(Caracas) Einige Religionswissenschaftler behaupten, dass bis zu einem Drittel der Venezuelaner irgendwann in ihrem Leben sich auch an einen Priester eines seltsamen, keine 150 Jahre alten Kultes und dessen Riten wenden. Sollte dies stimmen, wäre es die Bestätigung für eine Feststellung G.K. Chestertons. Der englische Schriftsteller sagte: Wenn die Menschen aufhören an Gott zu glauben, ist es nicht so, daß sie nichts mehr glauben, sondern vielmehr, daß sie an alles glauben. Wird die Tür des Glaubens zugeschlagen, steht der Aberglaube Gewehr bei Fuß.
Wer Gott verneint, glaubt nicht nichts, sondern alles
Die Sache ist im Detail sicher um einiges komplizierter und vor allem für Religionswissenschaftler und Soziologen von besonderem Reiz. Chesterton erfaßte jedoch ein grundlegendes Prinzip, daß der Glaube und das physiologische Bedürfnis nach Religion zum Wesen des Menschen gehört. Die Verneinung Gottes führt demnach lediglich zu einer wie auch immer gearteten Verlagerung.
In Venezuela projizieren viele Menschen zumindest einen Teil ihrer Religiosität auf den Kult der Maria Lionza. Der Kult ist eine Neuschöpfung des 19. Jahrhunderts und beruht auf den Schriften des Franzosen Leon Denizarth-Hippolyte Rivail (1804–1869), die er unter dem Pseudonym Allan Kardec veröffentlichte. Der antiklerikale Kardec, der als Begründer des modernen Spiritismus gilt, unterstützte alle gegen die katholische Kirche gerichteten Kampagnen der französischen Republik.
Der Geisterkult des Schriftstellers Allan Kardec
Er behauptete, die Menschen könnten die Seelen der Toten rufen und sie in die Körper Lebender zurückholen und befragen, um von den Toten Ratschläge und Empfehlungen zu erhalten. Den Hintergrund bildet ein besonderer Synkretismus aus katholischem Glauben der Spanier, den Naturreligionen der aus Afrika eingeführten Sklaven, der radikal antikatholischen Ideologie der von Freimaurern geführten venezuelanischen Unabhängigkeitsbewegung des frühen 19. Jahrhunderts und einigen indianischen Elementen.
Die Anhänger führen zahlreichen Riten durch, die teils katholischer, teils voodooischer und teils schamanischer Herkunft sind. Sie versammeln sich um den Monte Sorte, einen Berg in Venezuela, den sie als heilig betrachten.
Laut einer Legende lebte Maria Lionza um 1400 auf diesem Berg, bevor Amerika von Christoph Kolumbus entdeckt wurde. Während sie einen Fluß betrachtete, sei sie von einer Anakonda angegriffen und verschlungen worden. Im Inneren des Reptils habe Maria Lionza einen Pakt geschlossen. Sie werde den Berg heiraten, wenn der Berg sie rette. Der Berg habe sie gerettet und seither sollen Maria Lionza und der Berg leben, als wären sie eine einzige Sache. Es gibt allerdings auch eine andere Version, derzufolge Maria Lionza die Tochter eins Yaracuy-Häuptlings sei, die um 1500 geboren wurde. Sie wird dargestellt, wie sie auf einem Tapir reitet. Man sagt, sie würde über die wilden Tiere herrschen. Ihre Anhänger nennen sie „Königin“.
Der Name Maria Lionza, und das erklärt zu einem guten Teil das besondere Interesse der Religionswissenschaftler, leitet sich von Santa Maria de la Onza (Heilige Maria des Jaguars) ab. Um genau zu sein von Santa Maria de la Onza Talavera del Prato de Nivar. Dabei handelte es sich offensichtlich um den Versuch, einen lokalen Kult zu christianisieren. Aus dieser Inkulturation entstand die heutige Maria Lionza, deren Kult sich seit wenigen Jahrzehnten in Venezuela erstaunlicher Verehrung erfreut.
Die Geisterwelt aus Politikern, Indianern, Ärzten, Kriminellen und Wikingern
Rundherum kreist ein erstaunliches hierarchisches Pantheon. Maria Lionza, die Königin, ist die Höchste der „drei Mächte“. An zweiter Stelle steht Gaicapuro, ein von den Spaniern getöteter Indianerhäuptling. An dritter Stelle folgt Negro Felipe, ein afrikanischer Sklave, der rebellierte und von seinem Kolonialherren getötet wurde. In diesem Dreigestirn wiederholt sich die Trinität des Christentums. Die drei führen wiederum zahlreiche fiktive Höfe an: den indianischen Hof, der sich aus Indiohäuptlingen zusammensetzt; den Medizinhof, der von José Gregorio Hernández und anderen berühmten Ärzten geführt wird; der Hof der Juans, der verschiedene Figuren der venezuelanischen Folklore angehören; der Hof der Lehrer, angeführt von Andrés Bello und anderen Schriftstellern; der schwarze oder afrikanische Hof mit populären Gestalten der schwarzen Bevölkerung wie die Negra Matea, die Amme Simon Bolivars oder El Negro Primero, mit bürgerlichem Name Pedro Camejo, so genannt, weil er immer als erster in den Kampf zog; weiters der himmlische Hof, der aus katholischen Heiligen besteht; der politische Hof, der – wie könnte es anders sein – unter der Führung von Simon Bolivar steht; der Hof der Malandros, das sind die verstorbenen Kriminellen und schließlich noch ein – nun doch etwas unerwarteter Hof der Wikinger, der sich aus verschiedenen großen Wikingerführern zusammensetzt. Die Wikinger sind eine Extrazugabe der schriftstellerischen Phantasie des Leon Denizarth-Hippolyte Rivail.
Maria Lionza religiöses „Gegenmodell“ in Hugo Chavez politischem „Gegenmodell“ des Bolivarismus
Die Anhänger versammeln sich jedes Jahr im Oktober, um die heiligsten Tage des Kults zu feiern. Am 12. Oktober wird der Tag der Resistencia Indigena gefeiert. Er entstand in neuerer Zeit als politisches Gegenfest zum Gedenktag der Entdeckung Amerikas durch Christoph Kolumbus und erinnert an den Widerstand der Indios gegen die Spanier. Der linkspopulistische Staatspräsident Hugo Chavez erhob ihn 2002 zum offiziellen Feiertag Venezuelas. Viele Anhänger von Maria Lionza tragen an diesem Tag Indiokleidung, auch wenn sie selbst nicht indianischer Abstammung sind und zelebrieren den „Tanz der glühenden Kohlen“. Sie sind überzeugt, daß die Geister sie beschützen und sie sich deshalb nicht die Fußsohlen verbrennen, während sie über glühende Kohlen laufen.
Hauptelement die „Wiederbelebung“ der Toten
Das Hauptelement ihrer Religion bilden jedoch Riten, um mit Toten in Kontakt zu treten. In der Regel geht es dabei um die Seelen berühmter Personen, die aus dem Jenseits gerufen werden. Sie werden gebeten, in den Körper Lebender zu fahren. Die „Besessenen“ murmeln und singen in einem Trancezustand. Die unverständlichen Worte der „Geister“ werden von Priestern des Kultes ausgelegt. Die Anhänger behaupten, jeder Tote könne auf diese Weise „wiederbelebt“ werden, nicht nur berühmte Persönlichkeiten, sondern auch „normal“ Sterbliche und natürlich, was dem Kult solche Attraktivität verleiht, die eigenen Vorfahren.
Die Anhänger der Maria Lionza sollen an einem bestimmten Punkt der Riten den gerufenen „Geistern“ Fragen stellen können und von ihnen Antworten erhalten. Theoretisch gebe es keine Einschränkungen, es könne alles gefragt werden und ein besonders wertvoller Ratschlag für das eigene Leben, weil aus dem Jenseits kommend, eingeholt werden: Liebe, Geschäfte, kurzum zu allem können die Geister angeblich Antworten anbieten. Manche befinden sich in einer solchen Abhängigkeit von den „Geistern“, daß sie vor jeder wichtigeren Entscheidung zuerst bei den „Priestern“ der Maria Lionza Hilfe suchen und spiritistische Nachfrage halten.
Je größer die Armut, desto stärker der Kult der Maria Lionza
Die Religionswissenschaftler und Soziologen stellten einen Zusammenhang zwischen der Verbreitung des Kults und der wachsenden Armut im südamerikanischen Land fest. Je mehr das Land verarmte und die Kriminalität anstieg, desto mehr nehmen bestimmte Bevölkerungsschichten Zuflucht beim Spiritismus. Mehr als ein Drittel der Bevölkerung Venezuelas lebt in Armut. Die Schulbildung ist extrem niedrig. Diese Armut führte 1999 zum Wahlsieg von Hugo Chavez bei den Präsidentschaftswahlen. In seinem semiautoritären Regime des „nationalen und demokratischen Sozialismus“ vermengen sich verschiedene ideologische Elemente aus Marxismus, Nationalismus, Antikolonialismus, antiklerikalem Bolivarismus. Der Kult der Maria Lionza entspricht gewissermaßen auf religiöser Ebene dem ideologischen Synkretismus von Chavez. Seinem Kampf auf politischer Ebene gegen „alte Kräfte“ entspricht die Ersetzung der katholischen Kirche durch einen neuen Kult.
Laut der Studie eines Kulturanthropologen, der vier Jahre das Phänomen dieses Kultes studierte, suchen viele Venezuelaner einen Ausweg aus ihrem Elend durch den persönlichen Kontakt mit einem Geist aus dem Jenseits, von dem man erhofft, daß er die Möglichkeit hat, die eigenen Probleme zu lösen. Der Kult der Maria Lionza scheint diese Möglichkeit anbieten zu können.
In den USA zum Psychologen, in Venezuela zu den „Priestern“ der Maria Lionza
Bis in die 60er Jahre des 19. Jahrhunderts waren spiritistische Praktiken verboten und auch kaum verbreitet. Inzwischen ist die Gesetzgebung, vor allem seit der Machtübernahme von Hugo Chavez sehr wohlwollend gegenüber diesem Kult. Auch wenn die meisten Anhänger aus den ärmsten Schichten der Bevölkerung stammen, die in einem der unsichersten Staaten Lateinamerikas Schutz bei den Geistern suchen, breitet sich der Einfluß der Maria Lionza im neuen Regime auch in den führenden Schichten aus. Religionswissenschaftler versuchen das Phänomen auf den Punkt zu bringen: „Während in den USA jemand zum Psychologen gehen würde, sucht man in Venezuela Hilfe bei Maria Lionza.“
Text: Vatican Insider/Giuseppe Nardi
Bild: Vatican Insider