(Mailand) 2013 gedenkt die katholische Kirche des Toleranzedikts von Mailand, das im Jahr 313 nach Christus Kaiser Konstantin der Große für den Westen und Kaiser Licinius für den Osten des Römischen Reiches gewährten. Ein Edikt „zum Wohle aller“, mit dem „sowohl den Christen als auch allen Menschen freie Vollmacht“ gewährt wurde, „ihre Religion zu wählen“, wie die beiden Kaiser damals schrieben. Das Edikt ist die Geburtsstunde der Religionsfreiheit, die dem Christentum erstmals das Recht der freien Glaubensausübung einräumte. Es gilt als Grundrecht aller Grundrechte, das an erster Stelle der Menschenrechte steht.
Angelo Kardinal Scola, Erzbischof von Mailand und stimmenmäßig die Alternative zu Jorge Mario Kardinal Bergoglio im Konklave, veröffentlichte zum 1700. Gedenktag der Unterzeichnung des Edikts ein Buch (Vergessen wir Gott nicht. Freiheit des Glaubens, der Kultur und der Politik, Rizzoli) zum Grundrecht der Religionsfreiheit und zu den Angriffen des modernen Staates gegen dieses Grundrecht.
Der moderne Staat verletzt das Grundrecht Religionsfreiheit und bedroht damit jede Ordnung
Mit den Wunden, die der Staat heute der Religionsfreiheit zufügt, die an der Spitze aller Menschenrechte das wichtigste und erste Grundrecht darstellt, riskiert er alles zum Einsturz zu bringen, so der Nachfolger auf dem Bischofsstuhl des Kirchenvaters Ambrosius. Bereits am 7. Dezember 2012, dem Gedenktag des heiligen Ambrosius und Stadtpatrons hatte der Kardinal in einer ausführlichen Rede an die Einwohnerschaft der Stadt Mailand daran erinnert, daß Ambrosius, bevor er Bischof wurde, ein Mann des Staates und Regierung war.
Der Anlaß stellt einen Markstein der Weltgeschichte dar. Die Wende des Jahres 313 droht jedoch durch Gleichgültigkeit aus dem Gedächtnis zu entschwinden und durch eine dadurch möglich werdende dialektische Uminterpretation zu einem „verpaßten Anfang“ verkehrt zu werden.
Fehlentwicklung des demokratisch-liberalen Staates garantiert keine Freiheit mehr
Der Staat, der unter dem Deckmantel der Neutralität den Relativismus zur Staatsdoktrin erhebt und völlige Handlungsfreiheit für sich als öffentliche Einrichtung einfordert, wird selbst zur größten Bedrohung der Glaubensfreiheit, so Kardinal Scola. Die Kritik Scolas findet ihren Höhepunkt, wenn er zum Schluß kommt, daß der demokratisch-liberale Staat durch die Entwicklung hin zu dem, was er heute im Westen weitgehend ist, die Wende des Edikts von Mailand versenkt und im Namen der Freiheit überhaupt keine Freiheit mehr garantiert.
Die theoretische Grundlage dieser Fehlentwicklung bildet, so Scola, das französische Modell der laicité, die ihrerseits wiederum auf der Idee der Indifferenz gründet, die als Neutralität des Staates gegenüber der Religion definiert wird.
Theoretischer Anspruch staatlicher Neutralität und Praxis klaffen gefährlich auseinander
Soweit die Theorie. Die Praxis dieser Theorie sieht jedoch ganz anders aus. Die Ergebnisse sind vielmehr das genaue Gegenteil der behaupteten „Gleichgültigkeit“. Statt neutral und einer wirklich „gleich gültigen“ Haltung begegnet der Staat dem „religiösen Phänomen mit Abneigung“, so Scola. Und das ziehe gefährliche Folgen nach sich. Der Kardinal nennt als Beispiel die USA, wo die Gesundheitsreform Obamas, die alle, unterschiedslos, zur Anerkennung, zur Finanzierung und zur Förderung der Abtreibung, der Sterilisierung und der Verbreitung von künstlichen Verhütungsmitteln zwingen will, in Wirklichkeit nichts anderes als „eine Verletzung der Religionsfreiheit“ ist.
Eine emblematische Entwicklung, die offenlegt, daß der Konflikt in unseren Gesellschaften heute nicht so sehr der zwischen Gläubigen verschiedener Religionen ist, sondern vor allem zwischen „der laizistischen Kultur und dem religiösen Phänomen“, so Scola. Durch das Verkennen elementarer Aspekte des Menschseins, „hat die berechtigte Akonfessionalität des Staates dazu geführt, daß unter Vortäuschung von ‚Neutralität‘ der Staat zum Verfechter einer laizistischen Weltsicht ohne Gott geworden ist“.
„Gefährliche“ Situation durch Anerkennung von Vorrangigkeit der Religionsfreiheit überwinden
Wie kann „diese schwerwiegende Situation“ überwunden werden? Kardinal Scola wirft als Denkanstoß die Idee eines Staates ein, der seine weltanschauliche Neutralität ernst nimmt und nicht als antireligiöse Ideologie ins Gegenteil verkehrt. Ein Staat, der die Religionsfreiheit als „verwirklichte Freiheit auf die oberste Stufe der Grundrechteskala setzt“. In diesem Sinn sei wiederzuentdecken, was das Edikt von Mailand vor 1700 Jahren eingeleitet und begonnen hat.
„Das Edikt von 313 ist von epochaler Bedeutung, weil es das Initium libertatis des modernen Menschen symbolisiert“, zitiert Kardinal Scola den verstorbenen katholischen Juristen und Intellektuellen Gabrio Lombardi (1913–1994). Diese Bedeutung muß, so der Kardinal, auch die Kirche wiederentdecken. Vom Bischofsstuhl großer Gestalten der Kirche, des heiligen Ambrosius, des heiligen Karl Borromäus, von Achille Kardinal Ratti, dem nachmaligen Papst Pius XI., und auch von Carlo Maria Kardinal Martini, der von hier aus zum Dialog mit den Ungläubigen aufrief, fordert nun Angelo Kardinal Scola die Katholiken auf, nach Jahrzehnten von Protest und Widerspruch, „die das Ende jeder Form von öffentlicher Sichtbarkeit der Katholizität behaupteten, die Bedeutung und Notwendigkeit der öffentlichen Dimension des Glaubens zu bezeugen“.
Text: Giuseppe Nardi
Bild: UCCR