(Rom) Der katholische Intellektuelle und Kirchenhistoriker Roberto de Mattei wirft die Frage auf, ob sich der neue Präfekt der Glaubenskongregation, Kurienerzbischof Gerhard Ludwig Müller in der Interpretation des Zweiten Vatikanischen Konzils gegen Papst Benedikt XVI. stellt. In einem „erstaunlichen“ Beitrag im Osservatore Romano vom 29. November 2012 (Seite 5) erhob Kurienerzbischof Gerhard Ludwig Müller, der Präfekt der Glaubenskongregation das Zweite Vatikanische Konzil gewissermaßen „zum einzigen und absoluten Dogma unserer Zeit“, so de Mattei. Erzbischof Müller bietet in dem Beitrag eine ganz persönliche Lesart der berühmten Ansprache Benedikts XVI. an die Römische Kurie vom 22. Dezember 2005 zur „Hermeneutik der Erneuerung in der Kontinuität“. Der Glaubenspräfekt bezeichnet sie als „einzig mögliche“ Interpretation, um hinzuzufügen, daß neben dieser Interpretation „leider“ auch eine „häretische Interpretation“ existiert, nämlich eine „Hermeneutik des Bruchs“ und das sowohl auf der Seite der Progressisten als auch auf jener der Traditionalisten. Beide seien sich in der „Ablehnung des Konzils“ einig, so Müller. Die Progressisten, weil sie es einfach hinter sich lassen möchten, als wäre es ein abgeschlossenes Kapitel, um zu einer „anderen Kirche“ zu gelangen. Die Traditionalisten, weil sie nie dort ankommen möchten, so als wäre das Konzil der Winter der Kirche.
Stellt sich Kurienerzbischof Müller mit „persönlicher“ Interpretation des Konzils gegen Papst Benedikt XVI.?
Zur Unterstützung seiner „Dogmatisierung“ konstruiere Erzbischof Müller eine „absolute Kontinuität“ zwischen der heutigen Position des Papstes und jener Joseph Ratzingers, des jungen Konzilstheologen von Kardinal Frings. Msgr. Müller verschweige dabei fünf Jahrzehnte der theologischen Entwicklung und Vertiefung des Theologen, Erzbischofs und Kardinals Ratzinger. Wie willkürlich das Ausklammern dieser theologischen Entwicklung ist, beweise, so de Mattei, eine nicht minder erstaunliche Tatsache: Im vom Erzbischof Müller betreuten deutschen Gesamtwerk Joseph Ratzingers fehlt die wichtige Rede des Kardinals Ratzinger an die Bischöfe Chiles vom 13. Juli 1988. Darin bezeichnete der Kardinal es als
„einfache Tatsache, daß nicht alle Dokumente des Konzils den gleichen Rang haben“.
Er stellte zudem fest:
„Das Zweite Vatikanische Konzil behandelt man nicht als Teil der lebendigen Tradition der Kirche, sondern direkt als Ende der Tradition und so, als fange man ganz bei Null an. Die Wahrheit ist, daß das Konzil selbst kein Dogma definiert hat und sich bewußt in einem niedrigeren Rang als reines Pastoralkonzil ausdrücken wollte; trotzdem interpretieren es viele, als wäre es fast das Superdogma, das allen anderen die Bedeutung nimmt.“
Wichtiges Dokument fehlt im Konzilsband der Gesammelten Schriften Joseph Ratzingers
Kardinal Ratzinger weiter:
„Dieser Eindruck wird besonders durch Ereignisse des täglichen Lebens verstärkt. Was früher als das Heiligste galt – die überlieferte Form der Liturgie – scheint plötzlich als das Verbotenste und das Einzige, was man mit Sicherheit ablehnen muß. Man duldet keine Kritik an den Maßnahmen der nachkonziliaren Zeit; wo aber die alten Normen oder die großen Glaubenswahrheiten – zum Beispiel die leibliche Jungfräulichkeit Marias, die körperliche Auferstehung Jesu, die Unsterblichkeit der Seele etc. – im Spiel sind, da reagiert man entweder überhaupt nicht, oder nur in extrem abgeschwächter Form. Ich selbst habe als Professor sehen können, wie selbst der Bischof, der vor dem Konzil einen einwandfreien Professor wegen seiner etwas ungehobelten Reden ablehnte, sich nach dem Konzil nicht in der Lage sah, einen anderen Professor abzulehnen, der offen einige fundamentale Glaubenswahrheiten leugnete. Das führt bei vielen Menschen dazu, daß sie sich fragen, ob die Kirche von heute wirklich noch die gleiche ist wie gestern, oder ob man sie nicht ohne Warnung gegen eine andere ausgetauscht hat. Der einzige Weg, das Vatikanum II glaubwürdig zu machen, besteht darin, es klar als das darzustellen, was es ist: ein Teil der ganzen und einzigen Tradition der Kirche und ihres Glaubens.“
Ausgerechnet eine so grundlegende Analyse des Zweiten Vatikanums, der damit verbundenen Erwartungen und der Realität seiner Folgen fehlt im dem Konzil gewidmeten Band der von Erzbischof Müller verantworteten „Gesammelten Schriften“ Joseph Ratzingers, so de Mattei.
Konzil an seinem eigenen Anspruch messen – Benedikt XVI. spricht von „geistlicher Wüste“
In seiner Predigt in der heiligen Messe zur Eröffnung des Jahrs des Glaubens am 11. Oktober 2012 sprach der Papst von der heutigen Welt als einer „geistlichen Wüste“. Benedikt XVI. wollte, daß die Eröffnung des Jahrs des Glaubens mit dem 50. Jahrestag der Eröffnung des Zweiten Vatikanischen Konzils zusammenfiel und erklärte dazu:
„Wenn die Kirche heute ein neues Jahr des Glaubens und die neue Evangelisierung vorschlägt, dann nicht, um ein Jubiläum zu ehren, sondern weil es notwendig ist, mehr noch als vor fünfzig Jahren! Und die Antwort auf diese Notwendigkeit ist dieselbe, die von den Päpsten und Vätern des Konzils beabsichtigt war und die in den Dokumenten enthalten ist. […] In diesen Jahrzehnten ist eine geistliche ‚Verwüstung‘ vorangeschritten. Was ein Leben, eine Welt ohne Gott bedeutet, konnte man zur Zeit des Konzils bereits aus einigen tragischen Vorfällen der Geschichte entnehmen, heute aber sehen wir es leider tagtäglich in unserer Umgebung. Es ist die Leere, die sich ausgebreitet hat. Doch gerade von der Erfahrung der Wüste her, von dieser Leere her können wir erneut die Freude entdecken, die im Glauben liegt, seine lebensnotwendige Bedeutung für uns Menschen. In der Wüste entdeckt man wieder den Wert dessen, was zum Leben wesentlich ist; so gibt es in der heutigen Welt unzählige, oft implizit oder negativ ausgedrückte Zeichen des Durstes nach Gott, nach dem letzten Sinn des Lebens. Und in der Wüste braucht man vor allem glaubende Menschen, die mit ihrem eigenen Leben den Weg zum Land der Verheißung weisen und so die Hoffnung wach halten.“
Benedikt XVI.: „Dafür bedurfte es nicht eines Konzils“
Benedikt XVI. erinnerte zudem daran, wie Johannes XXIII. das Hauptziel des Konzils darstellte:
„Dies betrifft in höchstem Grade das Ökumenische Konzil: daß das heilige Gut der christlichen Lehre bewahrt und in wirksamerer Form weitergegeben wird […] Das Hauptanliegen dieses Konzils ist also nicht die Diskussion über das eine oder andere Thema der Lehre … Dafür bedurfte es nicht eines Konzils … Es ist nötig, daß diese sichere und unveränderliche Lehre, an der in Treue festgehalten werden muß, vertieft und in einer Weise vorgetragen wird, die den Erfordernissen unserer Zeit entspricht.“
Das „Proprium“ des Zweiten Vatikanischen Konzils und der Nachkonzilszeit war daher, so de Mattei, nicht „dogmatisch“, sondern „pastoral“, wie Benedikt XVI. beim selben Anlaß zum Konzil darlegte:
„Was den Gegenstand des Glaubens betrifft, hat sich das Konzil nichts Neues ausgedacht, noch hat es Altes ersetzen wollen. Es hat sich vielmehr darum bemüht dafür zu sorgen, daß derselbe Glaube im Heute weiter gelebt werde, daß er in einer sich verändernden Welt weiterhin ein gelebter Glaube sei. […] Die Konzilsväter wollten den Glauben wieder wirkungsvoll präsentieren; und wenn sie sich zuversichtlich dem Dialog mit der modernen Welt öffneten, so geschah dies, weil sie sich ihres Glaubens, des sicheren Felsens, auf dem sie standen, sicher waren. In den darauffolgenden Jahren haben hingegen viele die herrschende Mentalität ohne Unterscheidungsvermögen angenommen und die Fundamente des depositum fidei selbst in Frage gestellt, die sie leider in ihrer Wahrheit nicht mehr als geeignet empfanden.“
Joseph Ratzinger: Entwicklungen seit dem Konzil „in eklatantem Widerspruch zu den Erwartungen“
Die Notwendigkeit, eine neue Sprache für die Welt zu finden, entsprang dem Wunsch, den Glauben auszubreiten und konnte auch nur diesem Wunsch erwachsen, so de Mattei. Aus diesem Grund sei auch anhand der konkreten Ergebnisse zu beurteilen, ob die Mittel zur Erreichung dieses Ziels geeignet und angemessen waren. „Die Fakten der vergangenen fünfzig Jahren sagen uns, leider, daß das Konzil die Ziele, die es sich selbst gesteckt hatte, nicht erreicht hat, wie Kardinal Joseph Ratzinger selbst 1985 im berühmt gewordenen Buch Zur Lage des Glaubens erklärte“, so de Mattei.
„Es ist unbestreitbar, daß die letzten zwanzig Jahre für die katholische Kirche äußerst negativ verlaufen sind. Die Entwicklungen seit dem Konzil scheinen in eklatantem Widerspruch zu den Erwartungen aller, angefangen von Johannes XXIII. und Paul VI., zu stehen. Die Christen sind von neuem eine Minderheit, mehr als sie es seit der ausgehenden Antike je gewesen sind. […] Man hatte sich einen Schritt nach vorn erwartet, und man fand sich einem fortschreitenden Prozeß des Verfalls gegenüber, der sich weitgehend im Zeichen der Berufung auf einen angeblichen ‚Geist des Konzils‘ abgespielt und dieses damit immer mehr diskreditiert hat.“
De Mattei: Konzilsdokumente nicht nachträglich „dogmatisieren“, sondern im Licht der Tradition prüfen
Das Konzil könne nicht nur auf die Dokumente reduziert werden, so de Mattei. Die Historiker haben bereits mit der Erforschung und der Analyse des Konzils in seinem Kontext begonnen. Die Dokumente des Konzils seien nicht zu „dogmatisieren“, sondern mit kritischem Geist im Licht der Tradition zu prüfen, wie Papst Benedikt XVI. dies im Vorwort zum genannten Konzilsband der deutschen Ausgabe seiner Gesammelten Schriften anregt.
Darin führt Benedikt XVI. verbunden mit der Einladung, die Dokumente des Zweiten Vatikanums erneut zu lesen, aus, daß die Konzilskonstitution Gaudium et Spes nicht imstande war zu klären, was an der Moderne essentiell und konstitutiv ist. Hinter der vagen Formulierung „Welt von heute“ gehe es, so der Papst, um das Verhältnis zur modernen Zeit. Um dieses zu klären, wäre es notwendig gewesen, besser zu definieren, was denn an der modernen Zeit essentiell und konstitutiv ist. „Das ist im Schema XIII nicht gelungen.“ Wenn die Pastoralkonstitution Gaudium et Spes auch viele wichtige Dinge zum Verständnis der „Welt“ zum Ausdruck bringe und bedeutende Beiträge zur Frage der christlichen Ethik liefere, sei sie nicht imstande gewesen, zum Verhältnis zur modernen Welt eine substantielle Klärung zu bieten, so Benedikt XVI. in seinem Vorwort.
Gaudium et Spes ist „überholt“, da von Fortschrittsmythos und mondänem Geist durchdrungen
„Das Zweite Vatikanische Konzil ist nicht ein ‚Paket‘, das man als Ganzes entweder nimmt oder zurückweist. Gaudium et Spes zum Beispiel erscheine heute wie ein nicht mehr aktuelles, überholtes Dokument, da es vom Fortschrittsmythos des 19. und 20. Jahrhunderts durchdrungen ist und getränkt von jenem mondänen Geist, von dem sich die Kirche so schwer tut, sich zu befreien“, so Roberto de Mattei.
Zu den zur Bischofssynode in Rom versammelten Bischöfe sagte Papst Benedikt XVI. am 8. Oktober 2012 in einer Meditation:
„Der Christ darf nicht lau sein. Die Apokalypse sagt uns, daß dies die größte Gefahr für den Christen ist: nicht »nein« zu sagen, sondern ein sehr laues »Ja«. Diese Lauheit bringt das Christentum geradezu in Mißkredit. Der Glaube muß in uns zur Flamme der Liebe werden, zur Flamme, die wirklich mein Dasein in Brand setzt, zur großen Leidenschaft meines Daseins wird und so auch den Nächsten entflammt. Das ist die Vorgehensweise der Evangelisierung: »Accéndat ardor proximos«, daß die Wahrheit in mir zur Liebe werde und die Liebe wie ein Feuer auch den anderen entflamme. Nur wenn der andere entflammt wird durch die Flamme unserer Liebe, wächst die Evangelisierung, die Gegenwart des Evangeliums, das nicht mehr nur Wort ist, sondern gelebte Wirklichkeit.“
Appell des Papstes an alle Gläubigen laute: Nicht zurück zum Konzil, sondern zu Jesus Christus
„Die Christen müssen heute dem Appell des Papstes folgen, indem sie auf radikale Weise die Unverkürztheit ihres Glaubens bezeugen. Das ist der Weg, den Benedikt XVI. allen Gläubigen aufzeigt, angefangen bei den Bischöfen: nicht eine Rückkehr zum Zweiten Vatikanischen Konzil, sondern zu Jesus Christus, der einziger Weg, Wahrheit und Leben ist“, so der Kirchenhistoriker und bekannte katholische Intellektuelle Roberto de Mattei.
Text: CR/Giuseppe Nardi
Bild: Corrispondenza Romana