Kleine Erweiterung von Klaus Obenauer
Jüngst habe ich auf diesem Forum ein erstaunlich rege diskutiertes „Votum“ abgegeben, nämlich in Sachen „Brief von Erzbischof Di Noia“. – Mir ist klar, daß dies ein Risiko bedeutet. Gerade mit Blick auf jene, die als Priester der FSSPX oder als von ihnen pastorierte Laien betroffen sind und sich mit meiner Sicht der Dinge so gar nicht anfreunden können, möchte ich nochmals herausstellen: Als jemand, der sich nicht unerheblich (mit persönlichen Risiken) in den Diskurs eingebracht hat, wollte ich eben mein Votum abgeben (und sah mich in der Pflicht dazu). Ich möchte damit die Meinungsbildung diskret begleiten, aber nicht aufdringlich Einfluß nehmen, wie ich die „Autonomie“ der Mitglieder und Anhänger der FSSPX respektiere, nämlich als jener, die über ihre Zukunft in der Kirche gemäß dem Urteil ihres Gewissens entscheiden. Dies gilt um so mehr, als der Brief ja exklusiv an die FSSPX gewandt war, um eigentlich dort „in camera caritatis“ diskutiert zu werden.
Aber an dem Faktum, daß dieser Brief durch Indiskretion zum „publicum politicum“ geworden ist, ist jetzt nichts mehr zu ändern. Und so möchte ich die Gelegenheit nutzen, die insgesamt doch sehr knapp geratenen Ausführungen meines Votums von letzter Woche etwas zu vertiefen und zu ergänzen. Dies, wie gesagt, nicht um indiskret meine Position aufzudrängen, sondern um für meine Sicht zu werben.
Es ist durchgesickert, daß der Papst nicht unmaßgeblich an diesem Brief beteiligt sein, ja moralisch der eigentlich Engagierte sein soll, ohne sich als solcher zu erkennen zu geben. Ich setze wie schon in meinem Votum diese Unterstellung voraus. Überdies gehe ich davon aus, daß dem Papst auch daran gelegen ist, als moralische Hauptperson identifiziert zu werden, die sich freilich mit Bedacht damit zurückhält, in Erscheinung zu treten. – Von daher möchte ich zum ersten noch einen Hinweis zur rechten Rezeption und Interpretation des Briefes geben. Wer mit der Theologie des Joseph Ratzinger, der jetzt Papst Benedikt ist, einigermaßen vertraut ist, der weiß, daß (in Anlehnung an H.U. von Balthasar) das Motiv jenes Gottes, der in Christus seine Macht in der Ohnmacht der Liebe erweist, eine große Rolle bei ihm spielt. Es geht hier nicht darum, wie sympathisch dem einen oder der anderen diese Theologie ist (die ihm oder ihr vielleicht nach zu viel „Dialektik“ anmutet). Vielmehr: Man sollte davon ausgehen, daß jemand, der so ehrlich wie Joseph Ratzinger von diesem Gedanken durchdrungen ist, sich in der Pflicht weiß, als Papst und somit Stellvertreter Christi in dessen Nachfolge seine potestas nicht in Gestalt der Präpotenz auszuüben, sondern im Entgegenkommen bis zum äußersten. Und so hat dieser Brief schon etwas sehr Kenotisches: Wenngleich darin so manche Vorhaltungen an die Adresse der FSSPX gerichtet werden, so machen sich darin doch (in genere gesprochen) die römischen „Amtsträger“ (und im Hintergrund eben der Papst selber) in schier atemberaubender Weise zur Partei (soweit es eben möglich ist), sie nehmen sich mit ins Boot, wissen die kritischen Worte über den nicht-/brüderlichen Umgang miteinander auch an sich selber gerichtet. – Dies will dann aber auch heißen: Der Papst ist in seiner ihm eigenen demütigen Ausübung seiner potestas bis zum äußersten gegangen. Von daher warne ich davor, und dies mit Bestimmtheit, das Verhalten des Papstes als taktisches Rückzugsgefecht zu mißdeuten, so im Sinne: „wenn wir ihn noch länger hinhalten, schlagen wir da noch viel mehr raus“. Diese Rechnung wird nicht aufgehen. Dessen sei man versichert!
Und von meinem geistlichen Empfinden her möchte ich sagen: Der Schluß, daß jetzt zuzugreifen sei, drängt sich auf im Sinne eines „illative sense“; der auf der Ebene des geistlichen Urteilens mit dem donum consilii zu tun hat. Wenn der Papst (über seinen Mittelsmann) einerseits, so wie ich es zu entschlüsseln gesucht habe, dem Diskurs in doch so überraschender Weise Platz einräumt, um andererseits deutliche Restriktionen, die einem prima facie nicht so sympathisch erscheinen mögen, zu markieren: dann ist dieses Bündel so anzunehmen. In ersterem drückt sich das ehrliche Entgegenkommen aus, in letzterem die Entschiedenheit des Lehramts, das Grenzen setzt. Und offensichtlich je länger, desto entschiedener. Von daher liegt kein Rückzugsgefecht vor; vielmehr drängt sich das Bild der Intervallschachtelung auf.
Was heißt diese Entschiedenheit des Lehramts, die es zu respektieren gilt, wenn deshalb dennoch nicht sämtliche Konzilsaussagen, zumal mit allen Details und gerade mit Blick auf die umstrittenen Partien, als Dogma zu gelten haben (ansonsten das Zugeständnis der Diskussion im wohlbegrenzten Rahmen gegenstandslos wäre)? Ich wage zu interpretieren: Kritik an der Lehre des Zweiten Vatikanums ist prinzipiell möglich, unter Umständen die zentrale Lehre einer ganzen Verlautbarung betreffend (wie gerade bei „Dignitatis humanae“). Jedoch nimmt das höchste Lehramt für sich nicht nur generell, sondern noch einmal eigens in bezug auf dieses Konzil (und das ihm folgende Lehramt) entschieden in Anspruch, nicht nur keine eigentlichen Glaubensirrtümer vorgetragen zu haben (was ohnedies nicht zugegeben werden kann), sondern im allgemeinen verläßlich zu sein, also auch für die ganze Bandbreite jener Äußerungen, wo diesseits der unbedingten Wahrheitsgarantie (und so unfehlbar) gesprochen wird. Konkret fordert dieser allgemeine Verläßlichkeitsanspruch eigens auch für das nach-/konziliäre Lehramt einen Vertrauensvorschuß ein, der – bei allen Problemen, die man berechtigterweise haben mag – die methodische Herangehensweise des Mißtrauens ausschließt. Eine Auswertung, die sich von der Heuristik des prinzipiellen Verdachts leiten läßt, kommt nicht in Frage. Der entschlossene Versuch der Aneignung im Lichte der Tradition („Hermeneutik der Kontinuität“) hat entschieden Vorrang vor dem Erkennen auf Fehlleistungen im Lehrvortrag. Vorrang wohlgemerkt: Wo sich der Verdacht erhärtet, daß bei allem (zu unterstellendem) guten Willen die „Übersetzungsleistung“ des nach-/konziliären Lehramts mißlungen ist, und zwar auch inhaltlich, muß dies auf angemessen-diskrete Weise in den Diskurs eingebracht werden und werden dürfen. – In bezug auf die konkrete Praxis, und das ist besonders wichtig, wie es ja auch dem Brief von Erzbischof Di Noia zu entnehmen ist: Prioritär ist nicht die Kritik, sondern die positive Darlegung der Glaubenswahrheit. Und bei aller gebotenen Vorsicht wähne ich mich nicht in trügerischer Eigenmächtigkeit, wenn ich sage, zum beschworenen Charisma der Bruderschaft wird es gegebenenfalls gehören, (in positiver Hinsicht) ihre Diktion zu wahren: Durch ihre besondere Anknüpfung am vorkonziliären Lehramt, wie zumal den Rückgriff auf die vorkonziliären Katechismen (allen voran dem von Trient), wird sie die Selbigkeit der Kirche heute mit jener der zurückliegenden Jahrhunderte bezeugen. Zweifelsohne ist dies ein ausgezeichneter, notwendiger Dienst an der Markanz und Trennschärfe kirchlicher Lehrverkündigung. Entsprechend kann es von ihr nicht erwartet werden, die spezifische Sprache des Konzils zu sprechen. Wer solches, auch von Rom aus, erwartet, macht eine Versöhnung zur Illusion.
Allein: All diese Versuche, die Tragweite jener Platzanweisung auszuloten, die der Brief des Erzbischofs umschreibt, bleiben alle ein wenig blechern, wenn eine positive Perspektive fehlt. Wie kann die Piusbruderschaft mit ihrem entschiedenen materiellen Katholisch-Sein bei gleichzeitiger innerer Reserviertheit in bezug auf das nach-/konziliäre Lehramt in das kirchliche Leben eingehen? Was die konkret-praktischen Probleme angeht: so wichtig diese sind; meine Aufgabe als Theologe sehe ich nicht darin, diese zu diskutieren. Die Frage, die ich mir stelle, ist vielmehr die der programmatischen Vermittlung, in der allen voran die FSSPX für sich selber ein attraktives Programm sehen kann. – In der Lektüre von Joseph Ratzingers „Thesen zum Thema ‚Zehn Jahre Vaticanum II´“ aus dem Jahre 1975/76 (deutsch erstmals in: Gesammelte Schriften 7/2, Freiburg 2012, 1060–1063) bin ich neulich auf folgendes interessante Resümee gestoßen:
„Eine konfliktlose Verschmelzung von Kirche und Welt zu erstreben, heißt das Wesen von Kirche und Welt verkennen. Das Christsein lässt sich nicht der Plausibilitätsstuktur einer Epoche einordnen; der Christ muss sich gerade heute darauf einstellen, dass er einer Minderheit zugehört und dass er weitgehend im Widerspruch steht zu dem, was plausibel ist, zum ‚Schema dieser Welt‘, wie Paulus sagt (Röm 12,2). Der Plausibilität der Welt setzt der Christ die Urteilsfähigkeit der gläubigen Vernunft entgegen. Fähigkeit und Mut zum Widerspruch, Kraft zum Annehmen einer Minderheitssituation einzuüben, wird zu den dringendsten Aufgaben des christlichen Weltverhältnisses in den nächsten Jahren gehören – in Abkehr von dem Trend der nachkonziliaren Euphorie, der gerade hier sich besonders gründlich verirrt hatte.“ (ebd. 1062sq.)
Als Leitmotiv meiner eigenen Parteinahme im Konflikt um die FSSPX, getragen von einem deutlichen Wohlwollen für letztere und ihre Anliegen, sehe ich das, was ich u.a. mit „Wahrung des konfrontativen Gegenübers“, das dem Katholischen gerade in der Universalität der Sendung eigen ist, benenne. Und das sehe ich im obigen Zitat aus dem Werk Joseph Ratzingers, des heutigen Papstes, auf seine eigene Weise angesprochen, angesprochen gerade im Kontext einer nüchternen Analyse der Nachkonzilssituation. Und hier gibt es eine schier unersetzliche Funktion für die FSSPX: Sie hat sich den Sinn für dieses Konfrontative, das zur katholischen Mission gehört, bewahrt; bewahrt wie kaum eine andere Bewegung in der Kirche. Ohne diese Konfrontation ist die Mission nicht mehr Mission, sondern letztlich monistische Symbiose: die glatte Verkehrung und darin Aufhebung des Katholischen, das von Oben her kommt, herkommt von der universalen Sendung von Sohn und Heiligem Geist in die Welt hinein, aber vom weltenthobenen einen und dreifaltigen Gott her. Selbiger Joseph Ratzinger entlarvte nicht umsonst in einem Aufsatz ebenso aus dem Jahre 1975 die Tendenz, im Zuge jenes nachkonziliaren Optimismus, für den gerade „Gaudium et spes“ Patron war, alle sog. „Dualismen“ aufzuheben: „Leib-Seele, Kirche-Welt, Gnade-Natur, ja schließlich gar noch Gott-Welt“: Kirche und Welt. Zur Frage nach der Rezeption des II. Vatikanischen Konzils (Gesammelte Schriften 7/2, 1040–1059, hier 1046sq.).
Echte Katholizität als universale Sendung dieser bestimmten Kirche vom transzendenten einen und dreifaltigen Gott her gegen die monistische Verfälschung und völlige Verkehrung ins All-einheits-Denken: Gerade im Kontext der Frage um die Piusbruderschaft sehe ich darin einen erstrangigen theologischen Programmpunkt sowie einen Schlüssel zu einer Lektüre des Konzils, die die Geister scheidet. Ein Blick auf die jüngste Ausgabe der Theologisch-praktischen Quartalschrift erweist es: Es finden sich darin (nicht nur, aber gerade auch) Beiträge, die das tiefe Verkennen des Katholischen offenbaren, wenn nicht gar die Verlegenheit angesichts dieses „Konfessionsmerkmals“, dem es dann doch noch etwas abzugewinnen gilt, nämlich im Kaleidoskop der einander bereichernden Denominationen. Dort, wo man glaubt, die „katholische Weite“ gegenüber „Ausgrenzungen“ o.ä. einfordern zu müssen, um in diesem Zuge der Piusbruderschaft eine Verfälschung des Katholischen vorzuwerfen, stellt sich mir die Frage, ob man unter Berufung auf die Katholizität nicht in Wahrheit ein Plädoyer für ein „Broad-church-movement“ hält. (In der anglikanischen Gemeinschaft des 19. Jahrhunderts jedenfalls standen sich bekanntlich „Anglokatholiken“ und Anhänger der „broad church“ nicht sehr freundlich gegenüber.)
Und für dieses erstrangige Programm, in dem der FSSPX eine erstrangige Funktion zukommen könnte, existieren echte, wertvolle Anknüpfungspunkte im Zweiten Vatikanum selber, derart, daß Probleme mit diesem Konzil nicht übergangen werden müssen. Die Kirchenkonstitution „Lumen gentium“ (LG) entfaltet, zumal im Bogen von LG 13 – LG 17, einen starken Begriff von Katholizität. Die theologische Schlüsselkategorie zur Bestimmung des Außerverhältnisses der Kirche ist mitnichten der Dialog (der loco et tempore seine Bedeutung behält), sondern die Katholizität der einen wahren Kirche unter dem Primat der Kathedra Petri (vgl. LG 13, zweitletzter Abschnitt), beruhend auf ihrer universalen Sendung, welcher die Berufung exzeptionslos aller Menschen zur Gliedschaft in dieser Kirche entspricht. Entsprechend gehören alle Menschen entweder in irgendeiner Weise zu dieser Kirche oder sind auf sie hingeordnet (LG 13Ende): und in diesem Zuge kommt auf die getauften Nichtkatholiken und die Nichtchristen je eigens die Sprache (LG 15 u. 16). – Erbe dieses starken Katholizitätsbegriffs ist nicht umsonst das Missionsdekret „Ad gentes“. Was hingegen das Ökumenismusdekret „Unitatis redintegratio“ angeht, so verbietet es sich zwar, einen direkten Gegensatz in der Sachaussage zu konstruieren; jedoch ist hier bezeichnenderweise der Ansatzpunkt nicht die Katholizität der einen wahren Kirche, sondern sozusagen der Ökumenische Diskurs (Artikel 1), in den sich die katholische Kirche mit ihren Prinzipien (Kapitel I) einbringt: eine methodische Divergenz mit erheblicher Tragweite, für deren kritische Aufarbeitung legitimer Spielraum bleibt und bleiben muß. – Dies zumal als Hinweis, wie ein nuanciert-kritischer Umgang mit der Konzilsmaterie unter dem Vorzeichen der Loyalität zum (auch konziliären) Lehramt unter anderem aussehen könnte.
In diesem Sinne mag ich an die FSSPX und ihre Verantwortlichen demütig die Frage stellen: Kann es nicht sein, daß es jetzt an der Zeit ist, Euren Platz in der Mitte der Catholica zu suchen, sowohl um Eurer Katholizität willen als auch der Katholizität der Kirche willen, deren wahres Wesen es wieder zum Glänzen zu bringen gilt?
Dr. theol. Klaus Obenauer ist Privatdozent an der Katholisch-theologischen Fakultät der Universität Bonn.
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