Amerikaner von Wahl Benedikts XVI. „überrascht“ – Wikileaks veröffentlicht US-Diplomatenpost über Vatikan


(Washington/​Vatikan) Am Sonn­tag abend, 28. Novem­ber 2010, wur­den von der Inter­net­sei­te Wiki­leaks mehr als eine Vier­tel Mil­li­on Doku­men­te (Embas­sy Files), Tele­gram­me, Noten, Noti­zen des US-Außen­mi­ni­ste­ri­ums und sei­ner diplo­ma­ti­schen Ver­tre­tun­gen rund um den Erd­ball ver­öf­fent­licht. Dar­un­ter fin­den sich auch 10.000 als „geheim“ ein­ge­stuf­te Tex­te. Vie­le Tages­zei­tun­gen druck­ten in ihren heu­ti­gen Aus­ga­ben teils wenig schmei­chel­haf­te Kom­men­ta­re ame­ri­ka­ni­scher Diplo­ma­ten über füh­ren­de Poli­ti­ker auch befreun­de­ter Staa­ten ab.

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Die ita­lie­ni­sche Tages­zei­tung La Stam­pa druck­te in zwei Bei­trä­gen von Mau­ri­zio Moli­na­ri Aus­zü­ge aus 18 Doku­men­ten ab, die den Vati­kan betref­fen, vor allem das letz­te Konklave.

Aus ihnen geht her­vor, daß die ame­ri­ka­ni­sche Regie­rung unter Prä­si­dent Geor­ge W. Bush durch die Wahl Joseph Kar­di­nal Ratz­in­gers zum Nach­fol­ger des Apo­stels Petrus über­rascht wur­de. Die US-Außen­po­li­tik schenk­te den Stim­men kei­nen Glau­ben, die den deut­schen Kar­di­nal nann­ten, son­dern rech­ne­te mit der Wahl eines latein­ame­ri­ka­ni­schen Kardinals.

Die ame­ri­ka­ni­schen Diplo­ma­ten und ihre Quel­len (im Vati­kan) stütz­ten sich in ihrer Ein­schät­zung offen­bar aus­schließ­lich auf Pres­se­ar­ti­kel, „ohne die Fähig­keit über die­se hin­aus­zu­den­ken“, wie der Vati­ka­nist Pao­lo Roda­ri meint. Die ame­ri­ka­ni­sche Diplo­ma­tie schloß Kar­di­nal Ratz­in­ger aus und beweg­te sich zwi­schen den ande­ren in Medi­en häu­fig genann­ten Namen. Als Papst Bene­dikt XVI. am Zen­tral­bal­kon der Peters­ba­si­li­ka sich dem gläu­bi­gen Volk zeig­te, sei eine „Quel­le“ der ame­ri­ka­ni­schen Ver­tre­tung „geschockt“ gewesen.

Die bei­den „pro­gres­si­ven“ Kar­di­nä­le Tett­aman­zi und Daneels und der „kon­ser­va­ti­ve“ Kar­di­nal Cas­tril­lon Hoyos wur­den in Washing­ton als „Favo­ri­ten“ für den Stuhl Petri ange­se­hen, wie eine Note des ame­ri­ka­ni­schen Bot­schaf­ters beim Vati­kan belegt, in der Pro­fi­le der „16 papa­bi­li“ in die Haupt­stadt der USA über­mit­telt wurden.

Ein­schät­zung der „papa­bi­li“ von 2005 durch US-Diplomaten

Zu Joseph Kar­di­nal Ratz­in­ger bemerk­te der Bot­schaf­ter: „Wur­de bei Kriegs­en­de als Flak­hel­fer ein­be­ru­fen.“ „Er sorg­te dafür, daß die christ­li­chen Wur­zeln in die EU-Ver­fas­sung ein­ge­fügt wur­den.“ „Bei den ersten Wahl­gän­gen wird er die mei­sten Stim­men erhal­ten, es ist aber unwahr­schein­lich, daß er gewählt wird.“

Zu Chri­stoph Kar­di­nal Schön­born, Erz­bi­schof von Wien: „ist zu jung“ und „die Unfä­hig­keit, die anti-päpst­li­che Revol­te ein­zu­däm­men, hat ihn geschwächt“.

Zu God­fried Kar­di­nal Dan­neels, damals Erz­bi­schof von Brüs­sel: „Er kann mit einem Com­pu­ter umge­hen“, „er ist ein geris­se­ner Theo­lo­ge und ver­tritt den besten Kom­pro­miß“ zwi­schen „der katho­li­schen Glau­bens­leh­re und dem sprach­li­chen Liberalismus“.

Zum afri­ka­ni­schen Kuri­en­kar­di­nal Fran­cis Arin­ze (Nige­ria): „lit­ur­gi­scher Reaktionär“.

Zum kolum­bia­ni­schen Kuri­en­kar­di­nal Dario Cas­tril­lon Hoyos (damals 74 Jah­re alt): “ Er hat das rich­ti­ge Alter“, „er ver­an­stal­te­te Video­kon­fe­ren­zen mit Tau­sen­den Prie­stern“ und er ist „der per­fek­te Kan­di­dat für jene, die einen Spa­nisch­spra­chi­gen wol­len, der die Kurie gut kennt“.

Zu Dio­ni­gi Kar­di­nal Tett­aman­zi, Erz­bi­schof von Mai­land: „Er spricht ein biß­chen Eng­lisch“ und „In Mai­land hat er er die Leu­te beein­druckt mit dei­ner Offen­heit gegen­über der Jugend und der Fähig­keit, in einem moder­nen Umfeld zu wir­ken“, so daß er „der beste ita­lie­ni­sche Kan­di­dat ist, wenn ihm auch sein Man­gel an Rhe­to­rik im Kon­kla­ve scha­den kann“.

Zu Ange­lo Kar­di­nal Sco­la, Patri­arch von Vene­dig: Er ist ein „ent­schie­de­ner Ver­fech­ter der Glau­bens­leh­re, aber ohne das Han­di­kap, ein Dem­ago­ge zu sein“. „Dank Opus Dei und Com­mu­nio­ne e Libe­ra­zio­ne hat er in Vene­dig eine theo­lo­gi­sche Schu­le errichtet.“

Ame­ri­ka­ni­sche Bot­schaf­ten in Rom und Ber­lin über die Wahl Bene­dikts XVI.

Doku­ment vom 14. April 2005
„Wahl des neu­en Pap­stes“ nennt sich ein sie­ben­sei­ti­ges Doku­ment, das am 14. April 2005 von der ame­ri­ka­ni­schen Bot­schaft beim Vati­kan an Außen­mi­ni­ste­rin Con­do­leez­za Rice ging. Dar­in wur­de ein „Iden­ti­kit“ des Man­nes gezeich­net, der nach Mei­nung der US-Diplo­ma­ten den Thron Petri bestei­gen wür­de. Laut ihrer Ein­schät­zung sei der „wich­tig­ste Fak­tor das Alter“. Die Kar­di­nä­le wür­den jeman­den suchen, „der weder zu jung noch zu alt ist, denn sie wol­len nicht bald ein wei­te­res Begräb­nis und ein wei­te­res Kon­kla­ve“. Sie „wol­len aber auch kein lan­ges Pon­ti­fi­kat, wie das Johan­nes Pauls II.“. Ein wei­te­res Ele­ment sei­en aus­ge­präg­te Sprach­kennt­nis­se und vor allem müs­se der neue Papst „Ita­lie­nisch“ kön­nen, die “ Spra­che der vati­ka­ni­schen Büro­kra­tie“. Für die ame­ri­ka­ni­schen Diplo­ma­ten sei jedoch „die geo­gra­phi­sche Her­kunft“ ent­schei­dend. „Nach einem Polen ist vor­her­seh­bar, daß es kein Kar­di­nal aus Ost­eu­ro­pa“ sein wer­de. „Auch kei­ner der elf Kar­di­nä­le der USA, weil die letz­te ver­blie­be­ne Super­macht.“ Es wer­de auch „kein Fran­zo­se sein“, weil man in Erin­ne­rung habe, „wie die fran­zö­si­schen Päp­ste des 14. Jahr­hun­derts durch die fran­zö­si­schen Köni­ge beein­flußt“ gewe­sen sei­en. Wegen der „beacht­li­chen Anzahl der Katho­li­ken“ könn­te ein Kan­di­dat aus Mit­tel- und Süd­ame­ri­ka einen „beacht­li­chen Vor­teil“ haben. „Er wird see­sorg­li­che Erfah­rung haben müs­sen, um sei­ne mensch­li­chen Qua­li­tä­ten zu bewei­sen“, „inter­na­tio­na­le Erfah­rung, um die wich­tig­sten Fra­gen unse­rer Zeit ange­hen zu kön­nen“ und „ein guter Kom­mu­ni­ka­tor sein, geschickt im Umgang mit den neu­en elek­tro­ni­schen Medi­en, um die Bot­schaft der Kir­che auf kla­re und mäch­ti­ge Art und Wei­se zu ver­brei­ten.“ So das Iden­ti­kit der US-Diplomaten.

Doku­ment vom 19. April 2005
Am 19. April 2005, dem Tag, an dem Kar­di­nal Ratz­in­ger zum Papst gewählt wur­de, gesteht ein Tele­gramm von Rom nach Washing­ton ein, daß die Ein­schät­zun­gen und die Vor­her­sa­ge falsch waren. „Erst gestern sprach Pol­off [ein poli­ti­scher Offi­zier an der US-Bot­schaft] mit einer Quel­le [der Name ist geschwärzt], der über eine Wahl Ratz­in­gers wit­zel­te.“ „Als wir Brown sagen, nach­dem der neue Papst am Bal­kon erschien, war der Ame­ri­ka­ner unter Schock und sag­te uns, sprach­los zu sein.“ Abschlie­ßend heißt es: „Trotz der Spe­ku­la­tio­nen in den Medi­en über die Unter­stüt­zung für Ratz­in­ger durch vie­le Kar­di­nä­le, war sei­ne Wahl für vie­le eine Über­ra­schung.“ Der neue Papst wird jedoch als „star­ker Kar­di­nal“ bezeich­net mit dem Ruf der „Wäch­ter der theo­lo­gi­schen Ortho­do­xie“ zu sein. „Obwohl ihn die Medi­en als auto­kra­ti­schen Des­po­ten beschrei­ben“, zeich­nen die Diplo­ma­ten ein ganz ande­res Bild des Pap­stes: Er sei „über­ra­schend beschei­den, ver­in­ner­licht und umgäng­lich“. Die Ein­schät­zung des neu­en Pon­ti­fex: „Er wird die Linie fort­set­zen.“ „Sein Augen­merk wird auf Euro­pa liegen“.

29. April 2005
Über die Fol­gen der Wahl schreibt ein Mit­ar­bei­ter der ame­ri­ka­ni­schen Bot­schaft in Ber­lin namens Cloud unter dem Titel: „Ach­se Rom-Köln? Deutsch­land und Bene­dikt XVI.“ Inhalt des Berichts ist, wie „Deutsch­land und der deut­sche Katho­li­zis­mus die Wahl Bene­dikts XVI. mit einer Mischung aus Stolz, Vor­be­halt und Skep­sis“ auf­ge­nom­men habe. Um letz­te­ren Aspekt zu ver­deut­li­chen, zitiert der Bericht „einen ein­fluß­rei­chen deut­schen Jesui­ten, der uns sag­te, daß der Kon­ser­va­ti­vis­mus Ratz­in­gers sich nicht als Haupt­cha­rak­te­ri­sti­kum des Pon­ti­fi­kats erwei­sen könn­te und die Hoff­nung aus­sprach, daß er zu den ursprüng­li­chen Reform­po­si­tio­nen zurück­keh­ren möge“. Wei­ters heißt es: „Im deut­schen Kle­rus herrscht Skep­sis dar­über, daß die Wahl Ratz­in­gers für die deut­sche Kir­che lang­fri­stig Vor­tei­le bringt.“ Dies bewei­se, „was uns ein Mit­ar­bei­ter der Bischofs­kon­fe­renz sag­te“, wonach „die Jun­gen, die heu­te kon­ser­va­ti­ver sei­en als ihre Eltern, einer­seits inter­es­siert an der Kri­tik des neu­en Pap­stes gegen die herr­schen­de sozia­le Ord­nung sei­en, ande­rer­seits“, „nur schwer eine Moral­vor­stel­lung tei­len kön­nen, die ihre indi­vi­du­el­le Frei­heit, die sie genie­ßen, ein­schränkt“. Der Bericht zieht den Schluß: „Es steht fest, daß die deut­sche katho­li­sche Kir­che, von der Ratz­in­ger seit mehr als 20 Jah­ren abwe­send ist, wäh­rend die­ses Pon­ti­fi­kats weder eine Bevor­zu­gung noch eine beson­de­re Rol­le spie­len wird“. Die Grün­de dafür sei­en „frü­he­re Kon­flik­te“ und die „Sor­ge, daß Rom ver­su­chen könn­te, einen stär­ke­ren Ein­fluß in Deutsch­land gel­tend zu machen“.
Zur Bestä­ti­gung „erin­nern eini­ge füh­ren­de Lai­en wie Ratz­in­ger nach 1990 ver­such­te, die Ein­glie­de­rung eines Prie­ster­se­mi­nars“ aus der DDR-Zeit „in die Uni­ver­si­tät Erfurt zu ver­hin­dern, über­zeugt, daß die finan­zi­el­len, poli­ti­schen und insti­tu­tio­nel­len Bin­dun­gen zwi­schen Kir­che und Staat in Deutsch­land die Unab­hän­gig­keit und mora­li­sche Auto­ri­tät der Kir­che schwäche.“

(La Stampa/​Giuseppe Nardi)

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