(Rom) Im Jahr des Glaubens, das Papst Benedikt XVI. als Abschluß der Trilogie über die Kardinaltugenden ausgerufen hat, wird mit zahlreichen Veröffentlichungen und Veranstaltungen auch des Zweiten Vatikanischen Konzils gedacht, das vor 50 Jahren eröffnet wurde.
Dazu führte Benedetta Cortese für Nuova Bussola Quotidiana ein Interview mit Professor Stefano Fontana, dem Direktor des International Observatory Cardinal Van Thuan for the Social Doctrine of the Church (Kardinal Van Thuan Beobachtungsstelle für die Soziallehre der Kirche). Von Fontana ist soeben das Buch Il Concilio restituito alla Chiesa (Das Konzil der Kirche zurückgegeben, Turin 2013) erschienen. Darin bemüht sich der Autor um eine „Wiederentdeckung“ des Konzils durch seine Interpretation als Teil der kirchlichen Tradition und aus der Tradition heraus.
Wir befinden uns mitten im Jahr des Zweiten Vatikanischen Konzils, das Benedikt XVI. gewissermaßen als Ergänzung zum Jahr des Glaubens wollte. Wie sehen Sie dessen Verlauf?
Mir scheint nicht, daß das Jahr des Konzils besonders hilft, das Konzil zu verstehen. Viele Veröffentlichungen legen einfach nur die bekannten Positionen neu auf, ohne irgendeinen Schritt vorwärts zu machen.
Die unterschiedlichen Realitäten der Kirche rufen je nach ihrer Position zum Zweiten Vatikanum diesen oder jenen Referenten zur Bestätigung einer bestimmten Meinung. Es ist dasselbe verhärtete Schema, das neu präsentiert wird. Ich habe mir mehr und besseres erwartet.
Benedikt XVI. hatte mit seiner berühmten Rede vom 22. Dezember 2005 die Grundlinie für eine richtige Hermeneutik des Konzils abgesteckt. Ist nichts davon geblieben?
Bereits damals haben die beiden konträren Hauptrichtungen die Rede des Papstes als Bestätigung ihrer jeweiligen Positionen interpretiert. Dann haben sie weitergemacht, als habe es die Rede des Papstes nie gegeben.
Das Gedenken an das Zweite Vatikanum geschieht oft mit Parolen und Schlagwörtern. Weiterhin greift ein irreales, nicht existentes Konzil, das sich inzwischen a priori kollektiv aufgedrängt hat. Eine Vulgata des Konzils, die nicht einmal im entferntesten die Probleme wahrnimmt, die hinter dem Konzil stehen.
Man würdigt das Konzil nicht, indem man es emphatisch verherrlicht, sondern indem man es anhand der von Benedikt XVI. und den anderen Päpsten vor ihm aufgezeigten Grundlinien versteht.
Sie haben ein Buch über das Konzil veröffentlicht. Mit welcher Absicht?
Mit der Intention das Konzil zu verstehen, oder anders gesagt, es an seinem Platz einzuordnen. Ohne diese Klärung kommt die Kirche nicht aus. So tun, als ob es das Problem nicht gäbe, bedeutet konkret, die Existenz von zwei Kirchen zu akzeptieren. Das Konzil ist ein Problem, dem man nicht ausweichen kann.
Ist das Konzil ein Problem oder die Nachkonzilszeit?
Die Umsetzung des Konzils war ein Problem, aber auch das Konzil selbst. Das bedeutet weder daß das Konzil nicht mit Autorität ausgestattet war noch daß es nicht Gehorsam verdient, geschweige denn, daß es Irrtümer enthalten würde oder ein „minderes“ Konzil wäre.
Worin besteht dann das Problem Konzil?
Es besteht in seiner pastoralen Natur. Es scheint paradox, aber es ist so. Die pastorale Natur des Konzils sollte die Lösung der Probleme sein, statt dessen ist sie das Problem geworden.
Inwiefern?
Ich zähle kurz nur einige problematische Knoten auf, die mit der pastoralen Natur des Zweiten Vatikanums verbunden sind. Waren die früheren Konzile nicht pastoral? Es waren dogmatische Konzile: Hat das Dogma aber nichts mit der Seelsorge zu tun? Ist ein reines Pastoralkonzil möglich, das nicht auch die Glaubensdoktrin überdenkt? Für Paul VI. stand fest, daß dem nicht so sein sollte. Also hat das Zweite Vatikanum auch die Glaubenslehre überdacht? War sie also auch ein dokrtinelles, wenn auch nicht ein dogmatisches Konzil? Welchen Wert hat die vom Zweiten Vatikanum festgelegte Lehre, da das Konzil selbst den Anspruch erhob, nur ein pastorales zu sein? Das Vatikanische Konzil wollte nicht die Glaubenslehre überdenken, sondern sich mit pastoralen Fragen befassen, doch die pastoralen Erfordernisse machten auch ein Überdenken der Doktrin notwendig und auf diese Weise hatte man plötzlich ein Pastoralkonzil, das die ganze Glaubenslehre überdachte, vielleicht mehr als frühere Konzile, die sich nur zu einzelnen Glaubenssätzen äußerten. Das sind nur einige Beispiele.
Benedikt XVI. sagte, daß das Konzil kein Superdogma ist. Doch als er zum Papst gewählt wurde, sagte er sofort, er wolle das Konzil umsetzen. Wie behandeln Sie diese Frage in Ihrem Buch?
Das Konzil ist oft ein Superdogma geworden. Ein weiteres Paradox: Ein Pastoralkonzil, das superdogmatisch wird. Es scheint, als wäre alles, was die Kirche vorher getan hat, falsch gewesen. Die Zelebration der Messe im überlieferten Ritus wurde als Haupthäresie betrachtet, doch genau so hatte die Kirche immer zelebriert. Der Katechismus von Pius X. wurde faktisch als häretisch betrachtet. Jeder, der das Lehramt bestritt und angriff, wurde plötzlich als „Vorläufer“ des Konzils kanonisiert. Wie kann man solche parteiischen und zwanghaften Interpretationen vermeiden? Indem man das Konzil umsetzt, wie Benedikt XVI. sagte. Um es aber umsetzen zu können, muß man seine wahre Realität verstehen. Ich sehe daher keinen Widerspruch zwischen den beiden Aussagen Benedikts XVI.
Sie sagen: das Konzil in seiner „wahren Realität verstehen“. Ihr Buch trägt den Titel „Das Konzil der Kirche zurückgeben“. Ist das damit gemeint?
Ja, so ist es. Die Welt hat sich oft des Konzils bemächtigt. Die Kirche muß es für sich zurückgewinnen und ihm in ihrer Tradition seinen Platz zuweisen. Dabei gilt es aber die Nominalismen zu überwinden. Alle erklären sich mit dieser Feststellung einverstanden, doch dann haben sie unterschiedliche Vorstellungen von der Tradition und damit beginnt das Mißverständnis wieder von vorne.
Welches sind die derzeit wichtigsten Thesen zur Tradition?
Ich würde sagen, jene von Ratzinger und jene von Rahner. Gemäß der ersten gibt es einen Kern unabänderlicher Wahrheiten, die im historischen Kontext der Tradition weitergegeben werden. Gemäß der zweiten ist die Interpretation und die Rezeption der Tradition integraler Teil der Botschaft selbst. Bei ersterer kommt der Primat der Glaubenslehre zu, bei zweiterer der Seelsorge.
Bedeutet das, daß das Zweite Vatikanum den Vorrang der Seelsorge vor der Glaubenslehre proklamiert hat?
Tatsächlich hat heute die Seelsorge soweit die Oberhand über die Doktrin gewonnen, daß sie sie in vielen Fällen verschwinden läßt. In einigen Kapiteln meines Buches beschreibe ich viele kirchliche Entscheidungen und Verhaltensweisen, die dies auf breiter Basis belegen. Das Problem ist, festzustellen, ob dieser pastorale Primat im Zweiten Vatikanum selbst enthalten ist oder dessen verzerrter Umsetzung zuzuschreiben ist.
Meine These, die ich im Buch darlege, lautet, daß es im Zweiten Vatikanum „Spalten“ gibt, durch die danach die Idee des pastoralen Primats in die Kirche eingedrungen ist. Nicht gewollte Spalten, aber eben Spalten. Es war weder die Absicht der Päpste noch der Konzilsväter, auch wenn man historisch nachweisen kann, daß einige Konzilsväter Formen des Modernismus in die Glaubenslehre der katholischen Kirche einführen wollten. Das ist aber nicht geschehen, wegen der doktrinellen und pastoralen Wachsamkeit der Päpste und durch den Beistand des Heiligen Geistes.
In den 60er Jahren behaupteten alle Theologien, die gerade in Mode waren, den Primat der Praxis vor der Theorie…
In der Tat so war es. Weder Johannes XXIII. noch Paul VI. wollten dies. Das Beharren auf der pastoralen Natur des Konzils eignete sich jedoch auch für solche Interpretationen.
Um ein Beispiel zu nennen: Gegenüber der Welt äußerte das Konzil auf ausdrückliche Vorgabe Johannes XXIII. mehr Anerkennung als Verurteilung. Die Theologien jener Zeit sagten, daß Christus die Welt liebt und nicht die Kirche. Damit annullierten sie die heilsnotwendige Mission der Kirche gegenüber der Welt. Die beiden Dinge sind unvereinbar, aber das Klima der 60er Jahre, die sogenannte „Öffnung zur Welt“ lieferte Spalten auch für diese verdrehten Interpretationen, die bis in unsere Tage bittere Früchte hervorbringen.
Wollte das Konzil, Ihrer Meinung nach, eine vollständige Lehre über das Verhältnis mit der Welt hervorbringen?
Ein weiteres Problem, dem sein Platz zuzuordnen und das der Kirche zurückgegeben werden muß. Das Konzil wollte nicht die gesamte katholische Glaubenslehre darlegen. Dafür gibt es den Katechismus. Das bedeutet zum Beispiel, daß Gaudium et spes nicht den Anspruch erhob, die gesamte Lehre über das Verhältnis Kirche-Welt darzulegen.
In der Pastoralkonstitution wird nichts über den Kommunismus gesagt. Ist es möglich, lehrmäßig umfassend das Verhältnis zur modernen Welt darzulegen, ohne über den Kommunismus zu reden? Die Entscheidung hatte pastorale Gründe. Sie zog jedoch lehrmäßige Konsequenzen nach sich. Wer aber auf dieser Grundlage den Schluß zieht, daß der Kommunismus für die Kirche kein Problem mehr ist, nur weil das Konzil nicht über ihn sprach, der würde die Dinge eindeutig mißverstehen. Das wäre als würde man behaupten, der Teufel sei für die Kirche kein Problem mehr, nur weil das Zweite Vatikanum nichts darüber sagt. Darüber spricht aber der Katechismus.
Es ist ausgesprochen schädlich zu behaupten, das Zweite Vatikanum habe den Willen gehabt, in toto den Glauben der Kirche darzustellen. Das hieße das Konzil zu einem Superdogma zu stilisieren, das sogar noch über dem Katechismus und über der apostolischen Tradition steht.
Es ist aber auch sinnlos zu leugnen, daß das nicht versucht wurde und daß es weiterhin versucht wird.
In Ihrem Buch behandeln Sie ausführlich das Problem der Sprache der Dokumente des Zweiten Vatikanums. Können Sie uns etwas dazu sagen?
Das Zweite Vatikanum war kein dogmatisches Konzil, deshalb gebrauchte es nicht die für Konzile übliche definierende Sprache, sondern eine Sprache, die manche als narrativ bezeichnen. Aus diesem Grund ist es häufig schwer, seine Lehren mit Sicherheit zu verstehen. Den Satz eines Dokuments muß man zwingend mit anderen Sätzen desselben Dokuments verknüpfen und häufig muß man das Bild durch Verweise auf andere Konzilsdokumente vervollständigen. Häufig gewinnt man nicht einmal dadurch einen Überblick über das behandelte Argument. Tatsache ist, daß das Lehramt im nachhinein viele Dinge präzisiert hat. Wenn alles klar gewesen wäre, hätte keine Notwendigkeit dafür bestanden.
Zum Beispiel der berühmte erste Satz von Gaudium et spes, der immer von allen zitiert wird, auch von jenen, die vom Konzil nie etwas anderes gelesen haben, vermittelt keine präzise theologische Aussage. Er muß durch andere Sätze des Dokuments und anderer Dokumente erst ergänzt und vervollständigt werden, um als Aussage gelten zu können. Häufig wird aber das Konzil effektheischend mit aus dem Zusammenhang gerissenen Sätzen zitiert, bleibt man bei diesen stehen und macht daraus eine Glaubensdefinition.
Benedikit XVI. wurde als Antikonziliarist bezeichnet. Was denken Sie darüber?
Die Päpste sind weder Konziliaristen noch Antikonziliaristen, oder anders ausgedrückt, weder dogmatisieren sie das Konzil, indem sie es über den von den Aposteln gelehrten Glauben stellen noch liquidieren sie es als einen Betriebsunfall. Das Konzil ist in die Tradition der Kirche, aus der allein es Licht empfängt, an dem ihm zustehenden Platz einzureihen.
Was ist also zu tun?
Die zu leistende Arbeit ist langwierig. Benedikt XVI. hat die Richtung vorgegeben. Man muß über das Konzil reden, aber nicht indem man von den eigenen chronischen ideologischen Positionen oder vorgefertigten, einstudierten Schlagwörtern ausgeht.
Benedikt XVI. hat einen Weg aufgezeigt: eine Bewegung von unten, die unter der Leitung des Papstes das Konzil wiederentdeckt als Teil der Tradition der Kirche und aus dieser heraus interpretiert und nicht im Widerspruch zu ihr. Eine Wiederentdeckung nicht im Zeichen des Bruchs, sondern der Erneuerung in der Kontinuität, langsam fortschreitend durch Vertiefung und immer bewußter, wie sie die gesamte Kirchengeschichte auszeichnet. Ich hoffe, daß auch mein Buch dazu beitragen kann.
Das International Observatory Cardinal Van Thuan for the Social Doctrine of the Church ist nach dem vietnamesischen Kardinal Van Thuan benannt, der von 1998 bis 2001 Vorsitzender des Päpstlichen Rats für Gerechtigkeit und Frieden war. Von 1975 bis 1988 war der katholische Bischof dreizehn Jahre in kommunistischen Konzentrationslagern inhaftiert. Direktor des Instituts ist Professor Stefano Fontana, Vorsitzender ist Erzbischof Giampaolo Crepaldi von Triest. Der Sitz der Beobachtungs- und Dokumentationsstelle befindet sich in der norditalienischen Stadt Verona.
Text: NBQ/Giuseppe Nardi
Bild: Nuoba Bussola Quotidiana