwischenbericht“ Sekten und neue religiöse Bewegungen. Eine Herausforderung für die Seelsorge von 1986 war in Zusammenarbeit mit der Kongregation für die Evangelisierung der Völker und den Sekretariaten für die Einheit der Christen und für die Nichtglaubenden und dem Päpstlichen Rat für die Kultur erarbeitet worden.
„Als Antwort auf die von Bischofskonferenzen in der ganzen Welt ausgedrückte Sorge“ führten die genannten Stellen der Römischen Kurie „eine Untersuchung über das Vorhandensein und die Tätigkeit von ‚Sekten‘, ‚neuen religiösen Bewegungen‘ und ‚Kulten‘ durch. Diese Dikasterien und das Staatssekretariat teilen diese Sorge seit langem.“
Das Dokument blieb jedoch weitgehend unbekannt. Grundlage war die Auswertung eines Fragebogens, der allen Bischofskonferenzen oder ähnlichen Gremien zugesandt wurde, um eine weltweite, systematische Erhebung der genannten Phänomene zu ermöglichen. Die Ergebnisse waren dann Gegenstand der weiteren Untersuchungen, die in dem allerdings nie in deutscher Sprache erschienenen Sammelband Sekten und neue religiöse Bewegungen: Texte der katholischen Kirche (1986–1994) zusammengefaßt wurden. 2003 folgte das Dokument Jesus Christus – Bringer des Wassers des Lebens. Eine christliche Betrachtung zum „New Age“. Auch für dieses Dokument gibt es leider keine offizielle deutsche Übersetzung. Eine solche veröffentlichte die Katholische Arbeitsstelle Neue religiöse Bewegungen der Schweizer Bischofskonferenz. 2004 folgte die Errichtung einer internationalen Beobachtungsstelle des Phänomens New Age.
Am 16. Mai nahmen an der Tagung rund 40 ausgewiesene Experten aus den verschiedenen Dikasterien, Päpstlichen Universitäten und Bischofskonferenzen teil. Entsprechend vielschichtig war die Ausleuchtung des Themas in einer 360-Grad-Perspektive. Kurienerzbischof Rino Fisichella, der Vorsitzende des Päpstlichen Rats für die Neuevangelisierung sprach über das Phänomen unter dem Aspekt der Neuevangelisierung. Pater Michael Fuß von der Gregoriana sprach über die neuen Grenzbereich des Sakralen zwischen Glauben und Aberglauben; Msgr. Juan Usma Gomez vom Päpstlichen Rat für die Förderung der Einheit der Christen stellte Vergleiche zwischen Katholiken und Pfingstlern an (Identität, Beziehungen, Perspektiven); Don Alessandro Olivieri Pennesi vom Vikariat Rom referierte über das Phänomen New Age, während Pater Michael Paul Gallagher SJ von der Gregoriana über New Age und neue religiöse Bewegungen (Analyse und kultureller Kontext) sprach.
„Der Neoprotestantismus greift den weichen Unterleib der katholischen Kirche an“, die ungeschützten Flanken, „die ohne Priester sind und hat der Kirche weltweit schon zwischen 200 und 300 Millionen Gläubige weggenommen“, diesen Alarmruf verfaßte im November 2012 ein Comboni-Missionar auf den Philippinen.
Umstritten ist in der Kirche die Koppelung der Sektenausbreitung und des Priestermangels. Priestermangel sei, wie die Geschichte zeige, immer auch Ausdruck fehlenden Glaubenseifers in den betroffenen Gemeinden. Da sei einmal das Phänomen der Entchristlichung in Europa, der einen Mangel an gläubigen Familien zum Ausdruck bringe. In Lateinamerika gebe es wie in Afrika wenn auch verschiedene, kulturelle Probleme, die ein Hindernis für Priesterberufungen seien. Dort sei das Problem aber vor allem das schnelle Wachstum der katholischen Gemeinden und die territoriale Ausdehnung der zu betreuenden Gebiete.
Das Vordringen von Pfingstlergruppen vor allem in Lateinamerika ist in der Kirche seit einigen Jahrzehnten bekannt. Eine wirkliche Antwort darauf wurde allerdings noch nicht gefunden. Man wird sehen, wie es nach der jüngsten Tagung weitergeht.
Text: Giuseppe Nardi
Bild: NMR