Entchristlichung des Westens auch Folge einer Krise der Kirche? Und die Kirchenkrise Folge des Zweiten Vaticanum?


Anlaß für die Fra­ge ist das neue Buch des ita­lie­ni­schen Histo­ri­kers Rober­to de Mat­tei: „Das Zwei­te Vati­ka­ni­sche Kon­zil, eine nie geschrie­be­ne Geschich­te“ (Il Con­ci­lio Vati­ca­no II, una sto­ria mai scrit­ta), das vor weni­gen Tagen im Turi­ner Ver­lag Lin­dau erschie­nen ist und des­sen Über­set­zung ins Deut­sche wün­schens­wert wäre.

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Seit eini­gen Jah­ren geht ein Gespenst in der katho­li­schen Welt um. Ein Gespenst, das vie­le beun­ru­higt, obwohl es in Form einer ein­fa­chen und unver­meid­ba­ren Fra­ge daher­kommt: Was, wenn die Ent­christ­li­chung des Westens auch Fol­ge einer Kri­se der Kir­che wäre? Und was, wenn die­se Kir­chen­kri­se etwas mit dem Zwei­ten Vati­ka­ni­schen Kon­zil, mit eini­gen sei­ner ein biß­chen zwei­deu­ti­gen Doku­men­te zu tun hät­te oder zumin­dest mit sei­ner Inter­pre­ta­ti­on?, fragt der katho­li­sche Publi­zist Fran­ces­co Agnoli.

Die Fra­ge müß­te sich einem, um genau zu sein, ganz spon­tan stel­len. Es ist tat­säch­lich nicht mehr mög­lich, nicht die Käl­te, das Dun­kel, die Ent­mensch­li­chung zu erken­nen, die uns umgibt. Gleich­zei­tig ist es nicht mög­lich, sich nicht bewußt zu wer­den, daß das Salz schal gewor­den ist. Oder wie schwie­rig es gewor­den ist, auch für jeman­den, der katho­lisch blei­ben will, einen Bischof vom Niveau eines Msgr. Caf­farra oder Msgr. Negri oder Msgr. Cre­pal­di zu fin­den, oder einen leben­di­gen und lei­den­schaft­li­chen Prie­ster wie Livio Fon­z­a­ga von Radio Maria, oder einen ein­fa­chen Orts­pfar­rer, der die Hei­li­ge Lit­ur­gie liebt, die Schön­heit des Got­tes­hau­ses und den Beichtstuhl.

Man­gel an streit­ba­ren Gottemännern

Rich­ti­ger­wei­se ließ Msgr. Nico­la Bux soeben einen schö­nen Text mit dem Titel: „Wie zur Hei­li­gen Mes­se gehen ohne den Glau­ben zu ver­lie­ren“ drucken. Denn das Pro­blem ist nicht nur, daß es den Glau­ben, drau­ßen, in der Welt, nicht mehr gibt, und nicht ein­mal die Tat­sa­che, daß die Gläu­bi­gen von den Berufs­at­he­isten und den Nihi­li­sten aller Gat­tun­gen ver­lacht wer­den. Das wah­re Pro­blem ist, daß sowohl die­se Fein­de des Glau­bens als auch jene, die ihn noch sorg­sam ver­tei­di­gen, kaum jeman­den fin­den, mit dem sie sich kon­fron­tie­ren kön­nen, dem sie ihre Zwei­fel ins Gesicht schleu­dern kön­nen, ihre Mühen oder sogar ihre luzi­fe­ri­sche Rebel­li­on. Es ist nicht allein Schuld der Medi­en, wenn Kar­di­nal Mar­ti­ni geru­fen wird, die katho­li­sche Idee in der wich­tig­sten ita­lie­ni­schen Tages­zei­tung zu ver­tre­ten. Das Pro­blem ist der Man­gel in der Kir­che von heu­te, an Män­nern Got­tes, an intel­li­gen­ten und lei­den­schaft­li­chen Frau­en und Män­nern des Glau­bens. Oder auch nur, um aus mei­ner ganz per­sön­li­chen Erfah­rung zu spre­chen, stand­haf­te Män­ner und fer­tig. Die­se Rea­li­tät, die­ser fast all­ge­mei­ne Ver­rat, der auch jene ver­wirrt und ent­mu­tigt, die auch in der Stun­de von Getse­ma­ni bei ihrem Herrn und Mei­ster aus­har­ren wol­len, muß eine Wur­zel haben, muß einen Grund haben.

Neue Gegen­re­for­ma­ti­on

Zur Zeit der Gegen­re­for­ma­ti­on ver­stan­den die hei­lig­sten unter den Kir­chen­män­nern, daß zwei Din­ge zu tun waren: mit Ent­schie­den­heit die Häre­si­en der Refor­ma­to­ren zu ver­ur­tei­len und die Kir­che selbst zu erneu­ern, indem man die Feh­ler, die Laster, den Ver­rat und die Feig­heit vie­ler ein­ge­stand … Heu­te, den­ke ich, muß Glei­ches gesche­hen: Man kann nicht mit dem Man­tra des Zwei­ten Vati­ka­ni­schen Kon­zils als „Früh­ling der Kir­che“, als „pro­phe­ti­sche Weis­sa­gung“ und ähn­li­chem Unsinn weitermachen.

Wenn Win­ter herrscht, muß man das end­lich erken­nen und sich einen Man­tel anzie­hen. Des­halb hal­te ich es für einen Segen Got­tes, ein Zei­chen der Zeit, das Werk geschätz­ter kirch­li­cher Per­sön­lich­kei­ten, die Fra­gen zum Zwei­ten Vati­ca­num und sei­ner Umset­zung auf­wer­fen: ich den­ke an „Iota unum“ von Roma­no Ame­rio, das jüngst in einem Neu­druck erschie­nen ist; an die Schrif­ten von Msgr. Mario Oli­veri, dem Bischof von Alben­ga; an „Das Zwei­te Vati­ka­ni­sche Kon­zil“ von Msgr. Bru­ne­ro Gherar­di­ni mit einem Vor­wort von Kar­di­nal Albert Mal­colm Ran­jith, eines Man­nes, der das Ver­trau­en von Papst Bene­dikt XVI. genießt.

De Matt­eis Konzilsanalyse

Ich den­ke vor allem an die außer­or­dent­li­che Arbeit von Prof. Rober­to de Mat­tei: „Das Zwei­te Vati­ka­ni­sche Kon­zil, eine nie geschrie­be­ne Geschich­te“ (Lin­dau). In die­sem Band von mehr als 600 Sei­ten wird end­lich die­ses gro­ße Ereig­nis der Kir­che ana­ly­siert und zwar gemein­sam mit allem, was es bestimmt hat: die Erwar­tun­gen, die Ent­täu­schun­gen und die Rezep­ti­on, die es erfah­ren hat. Ein voll­stän­di­ger Über­blick, der ohne Zwei­fel fehl­te und der dazu bei­tra­gen wird, die Dis­kus­si­on über das Zwei­te Vati­ca­num in die rich­ti­ge Bahn zu len­ken und den Mythos vom „super­dog­ma­ti­schen“ Kon­zil, das immer und unfehl­bar „pro­phe­tisch“ war, zu widerlegen.

Das Zwei­te Vati­ca­num defi­nier­te sich selbst, wie de Mat­tei erin­nert, als Pasto­ral­kon­zil. Gera­de die­se Eigen­schaft aber mach­te, zumin­dest für eini­ge Doku­men­te, die kei­nes­wegs alle den­sel­ben Wert haben, ver­schie­de­ne Inter­pre­ta­tio­nen mög­lich, die hin­ge­gen bei dog­ma­ti­schen Defi­ni­tio­nen nicht mög­lich gewe­sen wären. Aus dem reich­hal­ti­gen Text sei nur eine klei­ne Kost­pro­be aus­ge­wählt: Der Autor beginnt mit der Vor­kon­zils­zeit, mit einer Kri­se, die die Hell­sich­tig­sten bereits am Werk sahen. Er zeigt jedoch auf, daß die gro­ße Mehr­heit der Bischö­fe, die mit Blick auf das Kon­zil vom Papst ein­ge­la­den wur­den, ihre „Vota“ abzu­ge­ben, gemä­ßig­te Refor­men und eine ein­deu­ti­ge Ver­ur­tei­lung der Feh­ler jener Zeit wünsch­ten: des Kom­mu­nis­mus und des Mar­xis­mus in pri­mis (und dann den athe­isti­schen Exi­sten­tia­lis­mus und den mora­li­schen Rela­ti­vis­mus). Doch die „Vota“ der Bischö­fe sei­en von den „For­de­run­gen einer Min­der­heit“ behin­dert wor­den, die im Namen des „Aggior­na­men­to“ zuwei­len ver­ga­ßen, daß der pasto­ra­le Aspekt nicht den dok­tri­na­len ersticken kann, daß die Lie­be der Ver­kün­di­gung nicht das Schwei­gen zu den Übeln der Zeit bedeu­tet (sie­he das Schwei­gen über den Kom­mu­nis­mus); daß die Ver­kür­zung der Wahr­heit – „Ärger­nis und Ver­rückt­heit“ – wegen ihres manch­mal bit­te­ren und beun­ru­hi­gen­den Geschmacks, sie nicht ver­dau­li­cher und begeh­rens­wer­ter macht, son­dern ganz im Gegen­teil nur dazu führt, ihre Strahl­kraft, ihre Schön­heit und ihren Wert zu verstecken.

Fran­ces­co Agno­li, „Il Foglio“ vom 02/​12/​2010
Über­set­zung ins Deut­sche von Giu­sep­pe Nardi

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